Ulrike Petermann, Franz Petermann: Training mit aggressiven Kindern
Rezensiert von Joschka Sichelschmidt, 18.07.2023

Ulrike Petermann, Franz Petermann: Training mit aggressiven Kindern. Mit E-Book inside und Arbeitsmaterial.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2023.
14. Auflage.
313 Seiten.
ISBN 978-3-621-28532-2.
D: 46,95 EUR,
A: 48,20 EUR.
Reihe: Materialien für die klinische Praxis. .
Thema
Bereits in der 14. Auflage liegt das o.a. verhaltenstherapeutisch orientierte Werk vor. Begonnen hat die Entwicklung des Trainingsprogramms im Jahr 1978 und wurde in den 44 Entstehungsgeschichte stetig weiterentwickelt und nach wissenschaftlichem Kenntnisstand aktualisiert und erweitert, sodass zum aktuellen Zeitpunkt „eine erprobte Methoden- und Materialsammlung“ (10) vorliegt, welche in der Praxis eingesetzt werden kann.
Aufbau
Das Trainingshandbuch für die psychotherapeutische Praxis ist in zwei Hauptkapitel unterteilt. Das erste Hauptkapitel (S. 15–69) beschäftigt sich mit der Theorie zum Störungsbild Aggressionen und differenziert hinsichtlich der Ausdrucksformen und des Verlaufs (Teil 1) (S. 15–32), der multifaktoriellen Diagnostik (Teil 2) (S. 33–56) und den Erklärungsansätzen zur Entstehung von Aggression (biologische, psychische und soziale Faktoren) (Teil 3) (S. 57–68).
Im zweiten Hauptkapitel (S. 70–282) wird in sechs Unterkapiteln das Trainingsprogramm differenziert beschrieben. Hierbei wird im ersten Schritt die Konzeption (Teil 4) des Trainings (S. 70–106) in acht Unterpunkten vorgestellt, wobei auf die Aspekte Therapieziele, lerntheoretischen Grundlagen des therapeutischen Handelns und der Rolle der TherapeutIn eingegangen wird.
Differenziert wird in der Vorstellung des Trainingsprogramms dann zwischen Einzel- (Teil 5) (S. 107–177) und Gruppentraining (Teil 6) (S. 178–219). Bei beiden Trainingsprogrammen wird in den ersten Schritten Auftragsklärung mit den KlientInnen (Beziehungsgestaltung, Motivationen, Ziele und Aufbau des Trainingsprogramms) gemacht, damit diese eine Möglichkeit bekommen, sich auf das Programm einlassen zu können. Nachfolgend werden dann jeweils für das Einzel- und das Gruppentraining die einzelnen Trainingsmodule differenziert dargestellt. Abschließend wird Bezug auf kritische Situationen innerhalb der Therapiesitzungen, sowie deren möglichen Lösungsvorschlägen genommen.
Den siebten Unterpunkt bildet dann die Adaption des Trainingprogramms auf das Arbeitsfeld Eltern- und Familienberatung (S. 220–264). Auch hier wird, wie in den Vorkapiteln, im ersten Schritt die generelle Auftragsklärung zwischen den beteiligten Personen durchgeführt und zum Abschluss auf Störungsvariablen, Lösungsvorschläge und Nachkontrolle eingegangen.
Teil 8 (Effektkontrolle) (S. 265–271) stellt die Wirksamkeit des Trainingsprogramms mittels Einzelfall- und Gruppenstudien (Prä-, Post- und Followuptestungen, Kombinationsuntersuchungen mit normierten Skalen, z.B. Child Behaviour Check List (CBCL)) vor.
Abschließend wird der Ansatz des Trainings mit aggressiven Kindern auf andere mögliche Einsatzgebiete beschrieben (Teil 9) (S. 272–282). Hierbei wird ein Einsatz im schulischen Setting, im stationären Bereich, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der präventiven Elternberatung oder in Kombination mit anderen Trainingsansätzen von Ulrike Petermann und Franz Petermann beschrieben.
Ab S. 283 findet sich der Anhang mit Glossar von im Buch verwendeten Begriffen, das Literaturverzeichnis, eine Übersicht und Beschreibung der Arbeitsmaterialien und das Sachwortverzeichnis.
Inhalt
Kapitel I – Störungsbild (Ausdrucksformen und Verlauf, Diagnostik, Erklärungsansätze)
Das Erscheinungsbild von aggressiven Verhaltensweisen (Teil 1) stellt sich in der Literatur differenziert dar und wird von Ulrike Petermann und Franz Petermann differenziert beschrieben. Aggressives Verhalten von Kindern kann als „eine Krise ihres sozialen Umfeldes“ (15) gedeutet werden; gleichzeitig gibt es Kindern die Möglichkeit, „familiäres und schulisches Geschehen ebenso wie die Dynamik von Gleichaltrigengruppen in unterschiedlichen Kontexten (z.B. Freizeit, Sportverein) lenken“ (15) zu können.
