Inke Hummel: Mit allen Sinnen wachsen
Rezensiert von Julius Daven, 17.04.2023
Inke Hummel: Mit allen Sinnen wachsen. Körpergefühl – Motorik – Konzentration - Miteinander. Wie du die Superkraft der Wahrnehmung unterstützt. Starkes Kind, entspannter Familienalltag. Spiegelbestellerautorin. Humboldt (Hannover) 2023. 192 Seiten. ISBN 978-3-8426-1699-8. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 30,50 sFr.
Thema
Der Ratgeber beschäftigt sich mit der Wahrnehmung von Eltern als mögliche Ursache für Konflikte mit ihren Kindern. So heißt es im Klappentext: „Körpergefühl, Motorik, Konzentration – das sind die drei häufigsten Themen in Familienberatungen. Warum geht meinem Kind so oft etwas kaputt? Ständig streiten wir über Kleidung und Hygiene! Mein Kind ist oft so laut! Warum kann es sich nicht gut alleine beschäftigen oder länger konzentrieren?“ Intention von Inke Hummel ist es, zu zeigen, inwiefern Wahrnehmung die Ursache für Alltagskonflikte sein kann und wie Eltern ihr Kind unterstützen, damit es sich gut entwickelt. Hierzu gibt sie praktische Tipps, um die kindlichen Sinne und das Miteinander in der Familie zu stärken.
Autorinnen
Inke Hummel (geb. 1977), Pädagogin M.A., hat Germanistik und Pädagogik studiert. In der Pädagogik waren ihre Schwerpunkte das Kleinkind- und Jugendalter, pädagogische Psychologie sowie Sprachentwicklung, Der Fokus auf Beziehung und Bindung ist im Arbeitsalltag hinzugekommen. Sie berät heute Eltern als Familienbegleiterin, Erziehungsberaterin und pädagogischer Coach. Weiterhin ist sie nicht nur als Bloggerin, Ratgeber- und Kinderbuchautorin aktiv, sondern auch als Dozentin für Fortbildungen und Autorin für Fortbildungsmaterial. Sie lebt in Bonn, ist verheiratet und Mutter von drei Kindern im Jugendalter.
Entstehungshintergrund
Als pädagogischer Coach unterstützt Inke Hummel Familien im ersten Babyjahr, in der Kindergarten-/​Grundschulzeit und in der Pubertät. Dabei begleitet sie häufig Eltern mit gefühlsstarken und schüchternen Kindern und unterstützt gelingende Eltern-Kind-Bindungen. Im Netzwerk „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und pädagogische Fachkräfte die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Sie möchte Eltern unterstützen, gelassener und beziehungsstärker mit ihren Kindern zu leben. Vor diesem Hintergrund ist das aktuelle Werk als erster Ratgeber, der sich des Themas „Wahrnehmung des Kindes“ annimmt, entstanden.
Aufbau und Inhalt
Der 240-seitige Ratgeber besteht aus zwei Teilen, die aufeinander aufbauen. Nach einem Vorwort mit Begriffserläuterungen und Informationen zur Struktur des Buches beschäftigt sich der erste theorieorientierte Teil „So verstehst du dein Kind besser“ mit der Wahrnehmung als Ursache für Alltagskonflikte, während sich der zweite Teil „So hilfts du deinem Kind im Alltag“, einen praktisch orientierten Schwerpunkt einnimmt. Teil 1 und Teil 2 sowie die jeweiligen Kapitel beginnen mit einer kurzen Zusammenfassung. Ein Ausblick, Informationen über Mitwirkende und eine Danksagung schließen das Werk ab. An verschiedenen Stellen wurden Lesetipps mit Verweis auf externe oder eigene Literatur eingebaut.
Teil 1: „So verstehst Du dein Kind besser“
Kapitel 1 „Euer Schlüssel zum entspannteren Familienalltag“ hat das Ziel die Art, wie das Kind wahrnimmt zu thematisieren und dies transparent zu machen. Hierzu stellt die Autorin typische Themen in Sprechblasen vor.
