Roland Atzmüller, Fabienne Décieux et al. (Hrsg.): Ambivalenzen in der Transformation von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat
Rezensiert von Prof. Dr. Josef Schmid, 21.07.2023
Roland Atzmüller, Fabienne Décieux, Benjamin Ferschli (Hrsg.): Ambivalenzen in der Transformation von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat. Soziale Arbeit, Care, Rechtspopulismus und Migration.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
332 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7274-7.
D: 40,00 EUR,
A: 41,20 EUR.
Reihe: Arbeitsgesellschaft im Wandel.
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Entstehungshintergrund
Globalisierung, demographischer Wandel, neoliberale Politiken sind zentrale Ursachen eines Wandels der (europäischen) Wohlfahrtsstaaten, dessen Ausmaße und Bedeutung politisch wie wissenschaftlich unterschiedlich interpretiert werden. Die Einschätzungen variieren zwischen radikalem Abbau, Anpassung und Umbau bzw. „growth to limits“. Dabei konzentrieren sich viele (politikwissenschaftliche und soziologische) Arbeiten auf die staatlichen Politiken und die Sozialversicherungen sowie längerfristige Trends, Kontinuität und Determinanten (etwa Schmid 2020).
Der vorliegende Band setzt hingegen an den jüngeren Entwicklungen und Krisen (Corona und Banken) sowie deren Widersprüchen und Ambivalenzen an. Das verschiebt den analytischen Fokus ein Stück weit weg vom Staat hin zur Gesellschaft, von großen Systemen hin zu individuellen Betroffenheiten und dynamischen Selektionsmustern.
Aufbau und Inhalt
Der Band gliedert sich in 5 Hauptkapitel mit insgesamt 17 Beiträgen, die von (sozialpädagogischen) Autor*innen aus mehreren Ländern verfasst worden sind:
- Die Bedeutung der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik im veränderten Wohlfahrtsstaat
- Sorge in der Transformation von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat
- Rechte Sozialpolitik und die Transformation des Wohlfahrtsstaates
- Widersprüche der Sozialpolitik und die wohlfahrtsstaatliche Kontrolle und Regulierung von Migration
- Diskussion emanzipatorischer Perspektiven sozialpolitischer Entwicklungsoptionen
In der Einführung geht es um den Aufbau des Bandes und die Zielsetzung der Herausgeber.
„Die sozialpolitischen und wohlfahrtsstaatlichen Aktivtäten und Institutionen spielen eine zentrale Rolle in der Bearbeitung gesellschaftlicher Krisen und Veränderungsprozessen“ Und: „Dabei handelt es sich um in hohem Maß konflikthafte Prozesse und Dynamiken, da sozialpolitische und wohlfahrtsstaatliche Strategien selbst grundlegend von Widersprüchen und Ambivalenzen durchzogen sind“ (S. 9).
In Anlehnung an kritische Gesellschafts- und Kapitalismustheorien dienen Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat zum einen der Aufrechterhaltung und Stabilisierung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie der Aufrechterhaltung der Warenförmigkeit der Arbeitskraft und der entsprechenden Vergesellschaftung der Subjekte. Jenseits dieser Funktionalität weisen sozialpolitische Aktivitäten jedoch zum anderen dekommodifizierende Elemente und Potenziale für Autonomiegewinne auf, so etwa im Bereich der Geschlechterverhältnisse. Zugleich sind diese widersprüchlich: vermehrte Frauenarbeit schafft z.B. neue Chancen, jedoch bleiben alte Aufgabenverteilungen, die v.a. in Krisen zu Spannungen und Belastungen führen, weitgehend erhalten.
Die wohlfahrtstaatlichen Strategien, die seit der Jahrtausendwende verfolgt werden, betonen stark Momente der Aktivierung und der Sozialinvestitionen. Damit steigt die Bedeutung von sozialen Dienstleistungen erheblich an, sodass auch vom „Wohlfahrts-Dienstleistungs-Staat“ (S. 36) die Rede ist.
Aber die Medaille hat eine Kehrseite: „Ohne Zweifel korrespondiert die wachsende sozialpolitische Bedeutung personalisierter sozialer Dienstleistungen mit umfangreichen Governance-Reformen“ (S. 48), was in der Regel professionelle Ermessenspielräume und Offenheit der Interaktionsprozesse reduziert.
