Helena Kliche (Hrsg.): Schulen der Heimerziehung zwischen Exklusion und Inklusion
Rezensiert von Vera Taube, 24.02.2023

Helena Kliche (Hrsg.): Schulen der Heimerziehung zwischen Exklusion und Inklusion.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
195 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6446-9.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Bildung und Erziehung im Abseits.
Thema
Das Buch „Schulen der Heimerziehung zwischen Exklusion und Inklusion“ sammelt theoretische Zugänge, empirische Forschung und Praxisbeispiele von Schulen der Heimerziehung. Damit schließt das Buch zum einen eine Lücke in der Fachliteratur über eine weit verbreitete und für die Jugendhilfe zentrale Beschulungspraxis. Zum anderen bringt es durch die umfangreiche Recherche und deren sorgfältig kuratierte Erkenntnisse weitere Forschungslücken ans Licht und wirft damit neue Fragen zum Thema Beschulung im Kontext von Hilfen zur Erziehung auf.
Herausgeber:innen und Entstehungshintergrund
Helena Kliche ist Juniorprofessorin für Sozialpädagogik an der Universität Trier. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere Hilfen zur Erziehung, soziale Ungleichheit, Bildung sowie schulbezogenes Lernen und Üben. Das vorliegende Buch wurde angeregt durch ihre Mitarbeit in verschiedenen Forschungsprojekten zum Thema Schulen in den Hilfen zur Erziehung.
Vicki Täubig ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Außerschulische Bildung und Sozialisation an der Universität Rostock. Sie leitete das Forschungsprojekt „SchulBildung in den Hilfen zur Erziehung“ (2016-2019), das die weitere Auseinandersetzung mit dem Themenfeld inspirierte.
Aufbau
Der Herausgeberband ist in drei Themenblöcke aufgeteilt, in denen Autor:innenbeiträge nach folgenden Schwerpunkten geordnet präsentiert werden:
Der erste Abschnitt befasst sich mit dem Aspekt „Rahmende Zugänge“. Hier werden erste Einordnungen des Phänomens „Schulen in der Heimerziehung“ anhand von Begriffsklärungen und historischen Erklärungen vorgenommen.
Der zweite Abschnitt „Empirische Annäherungen“ skizziert den Forschungsstand zu schulischer Bildung im Kontext von Heimerziehung. Hier werden verschiedene Forschungsprojekte und Fragestellungen vorgestellt, die den aktuellen Wissensstand zu Schulen der Heimerziehung aufspannen.
Der dritte und letzte Abschnitt umfasst „Praxisbeispiele“ von Schulen der Heimerziehung aus verschiedenen Bundesländern. Dieser Teil zeichnet die Vielfalt von Schulen der Heimerziehung nach und rundet den Band mit der Perspektive der Akteure im Feld auf die Umsetzung und Organisation von Heimschulen ab.
Inhalt
Teil 1: Rahmende Zugänge
Dieser Teil umfasst drei Kapitel zu den Themen Entgrenzung von Schule, Bildungsteilhabe und einem Systematisierungsvorschlag der Beschulung im stationären Jugendhilfesetting.
Im ersten Beitrag untersucht Pia Rother die Bedeutung der Schule im Leben von Kindern und Jugendlichen und geht dabei auf die zunehmende Vermischung von Schule und Freizeit ein. Durch den Ausbau von Ganztagsschulen ist die Schule zu einem bedeutenden Freizeitraum für Kinder und Jugendliche geworden. Die Autorin bezieht sich auf Studien aus verschiedenen Ländern, um die Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf die Schule zu untersuchen
Der zweite Beitrag von Melanie Fabel-Lamla und Marlene Kowalski konzentriert sich auf die Schulbildung in Deutschland und die Entwicklungen des Schulsystems im Zusammenhang der Zweigliedrigkeit von Regel- und Förderschulsystem seit den 1990er Jahren. Mit einer intersektionalen Perspektive werden schulische Inklusions- und Exklusionsmechanismen des Regelschulsystems und die Rolle der Heimschulen in diesem Zusammenhang untersucht.
Der dritte Beitrag im ersten Teil der Publikation stammt von Julian von Oppen, Katrin Kantak und Ann-Marie Gursch. Er befasst sich mit der Beschulung und schulischen Lernförderung in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Autoren stellen verschiedene Schulformen und Kooperationsformen zwischen öffentlicher Schule und Jugendhilfe vor und diskutieren die diesen Arrangements innewohnenden Mechanismen von Inklusion und Exklusion.
Teil 2: Empirische Annäherungen
Dieser Teil umfasst vier Kapitel über Forschungsprojekte zu Fragestellung über sonderpädagogische Schulformen in der Kinder- und Jugendhilfe, eine Ethnografie über Schulstationen, formale Bildungsprozesse in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe und die Sicht von Fach- und Lehrkräften auf Schulen der Heimerziehung.
Der erste Beitrag berichtet über eine empirische Studie zu Heimschulen von Sabrina Brinks und Gregor Hensen. Die Autoren untersuchen die Etablierung eines sonderpädagogischen Schwerpunkts für emotionale und soziale Entwicklung in den Heimschulen, die sie als Mischformen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Schule beschreiben. Basierend auf Expert:inneninterviews untersuchen sie die fachliche Positionierung der Beteiligten und erörtern die Herausforderungen, die sich aus den Bemühungen um Inklusion im Schulsystem für die Schulleitung an Schulen der Heimerziehung ergeben.