Das erste Unter-Kapitel „Warum habt Ihr ständig Stress?“ gibt einen Einblick in mögliche Ursachen von herausfordernden Verhaltensweisen. Hier thematisiert die Autorin den Erziehungsstil mit Auswirkung auf die Bindungssicherheit des Kindes, das Alter und die Entwicklungsstufe des Kindes mit mangelnder Passung von seinen Fähigkeiten mit eigenen Erwartungen, ein mangelnder freier Zugang zu den Gefühlen (Wut, Unmut, Traurigkeit, Freude etc.), eine unterschiedliche Bewertung von Geschehnissen mit Konfliktpotenzial (eingeschränkter) Blick der Eltern, potentielle Stressoren für das Kind (z.B. Geschwistergeburt, Trennung der Eltern, Umzug, ErzieherInnenwechsel), physische oder psychische Störungen von innen sowie die Wesensart und Wahrnehmungsart des Kindes.
Im zweiten Unter-Kapitel „Was musst Du unbedingt über Wahrnehmung wissen?“ erläutert die Autorin zunächst drei Fälle von Wahrnehmung, die zu Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung führen können. Hier thematisiert sie die andersartige Wahrnehmung (Kind nimmt grundsätzlich anders war als andere), eine sehr langsame Entwicklung im Bereich Wahrnehmung im Unterschied zu anderen und die beeinträchtigte Wahrnehmung, welche zum Beispiel ergotherapeutische Unterstützung oder z.B. psychomotorisches Turnen verlangt. Sodann stellt die Autorin die Vorteile von Wahrnehmungsstärke für Eltern und Kind dar und geht auf die vielschichtigen Schritte der Wahrnehmung ein. Nach einem Einblick in die Sinne des Kindes, z.B. nach außen (Riechen und Schmecken, Hören und Sehen, Fühlen) oder nach innen (Gleichgewicht, Stellung der Körperglieder und die Körperspannung, Organtätigkeit) – und weiteren Wahrnehmungs-relevanten Aspekten (z.B. innere Reize,) folgen Informationen zum Bauplan für gewöhnliche und herausfordernde Wahrnehmungen.
Die Ausführungen im dritten Unter-Kapitel „Wie kannst du eine andere Wahrnehmungsart erkennen?“ haben das Ziel, Verständnis für das Kind – wenn es z.B. anders handelt, weil es anders wahrnimmt – als Schlüssel zur Veränderung zu erreichen. Unterschiede in den Bereichen Empfindlichkeit, Verarbeitung (einschl. Stressbewältigung und Erfahrung) sowie Handeln werden in den folgenden Unterkapiteln thematisiert. Die Autorin erklärt zunächst die Andersartigkeit in der Wahrnehmung mit Blick auf deren Ursachen. Hier beantwortet sie Fragen, wie „Warum ist ein Kind sehr empfindlich und ein anderes vielleicht kaum? Warum verarbeitet ein Kind möglicherweise kompliziert? Warum benötigt ein Kind eventuell so viel Unterstützung? Warum reagiert es womöglich oft eher heftig?“ Anschließend geht sie auf Fragen nach den Problemen im Alltag ein: „Was an diesen Andersartigkeiten macht eigentlich Stress?“ mit dem Ziel, dass erkannt werden kann, ob es für das Kind ein größeres Problem gibt, das mit der Wahrnehmung zusammenhängt. Sodann geht sie auf eine mögliche zu negative Bewertung von Eltern zu Andersartigkeiten ein mit dem Ziel, falsche Bewertungen zu erkennen.