Generell kann zwischen verschiedenen Ausdrucksformen aggressiven Verhaltensweisen unterschieden werden. Differenziert werden kann der Ausdruck aggressiven Verhaltens nach Altersstaffelung (Säuglingsalter, Kleinkindalter, Vor- und Grundschuljahre und das Jugendalter und junge Erwachsenenalter) und nach Geschlecht. Jungen wählen „eher offen-direkte sowie körperliche Formen und Mädchen eher hinterhältig-verdeckte und verbale“ (18) Formen des aggressiven Ausdrucks.
Es zeigt sich, dass sich für eine therapeutische Bearbeitung ein späterer Beginn der aggressiven Verhaltensauffälligkeit günstiger zeigt – generell zeigt sich aber ein eher „uneinheitliches Bild bei der Auftretenshäufigkeit“ (28). Als Determinanten für das Auftreten aggressiven Verhaltens können eine Störung in der Familieninteraktion, die Reaktionen der sozialen Umwelt auf das Problemverhalten des Kindes und die Reaktionen des Kindes auf die familiären und sozialen Situationen (30 ff.) gelten.
Um in diagnostischer Hinsicht (Teil 2) valide zu arbeiten und auch um das Training nach Bedarf planen zu können (z.B. die Frage danach, ob ein Kind eher angstmotiviert aggressiv ist oder das Kind eher bestrebt ist, die eigenen Bedürfnisse stark egoistisch durchzusetzen), müssen verschiedene diagnostische Zugänge (Expertenurteile, Eltern- und Lehrerurteile, Befragungen der beteiligten Personen, strukturierte Verhaltensbeobachtungen und psychometrische Tests) (34) genutzt werden. Mögliche Störvariablen (Wahrnehmungsverzerrungen, Symptom- oder Problemleugnendes Verhalten oder Vorurteile) können durch einen multimodalen und multimethodalen Ansatz verringert werden.
Generell können die Genese und Aufrechterhaltung von Aggression ausgehend von biologischen, den psychischen und den sozialen Faktoren differenziert beschrieben werden (Teil 3): Auf biologischer Ebene werden von Ulrike Petermann und Franz Petermann Geschlechtsunterschiede, prä- und perinatale Risiken, neurologische Funktionsstörungen, Genetik und Epigenetik genannt (57). Psychische, kognitive und emotionale Aspekte von der Entstehung aggressiver Verhaltensweisen können ein schwieriges Temperament, unzureichende Impulskontrolle, unzureichende Emotionsregulation, verzerrte sozial-kognitive Informationsverarbeitung oder ein unzureichendes Einfühlungsvermögen darstellen (57). Neben biologischen und psychischen Faktoren können auch soziale Faktoren wie mangelnde Aufsicht durch die Eltern, unzureichende Erziehungskompetenz, unzureichende emotionale Unterstützung, negative Erziehungspraktiken oder soziale Ablehnung (57) sein.
Kapitel II – Training (Konzeption des Trainings, Einzeltraining, Gruppentraining, Eltern-und Familienberatung, Effektkontrolle, Übertragung des Ansatzes auf andere Gebiete)
Ulrike Petermann und Franz Petermann definieren das konzipierte Trainingsprogramm als multimodal, multimethodal und als ein „lerntheoretisch begründetes“ (70) Programm (Teil 4), welches als Zielsetzung eine Veränderung des aggressiven Verhaltens des Kindes zu bewirken hat. Im Fokus stehen dabei insbesondere der Beziehungsaufbau, die Verhaltensmodifikationen mit dem Kind durch den Einsatz von Wahrnehmungs- und Rollenspielen und die Eltern- und Familienberatung. Besonders wichtig ist in dem Trainingsprogramm die aufgestellte Anforderungshierarchie. Das Kind und seine Familie werden in gezielte Anforderungssituationen gebracht – diese können mit Hilfestellungen bewältigt werden, nehmen aber mit der Zeit des Trainings zu, sodass sich die gelernten neuen Fähigkeiten des Kindes weiter verfestigen können (vgl. 71).