Der zweite Beitrag von Helena Kliche und Vicki Täubig umfasst Ergebnisse eines ethnografisch angelegten Forschungsprojekts über ein Schulprojekt einer Heimeinrichtung. Die Autorinnen leiten daraus Erkenntnisse über pädagogische und raumrelationale Praxen der Beschulung ab. Die Ergebnisse umfassen darüber hinaus Hinweise zum Umgang mit der typischen Fluktuation von Schüler:innen in Heimschulen sowie die Sichtweisen der Wohngruppenfachkräfte auf das Schulangebot.
Beitrag drei von Carolin Ehlke, Dorothee Kochskämper und Wolfgang Schröer untersucht in einer ebenfalls ethnografisch angelegten Studie die prägende Elemente des Schulalltags sowie die Schnittstellen und Überschneidungen der Lernorte Heimschule und Wohngruppe. Sie stellen eine starke Orientierung am schulischen Abschluss in beiden Bereichen fest und erklären, wie die beiden Bereiche diesen jeweils unterstützen.
Der vierte Beitrag von Helena Kliche und Laura Linde fokussiert die Sicht von Fach- und Lehrkräften auf Schulen der Heimerziehung. Anhand von Expert:inneninterviews wird zum einen das Erleben von und die Zusammenarbeit mit aus dem Regelsystem ausgeschlossenen Schüler:innen eruiert. Zum anderen werden die Herausforderungen im Zusammenhang mit deren Reintegration in die Regelschule und die damit eng verbundene Elternarbeit skizziert.
Teil 3: Praxisbeispiele
Dieser Teil umfasst sieben Kapitel, die Einblicke in die Praxis von Heimschulen und die Arbeit mit jungen Menschen, die als nicht beschulbar gelten, aus der Sicht von Schulleiter:innen, Lehrkräften und Fachkräften beschreiben. Jedes Kapitel wird dabei durch einen Steckbrief eingeleitet, der einen Überblick über die wichtigsten Charakteristika des Schulprojekts gibt.
Jedes Schulprojekt wird nachfolgend anhand der Aspekte Entwicklung der Schule, ihre Zielgruppen und Ziele, Personal, Umsetzung des Lehrkonzeptes, Kooperationspartner sowie einem Ausblick über zu erwartende Entwicklungen und Herausforderungen vorgestellt.
Diskussion
Der vorliegende Band bietet eine sorgfältige und durchdachte Einführung und Übersicht zum Thema Schulen der Heimerziehung. Mit den drei Themenschwerpunkten erleichtert die Orientierung und ermöglicht ein interessengeleitetes Einlesen in das Themenfeld. Jeder Themenschwerpunkt umfasst eine wichtige Perspektive auf das Thema und liefert Informationen auf hohem fachlichen Niveau. Der besondere Reiz des Buches liegt darin, alle drei Teile durchzuarbeiten, um einen umfassenden Einblick in das Phänomen der Heimschulen zu erhalten. Genauso kann es jedoch auch für gezielte Recherche aus jedem Bereich der Disziplin Sozialer Arbeit (Forschung, Lehre und Praxis) genutzt werden. Die in der Einleitung Vorstellung des Bandes als Präsentation der Ergebnisse eines Rechercheprojekts, das „viele Fragen unbeantwortet lässt“ (S. 9) mit dem Ziel „lose bleibende Enden unserer Themenstellung zu teilen und zu dokumentieren“ (S. 9) mutet bescheiden an, angesichts der Fülle und Tiefe der behandelten Themen. Für Leser:innen des Bandes klären sich viele Aspekte rund um Schulen der Heimerziehung, nicht zuletzt, weil hier Wissen und Erkenntnis aus verschiedenen Bereichen wie der Sozial- und Sonderpädagogik, der Sozialen Arbeit im Kontext von stationärer Jugendhilfe, formeller und informeller Bildung sowie aus den Bereichen Forschung und Praxis zusammengetragen und arrangiert wurde.
Nicht immer ganz einfach zu lesen, aber kohärent aufgebaut und fundiert präsentiert das Buch eine hilfreiche und umfassende Lektüre zu einem Handlungsfeld, das noch großen Bedarf an theoretischer und empirischer Fundierung hat. Die Publikation liefert jedoch einen guten Überblick und Ausgangspunkt, um sich weitergehend mit dem Thema zu befassen.
Fazit
Der Band bietet eine fundierte und umfassende Wissenssammlung zur Beschulung im Kontext stationärer Erziehungshilfe. Die Aufteilung in theoretische Rahmung, Überblick über empirische Forschung und Einblicke in die Praxis schafft ein übersichtliches und gut zugängliches Werk für jeden Wissensbedarf zu diesem Thema.
Rezension von
Vera Taube
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Zitiervorschlag
Vera Taube. Rezension vom 24.02.2023 zu:
Helena Kliche (Hrsg.): Schulen der Heimerziehung zwischen Exklusion und Inklusion. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-6446-9.
Reihe: Bildung und Erziehung im Abseits.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30320.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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