Im vierten Unter-Kapitel „Was sind typische Probleme vieler Kinder?“ geht es um Andersartigkeiten und auch Beeinträchtigungen, die durch Über- oder Unterempfindlichkeit bei einem oder mehreren Sinnes- oder Wahrnehmungsbereichen entstehen können. Hierzu gehören zum Beispiel Probleme beim Sehen, Probleme beim Hören, Probleme beim Fühlen mit der Haut oder im Mund, Probleme mit dem Gleichgewicht, Probleme mit der Stellung der Körperglieder und der Körperspannung, Probleme mit der Organtätigkeit, Probleme bei der Auswahl oder Unterdrückung von Reizen, Probleme beim Verknüpfen der Sinne, Probleme beim Bewerten von Reizen und schließlich Probleme bei der Planung von Reizen. Die Autorin betont, dass Überempfindlichkeit überempfindlich machen kann und führt aus: „Gerade Kinder mit Überempfindlichkeiten können sich auch im Bewerten der Welt überempfindlich zeigen und leichter andere missverstehen. Und sie reagieren wahrscheinlich häufig übermäßig heftig auf ihre Mitmenschen und ziehen so Stress praktisch an. Denn ihr Erleben ist dauerhaft gestresster als bei anderen Menschen.“ (Seite 100). Das Kapitel wird mit einem Interview mit zwei ErgotherapeutInnen abgeschlossen, bei der es um die Beantwortung von drei Fragen geht: Kann ein Elternteil Wahrnehmungsprobleme eindeutig erkennen? Wie wichtig ist die Einschätzung der Eltern und wie wichtig ist die weitere Betrachtung durch ErgotherapeutInnen? Wann beobachtet man ein Kind am besten? Das Herausfinden von Unter- oder Überempfindlichkeit wird als Detektivarbeit beschrieben.
Teil 2: „So hilfst du deinem Kind im Alltag“
Kapitel 1 „Entdecke dein Kind neu“ hat das Ziel, die Art, wie das Kind wahrnimmt, wie wahrnehmungssicher es ist und was ihm vielleicht den Alltag erschwert genauer zu entdecken und mit einer ersten Einschätzung abzusichern.
Hierzu werden im ersten Unterkapitel „Die Fragebögen: In welchen Bereichen kannst du mit deinem Kind üben“ zwei Fragebögen vorgestellt, die sich auf der einen Seite mit dem Wesen (So nimmt dein Kind die Welt wahr) und auf der anderen Seite mit der Empfindlichkeit (So nimmt dein Kind die Welt wahr) des Kindes bezogen auf seine Wahrnehmung beschäftigen. Die Fragebögen sind so strukturiert, dass sie verschiedene Wahrnehmungsbereiche und mögliche Besonderheiten auflisten. Die Autorin gibt jeweils Tipps und Hinweise zur Anwendung und zum Umgang mit den ermittelten Erkenntnissen und hebt an verschiedenen Stellen hervor, dass es bei der Einschätzung der Ergebnisse sinnvoll sein kann, auch Bezugspersonen oder Fachpersonal zu involvieren.
Kapitel 2 „So fängst du an“ hat das Ziel, Grundlagen und alltagstaugliche Ideen (z.B. Lust auf das Spielen mit bestimmten Reizen) kennenzulernen, um das Kind rund um seine Sinneswahrnehmung zu stärken.
So stellt die Autorin im ersten Unterkapitel „Was musst Du beachten?“ Leitplanken und Hilfen für Kinder vor. Hierzu gehören z.B. liebevolle Schubser und Zutrauen, aber auch Raum für Entspannung und ein gutes Kennenlernen seines eigenen Körpers. Dabei betont sie, dass Eltern nur eine notwendige Unterstützung für Kinder sein können, aber das Kind nur dann lernt, wenn es selbst aktiv wird. Es geht also darum, so viel Hilfe wie nötig anzubieten, aber so wenig wie nötig. Die Autorin thematisiert sodann wichtige Bereiche, um das Kind in der Wahrnehmung zu stärken. Hierzu gehören „zugewandtes Zumuten und Bewältigungskraft“, „Motivation und gute Kommunikation“, aber auch „Entspannung“ und „den Körper kennenlernen“ und geht auf Grundregeln ein, die bei der Anwendung von Unterstützungsangeboten hilfreich sein können.
