Rüdiger Standhardt, Sabine M. Kistner u.a.: Die Kunst, den Tod ins Leben einzuladen
Rezensiert von Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, 18.09.2023

Rüdiger Standhardt, Sabine M. Kistner, Stephanie Gotthardt, Sabine Mehne: Die Kunst, den Tod ins Leben einzuladen. Denkanstöße für einen achtsamen Umgang mit Sterben, Tod und Abschied. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 288 Seiten. ISBN 978-3-608-98707-2. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Wie David Roth im Vorwort diese Buches schreibt, ist es das Anliegen des Autors und seiner Gastautorinnen, mit den Leser:innen Erfahrungen und Ideen zu teilen, „die helfen werden, Trauer und Tod anzunehmen. Es geht nicht darum, etwas zu überwinden, zu verdrängen oder zu bewältigen. Es geht darum, den Tod als Teil des Lebens zu begreifen und über die Annahme der Tatsache, dass jeder von uns sterben muss, ein Gefühl für die eigene Endlichkeit zu bekommen. Der Tod begrenzt das Leben. Durch den Tod wird unsere Lebenszeit zu etwas Kostbarem. Den Tod zurück ins Alltagsleben zu holen, dazu will dieses Buch ermuntern“ (S. 11 f.).
Autor:innen
Rüdiger Standhardt (geb. 1962) ist Dipl.-Pädagoge, hat in einem Finanzamt seine Ausbildung gemacht und dort gearbeitet, hat dann evangelische Theologie studiert und ist seit 1980 selbstständig in der Erwachsenenbildung tätig. Seit 2017 ist er Institutsleiter des „Forum Achtsamkeit – Institut für Ausbildung, Training und Coaching“ und Autor verschiedener Buchveröffentlichungen bei Klett-Cotta. Er lebt in Königswinter und ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter.
Die Mitautorin Sabine Mehne (geb. 1957) war vor ihrer Krebserkrankung 1995 als Physiotherapeutin und Systemische Familientherapeutin in eigener Praxis tätig. Sie war 25 Jahre lang als Botschafterin für Nahtoderfahrungen aktiv und schrieb verschiedene Bücher. 2019 begann sie, sich intensiv für ein selbstbestimmtes Sterben einzusetzen. Sabine Mehne starb am 30. November 2022.
Die Mitautorin Sabine M. Kistner (geb. 1958) ist Sozial- und Religionspädagogin und hat bei der evangelischen Blindenarbeit in Frankfurt gearbeitet. Nach der Familienphase hat sie in die Klinikseelsorge in Wiesbaden gewechselt, erlangte das TZI-Diplom und ist seit 2000 selbstständig als Bestatterin in Frankfurt(M. tätig.
Die Mitautorin Stephanie Gotthardt (geb. 1979) begleitet seit 22 Jahren Trauernde nach dem Verlust eines Menschen durch Tod, Trennung und Wohnortwechsel und unterstützt Unternehmen im Rahmen von Visionsentwicklung, Transformation und Veränderungsprozessen. Seit 2019 bietet sie diverse Weiterbildungen in diesen Schwerpunkten an.
Entstehungshintergrund
In der Zeit des Jahreswechsels 2020/2021 spürte der Autor, dass er sich intensiver mit den Themen Sterben und Tod auseinandersetzen wollte. Neben intensiver Beschäftigung mit entsprechender Literatur, einem vierwöchigen Praktikum bei einem Bestatter schaute er verschiedene Krematorien an, töpferte seine eigene Urne, sprach mit Bestatter:innen, Trauerredner:innen und Trauerbegleiter:innen, besuchte Seminare, Ausstellungen und Messen, schaute Stadt- und Waldfriedhöfe an und nahm an einer Weiterbildung zum Hospizbegleiter teil. Dabei prägten ihn vor allem zwei Erfahrungen: zum einen die Situation in einem Praktikum, als er beim Waschen und Ankleiden der Leichen mitwirkte, und zum anderen die Sterbebegleitung eines 65-jährigen Mannes, der ALS hatte, sich fast nicht mehr bewegen konnte und starb.