Mit der Umsetzung aktivierender wohlfahrtstaatlicher Strategien verbinden sich insbesondere vier Elemente (vgl. S. 54 ff.):
- Die Pädagogisierung der sozialen Sicherungslogik, mit der der Wohlfahrtsstaat verstärkt zur „Erziehungsagentur“ (S. 59) transformiert.
- Eine „Responsibilisierung“, i.S. einer gezielten Mobilisierung von Aktivierung von Eigenverantwortung.
- Eine steigende Prekarisierung des Alltags in Lohnarbeit und im privaten Haushalt.
- Die Etablierung eines „Schattens der sozialen Sicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgesysteme“, d.h. eine nur schwache Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt und der Verweis auf eine neue „Mitleidsökonomie“ (S. 65).
Auf Seiten der Beschäftigten in den sozialen Diensten, den „Arbeitssubjekten“, müssen zudem die passenden emotionalen Ressourcen organisiert und formiert werden, sodass „hier Emotionsregimes wirksam werden, die mit institutionellen Makrostrukturen verwoben sind und durch die der Gefühlshaushalt von Beschäftigen governemental regiert wird“ (S. 76).
Eine der zentralen sozialen Problemzonen ist die ungewürdigte feminine Care-Arbeit.
„Die Entwicklung der europäischen Wohlfahrtsstaaten und die Ausgestaltung asymmetrischer Geschlechterverhältnisse sind eng miteinander verwoben. In den Finanz- und Wirtschaftskrisen und zugespitzt in der aktuellen Pandemie-Situation zeigt sich, dass sich sowohl die asymmetrischen Geschlechterarrangements als auch die europäischen Wohlfahrtsstaatsregime in den letzten Jahrzehnten in einem tiefgreifenden Wandel befinden“ (S. 109).
Zugespitzt wird der großzügige keynesianische Wohlfahrtsstaat vom „Schumpeter Workfare State“ verdrängt (S. 111). Damit ist die Sorgearbeit v.a. Altenpflege und Kinderbetreuung materiell unterausgestattet und fällt v.a. bei den Frauen – als Pflegekräfte oder als Mütter – an und sorgt für Überlastung – und ist am Ende trotz aller artikulierten Wertschätzungen eher eine sozialpolitische Regression. Dahinter liegt ein strukturelles Phänomen: Die Dynamik des Kapitalismus hat zur Folge, dass „neben der grundsätzlichen Vernachlässigung reproduktiver Belange ein Großteil lebensdienlicher Sorgeleistungen … entweder nicht in ausreichendem Maße oder nur bedingt und zumeist unter prekären Bedingungen erbracht wird, wodurch in bestimmten Bereichen Sorgelücken … entstehen“ (S. 127).
Zu den neueren Entwicklungen des Wohlfahrtsstaates gehört ferner eine rechtspopulistische Sozialpolitik und ein Erstarken des Rechtsextremismus/​-populismus. Hier soll der Wohlfahrtsstaat vor allem zugunsten der „hart arbeitenden“ einheimischen Bevölkerung funktionieren. Und:
„Der Rechtspopulismus adressiert nicht die bereits von Arbeitslosigkeit oder Armut betroffenen Abgehängten der Gesellschaft, sondern vielmehr von Statusangst geplagte Erwerbstätige im Normalarbeitsverhältnis mit niedrigem formalen Bildungsabschluss“ (S. 145).
Vielfach wendet er sich auch gegen das „Establishment“, zu dem jedoch auch Parteien, Verbände und Gewerkschaften zählen. Ideologische Verbindungslinien zum Neoliberalismus sind damit erkennbar; materiell sichtbar werden sie in der propagierten Wirtschaftspolitik. Inzwischen spielt der „Wohlfahrtchauvinismus“ (S. 152), der sich massiv gegen Migranten richtet und traditionelle Wertvorstellungen und soziale Normen (vor allem konservative Geschlechtervorstellungen) beinhaltet, eine größere Bedeutung.
Das Beispiel Österreich veranschaulicht exemplarisch, wie rechtspopulistische Regierungspolitiker eine „Einwanderung in das Sozialsystem“ (S. 164) bekämpfen wollen und etwa durch eine Reform der bedarfsorientierten Mindestsicherung dies auch ansatzweise umsetzen. Nationalisierung (und in manchen Staaten Rechristianisierung) von Sozialpolitik, eine Forcierung traditioneller Familienstrukturen und geschlechtliche Arbeitsteilung sowie Workfare-Elemente in der Arbeitsmarkt- und Armutspolitik verknüpfen sich zu einem „Dispositiv“ extrem rechter Sozialpolitik (S. 170 ff.).