Wichtiges Ziel in der Behandlung muss sein, dass einem Kind Verhaltensalternativen Aufgezeigt werden, denn die „Erweiterung sozial kompetenten Verhaltens macht aggressives Verhalten zunehmend überflüssig, da das Kind wichtige zwischenmenschliche Bedürfnisse, wie das Bedürfnis nach Sozialkontakt, nach Zuwendung, nach Anerkennung oder nach Selbstbehauptung, über angemessenes Verhalten befriedigen“ (77) lernen kann. Grundlegend können folgende Punkte die therapeutischen Bemühungen und Ziele des Trainings beschreiben (78):
- Voraussetzung und erster Schritt im Training: Einübung von Ruhe und Entspannung.
- Einüben und Erlernen einer differenzierten Wahrnehmung über ‚mein‘ Verhalten und was dieses bei anderen Menschen auslöst.
- Kooperation und helfendes Verhalten als alternative Verhaltensweisen erlernen.
- Selbstkontrolle als Schritt zur Aggressionshemmung einüben.
- Empathiefähigkeit im Sinne einer Neubewertung der Folgen des eigenen Handelns aus der Sicht des Gegenübers schaffen.
Das Trainingsprogramm in Einzel- und auch in den Gruppentrainings (Teil 5 und Teil 6) soll die Eigenaktivität der Kinder fördern, bereits persistierende Wahrnehmungscharakteristika verändern, die TrainingsteilnehmerInnen zu Autonomie und selbstwirksamem Handeln (proaktiv gegen die Aggression) befähigen. Dazu werden neben den wichtigen Therapeutenvariablen wie Akzeptanz des Kindes, Empathie, Wertschätzung, auch Selbstevaluierungsbögen, Selbstinstruktionen, Tokenprogramme, Kurzfilme, (Bild-)Geschichten und Kartenspiele zu unterschiedlichen therapeutischen Situationen kindgerecht eingesetzt.
Um diese aufgestellten Variablen auch in der Praxis für die Kinder erfahrbar zu machen, müssen zwingend tragfähige, motivierende therapeutische Beziehungen geschaffen werden. Ebenso muss auch eine konsequente und kontinuierliche Begleitung des Trainingsprogramms stattfinden. In den therapeutischen Interaktionen müssen verschiedene Strategien (problemorientiertes Gespräch, Therapiegespräch oder unstrukturiertes Gespräch im freien Spiel) zielgerichtet angewendet werden können. Dadurch soll der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen TherapeutIn und Kind und die Schaffung eines „wechselseitigen Verpflichtungsgefühl(s)“ (110), um die Therapiemotivation der Kinder zu fördern und aufrecht zu erhalten, geschaffen werden.
Beim Einzel- und auch beim Gruppentraining sind modulübergreifende und modulspezifische Ziele formuliert. Ebenso ist die Sitzungslänge (50 oder 100 Minuten) abhängig von mehreren Faktoren (Alter des/der Kinder, kognitive Voraussetzungen des/der Kinder, Schweregrad des aggressiven Verhaltens des/der Kinder, Förderung des sozial erwünschten Verhaltens des/der Kinder, Größe der Gruppe, variable oder stabile Gruppe, Heterogenität bezüglich des Alters, Heterogenität bezüglich des Geschlechts, Heterogenität bezüglich der Aggressionsart, Homogenität bezüglich der Lernvoraussetzungen, Homogenität bezüglich der Symptomatik). Neben der Sitzungslänge wird auch die Sitzungsmenge vom Programm vorgegeben und auch hier bestimmen verschiedene Faktoren die Anzahl der Sitzungen (junge Kinder und geringer Schweregrad = ca.10 Sitzungen à 50 Minuten, junge Kinder und mittlerer bis hoher Schweregrad = ca. 20 Sitzungen à 50 Minuten, ältere Kinder und geringer Schweregrad = ca. 12 Sitzungen à 50 Minuten und ältere Kinder und mittlerer bis hoher Schweregrad = ca. 20 Sitzungen à 50 Minuten) (113).
Ein Baustein neben der Arbeit mit dem Einzelfall oder mit Gruppen bildet die Eltern- und Familienberatung (Teil 7). Grundlegend wird eine „kindertrainingsbegleitende Elternberatung“ (221) durchgeführt, welche für die Eltern verpflichtend ist. Innerhalb dieser Beratung soll „auf die Familie eines aggressiven Kindes insgesamt eingewirkt werden“ (220), denn das Kind „kann die positiven Verhaltensänderungen aus dem Training nur schwer auf seinen Alltag übertragen, wenn es nicht von seinen Eltern dabei unterstützt wird. Dies setzt wiederum ein modifiziertes Erziehungsverhalten der Eltern voraus“ (220). Auch die im näheren Umfeld der Familie arbeitenden Professionen (z.B. Familienberatungsstellen) können in die Elternarbeit einbezogen werden. Auch in der Arbeit mit den Eltern muss innerhalb von kurzer Zeit eine tragfähige Beziehung aufgebaut werden, damit die Eltern ihr Kind proaktiv fördern und anleiten können. Dazu müssen die Eltern angemessen abgeholt werden, damit keine Überforderung in der Ausführung von Aufgaben entsteht (z.B. müssen die Eltern strukturierte Beobachtungen durchführen oder komplexe psychometrische Fragebogenmaße bearbeiten).