Die LeserInnen finden anschließend im zweiten Unterkapitel „Wie sprichst du viele Sinne auf einmal an?“ etliche Tipps (nach Altersstufen differenziert) der Autorin, welche sich in folgende Bereiche gliedern: „Jeden Tag Bewegung“, „Zurück zum Selbermachen“, „Kleine Dinge neu betrachten“, „Bücherwelten“ und „Ruhe“ bewusst angehen. Die LeserInnen finden außerdem ein Interview mit einer vierfachen Mutter mit Tipps aus dem Großfamilienalltag, wie ein wahrnehmungs- und persönlichkeitsstärkender Alltag mit Kindern aussehen kann.
Kapitel 3 „So stärkst du das Bewegen“ hat das Ziel, Bewegung als elementar für alle anderen Sinnesfelder herauszustellen, weil Motorik Wahrnehmung und Konzentration unterstützt.
Im ersten Unterkapitel „Was braucht der ganze Körper?“ vermittelt die Autorin (nach Altersstufen differenziert) einige Ideen, damit das Kind z.B. spüren kann, bis wohin sein Körper geht, wie kräftig er ist und wie es ihn gut steuern kann. Diese finden die LeserInnen in folgenden Abschnitten:
- Dein Kind badet mit Lebensmitteln
- Dein Kind ist eine Pizza
- Dein Kind ist eine Mumie
- Dein Kind ist ein Schmetterlingsfänger
- Dein Kind ist eine Raupe
- Dein Kind ist ein Flugzeug
- Dein Kind ist ein Instrument
- Dein Kind wäscht sein Fahrzeug
- Dein Kind besteht ein Abenteuer
- Dein Kind spielt mit FreundInnen
- Dein Kind ist ein Spiegel
- Dein Kind ist ein/e Pantomime
Im zweiten Unterkapitel „Was brauchen die verschiedenen Bewegungssinne?“ erhalten die LeserInnen (nach Altersgruppen differenziert) Impulse, die sich nicht auf den ganzen Körper, sondern auf bestimmte Bereiche der Motorik und der Körperinnenwahrnehmung beziehen. Diese finden die LeserInnen in folgenden Abschnitten:
- Das Gleichgewicht
- Das Drehen
- Die Stellung der Körperteile
- Die Position des Körpers
- Die Körperspannung
- Die Intensität von Bewegungen
- Die Dauer und das Timing von Bewegungen
- Die Hände
Kapitel 4 „So stärkst Du die übrigen Sinne“ hat das Ziel, die mithilfe der Fragebögen identifizierten Bereiche, spielerisch anzugehen.
Im ersten Unterkapitel „Was brauchen die Sinne nach außen?“ erhalten die LeserInnen (nach Altersgruppen differenziert) Anregungen für eine verbesserte Wahrnehmung nach außen. Dies finden sich in folgenden Abschnitten:
- Sehen
- Hören
- Riechen und Schmecken
- Fühlen mit der Haut
Im zweiten Unterkapitel „Was brauchen die Sinne nach innen?“ erhalten die LeserInnen (nach Altersgruppen differenziert) Anregungen für eine verbesserte Wahrnehmung nach innen. Dies finden sich in folgenden Abschnitten:
- Sättigungsgefühl oder Hunger
- Verdauung und Ausscheidungen
- Atmung und Herzschlag
- Müdigkeit und Angespanntheit
Im fünften und letzten Kapitel „Dein Kind geht wahrnehmungsstark ins Leben“ finden die LeserInnen eine kurze Zusammenfassung, einen Ausblick und Wünsche der Autorin an Eltern.
