Juliane Noack Napoles, Michael Noack (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Einsamkeit
Rezensiert von Jonas Schmeißner-Darkow, 26.06.2023
Juliane Noack Napoles, Michael Noack (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Einsamkeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 276 Seiten. ISBN 978-3-7799-6517-6. D: 58,00 EUR, A: 59,70 EUR.
Thema
Einsamkeit und Einsamkeitsbewältigung sind zentrale Themen der Sozialen Arbeit. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik in dieser Profession ist notwendig und in einer pointierten Form lange vernachlässigt worden. Der aktuelle Diskurs, der in Politik, Wissenschaft und Praxis aufgeflammt ist, braucht einschlägige Fachliteratur. Die bewusste und unbewusste Tabuisierung des Themas Einsamkeit muss überwunden werden, um die Betroffenen unterstützen und einen Rahmen der Kommunikation schaffen zu können. Die Soziale Arbeit ist eine wirkmächtige Profession für dieses Thema und kann in Praxis, Lehre und Forschung relevante Beiträge dazu leisten. Mit den Worten der Herausgeber*Innen des hier rezensierten Buches ist es daher wichtig, den Austausch zu intensivieren und die Rolle der Sozialen Arbeit bei der Einsamkeitsbewältigung einzuordnen.
Autor*Innen und Herausgeber*Innen
Nachdem Michael Noack bereits ein Buch zu dem Thema „Soziale Arbeit und Einsamkeitsregulation“ veröffentlicht hatte, hat er gemeinsam mit Juliane Noack Napoles mit diesem Handbuch einen wichtigen Beitrag für das Thema Einsamkeit und Soziale Arbeit geleistet. Die beiden Herausgeber*Innen vereinen in diesem Buch 27 Autor*Innen aus unterschiedlichen Professionen und Arbeitsfeldern. Noack und Napoles sind beide als Professor*Innen der Erziehungswissenschaft und der Sozialen Arbeit tätig.
Entstehungshintergrund
Laut der Herausgeber*Innen soll dieses Handbuch einen Beitrag des aktuellen Diskurses zum Thema Einsamkeit leisten, unterschiedliche theoretische Zugänge aufzeigen, den Forschungsstand skizzieren und Rückschlüsse für die sozialarbeiterische Praxis ziehen.
Aufbau
Dieses Buch unterteilt sich in vier Perspektiven von Einsamkeit, die ineinander übergehend das Thema von der Theorie in die Praxis transportieren. Es beginnt mit einer theoretischen und forschenden Bezugsdisziplinären Perspektive, gefolgt von einer spezifischen sozialarbeitswissenschaftlichen Perspektive, anschließend wird der Begriff aus unterschiedlichen handlungsfeldbezogenen Perspektiven betrachtet, um abschließend mit unterschiedlichen Praxisperspektiven das Thema für das Feld der Sozialarbeit darzustellen. Dieser Aufbau ermöglicht eine schrittweise Auseinandersetzung mit der Thematik Einsamkeit, die für die Praxis der Sozialarbeit hilfreich sein kann. Durch die unterschiedliche Beleuchtung der Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, kann dieses Buch auch für die Lehrtätigkeit genutzt werden.
Inhalt
Dieses Buch beschreibt vier Perspektiven von Einsamkeit und bedient sich dabei vieler Autor*Innen, die das Thema aus unterschiedlicher Expertise beleuchten. Die so entstandene Vielfalt an Blickwinkeln, Professionen und Praxisfeldern spiegelt die Realität der Sozialen Arbeit, die sich durch ihre inhaltliche Diversität definiert. Daher fällt es schwer, den Inhalt der über 20 Autor*Innen einheitlich dazustellen. Auch, weil die Autor*Innen unterschiedliche Definitionen von Einsamkeit in Ihren Texten nutzen. Daher wurden zwei Kapitel ausgewählt, um den Inhalt exemplarisch darzustellen.
1. Lebensweltorientierte Perspektive. Einsamkeit und Lebensweltorientierung. Essayistische Notizen. (S. 114 – 126)
Der Autor Hans Thiersch hat durch dieses Essay einen praxisnahen und augenöffnenden Blick auf das Thema Einsamkeit ermöglicht. Er greift dafür den existenziellen Erklärungsansatz von Einsamkeit auf und beschreibt diesen mit einer für die Praxis hilfreichen Perspektive: Einsamkeit im Horizont von Kommunikation. Durch diese Perspektive bekommt der existenzielle Erklärungsansatz von Einsamkeit, der üblicherweise als grundlegende Erfahrung der Trennung zwischen Selbst und Welt und Erfahrung der Hoffnungslosigkeit sowie Bedeutungslosigkeit beschrieben wird, einen für die Praxis hilfreichen Handlungsansatz. Einsamkeit wird dabei beschrieben als Erfahrung des nicht-kommunizieren dürfen, können oder wollen. Sie entsteht demnach immer dann, wenn in für den Menschen elementar wesentlichen Bereichen nicht kommuniziert wird. Thiersch untermauert das mit einer Vielzahl von Beispielen aus der Praxis Sozialer Arbeit unterschiedlichster Handlungsfelder. Er zeichnet mit Beispielen aus den Lebenswelten Gefangenschaft, Pubertät, arbeitende Mütter, Scham, Schuld, Trauma und Anderen ein Bild des auf sich selbst geworfen seins. Mit diesen Beispielen ermöglicht er zugleich unterschiedliche Ansatzpunkte, mit der der Herausforderung der nicht-kommunikation umgegangen werden kann. Thiersch ermutigt in seinem Essay dazu, das Thema nicht zu tabuisieren und eine Kultur der Achtsamkeit und Sensibilität zu schaffen. Er schließt mit dem eindrucksvollen Gedankengang, dass sich die existenzielle Form von Einsamkeit nur aushalten lässt, wenn sich der Mensch dieser gelassen bewusst werden kann und sich in dieser Situation nicht alleine lässt.