Neben Migrant*innen trifft dieser Backlash Frauen und Geschlechterverhältnisse, indem soziale, politische und kulturelle Teilhaberechte („Citizenship“) beschnitten werden. Dahinter lässt sich eine „Krise der Männlichkeit“ und „maskulinistische Identitätspolitik“ (S. 184) identifizieren. Neben Österreich und Deutschland (s. dazu Pühringer u.a. 2021) sind Ungarn, Polen Italien, Schweiz und Dänemark Beispiele für solche Strategien und werden in den Beiträgen behandelt.
In diesem Kontext spielt der Fall Schweden, lange ein Modell und Vorreiter eines großzügig und breit aufgestellten Wohlfahrtsstaates, eine bemerkenswerte Rolle.
„Several cardinal principles of the Swedish model have been seriously changed… Parts of the welfare state such as education and care were privatized and turned into quasi-markets… Social insurances in terms of pensions and health care have become substantially more restricted” (S. 252) Und: “The 2008 labour migration reform marks a new direction in Swedish migration policy: less openness and more vulnerability and employment responsibility” (S. 257)
Nicht nur in Schweden, sondern in nahezu allen Ländern und Bereichen werden Sozialpolitik und Wohlfahrtstaat selektiver und partikularistischer mit der Folge, dass sich integrative und exkludierende Momente vermischen – und die mehrfach betonte Ambiguität und Ambivalenz erzeugen.
Eine Diskussion emanzipatorischer Perspektiven sozialpolitischer Entwicklungsoptionen, zu der auch eine Ersetzung des Grundeinkommens durch die „Bereitstellung von bedingungslosen Grunddienstleistungen“ (S. 298) gehören, runden den Band ab.
Diskussion
Der Band vermittelt einen guten Überblick über wichtige aktuelle gesellschaftliche Probleme und sozialpolitische Diskussion in bzw. nach der Mehrfachkrise. Mit der Konzentration auf widersprüchliche Veränderungen, Gender- und Migrationsregime sowie Ansätze rechtsextremer Sozialpolitik werden vernachlässigte Themen bearbeitet und die prekären Verhältnisse kritisiert. Insofern vermischen sich in vielen Beiträgen die Darstellung sachlicher Grundlagen, die Analyse komplexer und ambivalenter Strukturen und Wirkungen des Wohlfahrtstaates mit normativ-konzeptionellen Überlegungen. Die politische Beurteilung der aktuellen Situation ist sehr kritisch; das kann den Besonderheiten der untersuchten Handlungsfeldern, den Folge von Mehrfachkrisen – aber in diesem Band v.a. dem Kapitalismus bzw. dem Neoliberalismus geschuldet sein.
Fazit
Insgesamt gesehen handelt es sich um einen informativen, v.a. sehr aktuellen, aber nicht immer Jargon-frei geschriebenen Band. Er schließt thematisch wichtige Lücken wie Migration und rechtsextreme Sozialpolitik. Last but not least belegt er interessante Verbindungen zwischen den (z.T. praxisbezogenen) Ansätzen der Sozialpädagogik und der (international orientierten) Wohlfahrtsstaatsforschung.
Literatur
Schmid, Josef, 2020. Sozialstaat [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 10.02.2020 [Zugriff am: 10.07.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1000
Pühringer, Stephan u.a. 2021. Soziale Rhetorik, neoliberale Praxis. Eine Analyse der Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD. OBS-Arbeitspapier 52. [Zugriff am: 10.07.2023]. Verfügbar unter: https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/​informationsseiten-zu-studien/​wirtschafts-und-sozialpolitik-der-afd/
Rezension von
Prof. Dr. Josef Schmid
Professor a.D. für Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse an der Universität Tübingen, lehrt und forscht über Wohlfahrtsstaaten, Arbeitsmarktpolitik und Bürgerschaftliches Engagement in den Bundesländern. Er war 2010-2022 hauptamtlicher Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät.
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Zitiervorschlag
Josef Schmid. Rezension vom 21.07.2023 zu:
Roland Atzmüller, Fabienne Décieux, Benjamin Ferschli (Hrsg.): Ambivalenzen in der Transformation von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat. Soziale Arbeit, Care, Rechtspopulismus und Migration. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7274-7.
Reihe: Arbeitsgesellschaft im Wandel.
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In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30321.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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