Das Trainingsprogramm mit aggressiven Kindern in seiner Ausgestaltung, Praktikabilität und Wirksamkeit von Ulrike Petermann und Franz Petermann wurde mittels Einzelfall- und Gruppenstudien untersucht. Es konnte durch Prätests, Posttests und Follow Up Untersuchungen eine Wirksamkeit und eine bedeutsame Verbesserung in den psychometrischen Screeningskalen (Strenght and Difficulties Questionnaire (SDQ) und der Child Behavior Checklist (CBCL)) kurz nach Therapieende und ein halbes Jahr nach Abschluss des Trainings nachgewiesen werden.
Beide Skalen wurden durch die Eltern oder geschultes therapeutisches Personal bearbeitet und ausgewertet. Das SDQ überprüft die Problembereiche Emotionale Probleme, Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität und Probleme mit Gleichaltrigen, vom CBCL wurden aus Gründen der Ökonomie nur die Skalen Soziale Probleme, Aufmerksamkeitsprobleme, Delinquentes Verhalten und Aggressives Verhalten verwendet.
Das Trainingsprogramm mit aggressiven Kindern wurde primär für den Einsatz in ambulanten oder stationären psychiatrischen und psychotherapeutischen Orten konzipiert, wird von Ulrike Petermann und Franz Petermann auch generell als ‚professionsoffen‘ gekennzeichnet (Teil 9), denn es wir durchaus eine Nutzbarkeit z.B. in der Schule als Ort der Sozialisation oder auch in der Kinder- und Jugendarbeit (ambulant oder stationär) als ein Ort der Prävention, durch geschultes Durchführungspersonal skizziert.
Diskussion
Vor 44 Jahren starteten Ulrike Petermann und Franz Petermann das Projekt, welches sich „sowohl an Praktiker als auch Studenten, die an der Entwicklung und dem Einsatz von Trainingsprogrammen für Kinder im Grundschulalter interessiert sind“ (12) richtete. Bereits damals wie heute waren Themen wie Hyperaktivität, Aggression und Delinquenz aktuell.
Ein Anliegen der Autoren war es, eine Hilfestellung zu den Themen Aggressivität bei Kindern und den betroffenen Systemen zu bieten, sowie Hinweise zu geben, wie der Eskalation entgangen werden kann, da es aus ethischen Gesichtspunkten nicht vertretbar ist, ein Kind länger als notwendig mit einer Verhaltensstörung zu belasten (vgl. 71).
Zur Rezension liegen insgesamt 313 Seiten (282 davon sind theoretische Grundlagen des Programms und Durchführung des Programms), welche hochinformativ und aktuell in die Thematik einführen. Besonders hervorzuheben ist der verständliche Schreibstil, welcher die komplexe Thematik auch für professionsfremde interessierte LeserInnen verständlich vermittelt und eine hohe Motivation zum Weiterlesen schafft.
Sehr gut gelungen ist die prägnante aber umfassende theoretische Einführung in die Materie, bis dann stark praxisbezogen die Methodenkompetenz und die Durchführung des Trainingsprogramms in den Fokus rückt. Neben der Beschreibung der Basisvariablen der durchführenden Professionellen und den Themen und Veränderungen, welche die Kinder umsetzen müssen, finde ich es sehr wertvoll, dass explizit Elternarbeit und eine Verpflichtung der Eltern zur Mitarbeit und Mitveränderung von Ulrike Petermann und Franz Petermann gefordert wird.
Fazit
Zusammenfassend liegt ein sehr gelungenes Werk mit umfassenden Arbeitsmaterialien (in digitaler Form zum Ausdrucken) vor, welches neben der Vermittlung von basaler Theorie den Fokus auf die Praktikabilität im Arbeitsfeld legt und diesen Spagat auch zielsicher hinbekommt.
Rezension von
Joschka Sichelschmidt
M.A. Erziehungswissenschaften, M.A. Klinische Sozialarbeit, B.A. Sozialpädagogik/Psychologie, klinisch arbeitender Pädagoge in einem intensivpädagogischen Setting
Website
Mailformular
Es gibt 8 Rezensionen von Joschka Sichelschmidt.