Diskussion
Die Autorin schafft es mit ihrem Werk, Eltern mit einem umfassenden Wissen rund um Wahrnehmung auf beiden Seiten (Eltern und Kinder) in ihrer Beziehungs- und Wahrnehmungsstärke zu versorgen, um „das Familienleben leichter zu machen“, wie sie es bereits in ihrem Vorwort erwähnt. Dies kann vielen Familien helfen, Missverständnisse im Alltag schnell zu klären oder überfordernde Situationen zu vermeiden und damit ein harmonisches Miteinander fördern.
Wenn ein Familienleben von Eltern als anstrengend erlebt wird, sind einfache Schuldzuschreibungen an das vermeintlich auffällige Kind zu eindimensional. So stellt die Autorin an verschiedenen Stellen heraus, dass der Blick der Erwachsenen getrübt oder zu eng bewertet sein kann. Hier ist die nötige Sensibilität von Erwachsenen gefragt, anzuerkennen, dass Kinder im Kontext von menschlicher Vielfalt unterschiedlich sind und Zeit benötigen, sich zu entwickeln. Aber auch der reflexive Blick der Erwachsenen ist hier gefragt, z.B. in Bezug auf die eigene Ungeduld, normative Erwartungshaltungen oder eigene Belastbarkeit. „Es ist nicht das Kind, das das Familienleben schwieriger macht. Etwas im Miteinander von Eltern und Kind oder etwas in jeder Person macht den Alltag herausfordernd“, schreibt die Autorin auf Seite 15. Es hilft das Wissen, dass Eltern aber auch sicher nicht perfekt sein müssen, um Kinder zu erziehen. Und ganz unabhängig davon zerstören Schuldzuweisungen meist das Selbstwertgefühl von Kindern.
Es ist sicher gut, dass die Autorin bereits im Vorwort darauf hinweist, dass sich der Ratgeber an Eltern mit gesunden, aber manchmal herausfordernden Kindern richtet und gleichzeitig den entscheidenden Anstoß dafür geben kann, mit einer Fachperson genauer auf das Kind zu schauen, wenn es nötig sein sollte. Wenn Eltern das Gefühl haben, dass sie ihr Kind nicht angemessen oder ausreichend bei der Bewältigung von Verhaltensauffälligkeiten unterstützen können, ist es meist ratsam, einen Experten aus dem Bereich Psychologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zu involvieren. So erläutert die Autorin kurz & knapp die Begriffe „beeinträchtigt“ vs. „anders“ im Kontext von Wahrnehmung. Bei der Erklärung des Begriffs „beeinträchtigt“ macht sie deutlich, dass es sich um eine Wahrnehmungsart handelt, die eine Förderung mit fachlicher Unterstützung zur Folge haben kann. An anderer Stelle betont die Autorin ausdrücklich, dass es nicht darum geht, Fachkräften Diagnose- oder Therapiearbeit zu entreißen bzw. das Vorhandensein von Beeinträchtigungen der Wahrnehmung festzustellen. Vielmehr soll das Buch helfen, das Wesen des Kindes besser kennenzulernen, unabhängig davon, ob seine Wahrnehmung anders oder beeinträchtigt ist. Es soll auch helfen zu erkennen, ob Unterstützung bei dem Thema benötigt wird (Seite 35). Ich halte die Ausführungen der Autorin für sehr wichtig, durchdacht und gut.