Aufbau und Inhalt
Abgesehen von dem von David Roth verfassten Vorwort umfasst das Buch eine Einleitung, vier Hauptkapitel (Leben, Sterben, Tod und Trauer) sowie ein Schlusswort, in dem es um die Transzendenz geht. Im Anhang finden sich Anmerkungen, weiterführende Literatur, Hinweise zu Achtsamkeitsübungen, Internetadressen, Angaben zu den Autor:innen und Hinweise zu einem Online-Achtsamkeitstraining.
Jedes Kapitel enthält sechs „Denkanstöße“ und eine „Einladung zur Praxis der Achtsamkeit“.
In Kapitel 1 geht es um das Leben mit den sechs Denkanstößen: Liebe Dich selbst, Liebe in der Partnerschaft,die Arbeit lieben, den blauen Planeten lieben, Vorsorge – ein Akt der Liebe, glücklich sein im Leben. Das Kapitel 2 thematisiert das Sterben mit den sechs Denkanstößen: von Wünschen und Löffeln, den Abschied zu Lebenszeiten planen, Hospizarbeit und Palliativversorgung, Sterbefasten und Sterbehilfe, Kommunikation am Lebensende. Mit dem Tod setzt sich der Autor in Kapitel 3 auseinander. Die Denkanstöße sind dabei: die Urne selbst gestalten, Gestaltungsspielräume im Todesfall, was nach dem Tod kommt, an der Schwelle des Todes, Interview mit dem Tod, aktives Abschiednehmen zwischen Tod und Bestattung. Trauer ist das Thema des Kapitels 4 mit den Denkanstößen: die Unfähigkeit zu trauern, Trauerphasen, Trauergruppen, Trauer am Arbeitsplatz, die Trauer als achtsamer Lebensbegleiter, das Leben neu entdecken. Das Schlusswort ist dem Thema Transzendenz gewidmet.
In den einzelnen Kapiteln finden sich jeweils Fragen für das „Tagebuch der Selbsterforschung“. Beispiele: „* An was erinnerst Du Dich spontan, wenn Du an das Sterben und den Tod denkst? * Welche Erfahrungen haben Dich besonders berührt? * Bei welchen Menschen warst Du beim Sterbeprozess dabei?“ (S. 23). Oder: „* Warum beschäftigst Du Dich nicht mit der Frage, wie Du sterben willst und wie Du nicht sterben willst? *Welche Einstellung hast Du: Willst Du am Lebensende alle medizinischen Möglichkeiten erhalten oder ist für Dich vielleicht weniger mehr? Was musst Du tun, damit aus Deinem Wunsch, zu Hause sterben zu können, Wirklichkeit werden kann?“ (S. 118 f.) Oder: „Wie ist es um die Fähigkeit zu trauern bei Dir und Deiner Familie bestellt? * Wie offen und persönlich wurde in Deiner Familie über die Schrecken des Zweiten Weltkrieges gesprochen? *Was hast Du von Deinen Eltern ‚geerbt’ und wie gehst Du damit um?“ (S. 200).
Diskussion
Das von Rüdiger Standhardt und den drei Mitautorinnen verfasst Buch leitet zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit den Themen Leben, Sterben, Tod und Trauer an. Die in diesem Zusammenhang wichtigen Themen werden in differenzierter, einfühlsamer Weise dargestellt und diskutiert. Die in den „Tagebüchern der Selbsterforschung“ gestellten Fragen konfrontieren die Leser:innen mit den Fragen, mit denen wir alle im Kontext von Tod und Sterben konfrontiert sind. Hilfreich sind auch die an das Ende jedes Kapitels gestellten „Einladungen zur Praxis der Achtsamkeit“.
Fazit
Das Buch stellt eine differenzierte Anleitung dar, sich den Themen Leben, Sterben, Tod und Trauer zu öffnen, und gibt vielfältige Denkanstöße zur Selbstreflexion und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit.
Rezension von
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DPG, DGPT). Ehem. Leitender Psychologe Psychiatrische Universitätspoliklinik Basel. In privater psychotherapeutischer Praxis.
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Es gibt 15 Rezensionen von Udo Rauchfleisch.
Zitiervorschlag
Udo Rauchfleisch. Rezension vom 18.09.2023 zu:
Rüdiger Standhardt, Sabine M. Kistner, Stephanie Gotthardt, Sabine Mehne: Die Kunst, den Tod ins Leben einzuladen. Denkanstöße für einen achtsamen Umgang mit Sterben, Tod und Abschied. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-608-98707-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30324.php, Datum des Zugriffs 05.10.2023.
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