2. Migrationsarbeit. Zur Einsamkeit älterer Migrant*Innen. (S. 138 - 147)
Die Autorin Monika Alisch greift in Ihrem Text zwei zusammenhängende Handlungsfelder der Sozialen Arbeit auf: die Situation von Senior*Innen und Migrationshintergrund. Sie unterscheidet dafür die Lebenswelten von älteren Migrant*Innen in eine familiale und eine sozialräumliche Gemeinschaft. Im Lebensübergang in das Renteneintrittsalter, wird hierbei neben allgemeinen Generationskonflikten eine zusätzliche Herausforderung beschrieben, der Kulturkonflikt. Ältere Migrant*Innen sehen sich häufig diesen beiden Konflikten ausgesetzt und fühlen sich durch diese doppelten Risikofaktoren vermehrt einsam. Ideen von gegenseitiger Solidarität und Unterstützung im Alter, die häufig kulturgeprägt sind, passen nicht mehr zu jeder Lebenswelt der in 2. oder 3. Generation in Deutschland lebenden Kinder und Enkel. Neben dieser potentiellen Enttäuschungsgefahr, wird befriedigende soziale Teilhabe durch kulturelle Identitätskrisen, Diskriminierung und Sprachbarrieren erschwert. Alisch verweist aufgrund dieser drohenden Problematik auf eine ressourcenorientierte Sozialarbeit, um durch Vernetzung Zugänge im Sozialraum zu schaffen. Auch hebt Sie die Relevanz von Antidiskriminierungsarbeit im Zusammenhang mit Einsamkeitsprävention hervor. Durch diesen Textbeitrag wurde Migration und Alter, zwei prägnante Risikofaktoren für Einsamkeit, in einen nachvollziehbaren Zusammenhang gebracht. Dabei wurde nochmals die Notwendigkeit und Wirksamkeit von Sozialer Arbeit bei einer notwendigen Strategie der Einsamkeitsbewältigung aufgezeigt.
Diskussion
Dieses Handbuch leistet einen wichtigen Beitrag, um Einsamkeit und Einsamkeitsbewältigung in den Fokus Sozialer Arbeit zu nehmen. Die vielfältigen Perspektiven der unterschiedlichen Professionen und Praxisfeldern eröffnet einen breiten Blick und der Aufbau ermöglicht eine schrittweise Auseinandersetzung mit der Thematik Einsamkeit. Leider fehlt auch in diesem Buch eine vorrausgehende Übersicht der unterschiedlichen Erklärungsansätze von Einsamkeit. Da die Autor*Innen in Ihren Texten unterschiedliche Erklärungsansätze verwenden, ohne diese jedes Mal explizit einzuordnen, kann es für die Leser*Innen hilfreich sein, ein grundlegendes Verständnis dieser Konzepte mitzubringen. Um diesen Diskussionsbeitrag einmal bildlich darzustellen: Einsamkeit ist wie ein Elefant, der von verschiedenen blinden Weisen beschrieben wird. Jeder Berührt eine andere Stelle des Elefanten (Ohren, Bein, Bauch, Schwanz, usw.) und beschreibt diese. Jeder der blinden Weisen beschreibt etwas Anderes und jeder hat recht, denn ein Elefant besteht aus verschiedenen Teilen. Und so ist es auch mit der Einsamkeit, Sie wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben und erst das Gesamtbild macht Sie erkennbar, verstehbar und handhabbar.
Um die unterschiedlichen Perspektiven der Autor*Innen dieses Buches einordnen zu können, kann es wichtig sein zu verstehen, welche Blickwinkel es gibt und von welchem aus sie Einsamkeit beschreiben. Einen weiteren Kritikpunkt sehe ich in den anfänglich verwendeten Begriffen „gewollte Einsamkeit“ und „freiwillige Einsamkeit“, da hier meines Erachtens nach die Begriffe Einsamkeit und Allein-Sein synonym verwendet wurden. Hierbei wäre eine ausführlichere Auseinandersetzung wünschenswert gewesen, da Allein-Sein positiv und gesucht/gewünscht sein kann, Einsamkeit hingegen eine zwar sinnvolle Signal-und Motivationswirkung (evolutionärer Erklärungsansatz) innehat, aber weder gewollt noch freiwillig ist.
Fazit
Das Handbuch Soziale Arbeit und Einsamkeit ist eine lesenswerte Zusammenstellung aus bezugsdisziplinären und sozialarbeitswissenschaftlichen Perspektiven, die um Aspekte aus unterschiedlichen Handlungsfeldern und Praxisbereichen ergänzt wurden. Neben Erklärungen für ein vielschichtiges Phänomen, bietet das Buch auch praktisch anwendbare Bewältigungsstrategien für den personenbezogenen und strukturbezogenen Arbeitsalltag. Durch Themenwahl, Aufbau und diverse Feldbetrachtung ist dieses Buch dadurch für die Praxis und die Lehre in der Sozialen Arbeit anwendbar.
Rezension von
Jonas Schmeißner-Darkow
M.A. angewandte Sozialwissenschaften, B.A. Soziale Arbeit, Diakon,
Projektleiter „Teilhabe fördern – Einsamkeit begegnen“,
Sozialarbeiter/Sozialwissenschaftler
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Es gibt 3 Rezensionen von Jonas Schmeißner-Darkow.
Zitiervorschlag
Jonas Schmeißner-Darkow. Rezension vom 26.06.2023 zu:
Juliane Noack Napoles, Michael Noack (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Einsamkeit. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-6517-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30325.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
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