An anderer Stelle ist der ausdrückliche Hinweis der Autorin zur Vermeidung von unnötigem Förderwahn wertvoll, um eine ständige Sorge und ein dauerndes Optimieren zu vermeiden. Damit würde man eine Kindheit beschweren. Tatsächlich ist bekannt, dass eine „Förder-Hysterie“ (Helikopter-Eltern) durch Eltern dem Kind mehr schadet als nutzt. Erziehung darf und soll nicht im Dauerstress enden. Heute findet – getrieben durch soziale Netzwerke und Medien – ein enormer Druck auf Eltern statt, welche die Entwicklungsfortschritte ihrer Kinder eng mit denen von Freunden und Bekannten vergleichen. Die Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert konstatiert hierzu: „Wer seinem Kind immer wieder vermittelt, dass es gegen andere bestehen muss, sabotiert das positive Bild, das die anderen von ihm haben könnten und behindert damit letztendlich das positive Selbstbild des Kindes.“ Meredith Haaf führt in diesem Zusammenhang (Eltern im Abgleichsrausch) aus: „Manche entwickeln fast wissenschaftliche Methoden: akribische Beobachtung des kindlichen Verhaltens, Abgleich mit der vorhandenen Kontrollgruppe und Auswertung der Daten, um möglicherweise zu einer Erkenntnis über den Stand des eigenen Kindes zu kommen. Vielleicht schreit sie nur so viel, weil sie motorisch besonders begabt ist? Schließlich bewegt sie sich ja auch mehr als die anderen Babys. Oder sie ist einfach besonders sensibel? So wie das Kind von Steffi, das hat wohl auch sehr viel geschrien“ (siehe auch Süddeutsche Zeitung v. 28.06.2018: Rubrik Familie: Das große, gute Genaurichtigso).
Die Autorin verschafft Eltern mit ihrem Ratgeber einen umfassenden theoretischen Einblick in das komplexe Thema Wahrnehmung als mögliche Ursache für Konflikte mit ihren Kindern mit Tipps und Hinweisen für eine praktische Umsetzung, um ein verbessertes Familienleben zu erreichen. Sie liefert dabei wertvolle Impulse aus professioneller Perspektive, um die kindlichen Sinne und das Miteinander in der Familie (Bindung und Beziehung) zu stärken. Als Leser spüre ich die Herzenswärme der Autorin als Mutter von drei Kindern in den Ausführungen und Alltagstipps. Inke Hummel greift auf den eigenen Erfahrungsschatz in der Erziehung mit Kindern zurück, vergisst dabei aber nicht die professionelle Sicht. Ich möchte in meiner Diskussion nicht unerwähnt lassen, dass vielleicht auch eine intuitive Betrachtung im Umgang mit herausfordernden Kindern wertvoll bleiben kann. Vielleicht machts die Mischung aus dem Heranziehen von Fachliteratur und guten Ratgebern (hierzu zählt das vorliegende Werk) einerseits und eine intuitive Betrachtung andererseits. Vermutlich gelingt eine gute Erziehung insbesondere dann, wenn Wissen, Selbstreflexion und Intuition ineinander greifen (siehe auch www.elternleben.de; Artikel: Die Sache mit dem Bauchgefühl – Erziehung und Intuition von Melanie Schüer). Mir persönlich hat das Buch von Inke Hummel mit einem intensiven Einblick in die Wahrnehmungsthematik geholfen, mit einem sensiblen Blick auf herausfordernde Kinder im Alter von 2 bis 6 Jahren zu schauen.
Fazit
Es handelt sich bei dem Werk von Inke Hummel um einen wertvollen Ratgeber für Eltern, die ihren intuitiven Erziehungsstil im Umgang mit herausfordernden Kindern mit einem umfassenden Wissen rund um Wahrnehmung auf beiden Seiten (Eltern und Kinder) anreichern möchten. Ob es tatsächlich hilfreich sein kann, Fragebögen zur Analyse und Bewertung zu verwenden, um das Wesen der Kinder bezüglicher ihrer Wahrnehmung besser zu verstehen und zu beschreiben, mögen LeserInnen des Werkes von Inke Hummel selbst entscheiden. Manchmal können derartige Hilfsmittel wertvoll sein. Ich empfehle den Ratgeber auch werdenden Eltern oder interessierten Dritten, um sich Kompetenzen im komplexen Themenfeld differenzierter Wahrnehmung anzueignen.
Rezension von
Julius Daven
Vorstandsvorsitzender EWD e.V. – Ehrenamtliche Wegbegleitung Deutschland für Kinder, Jugendliche und Careleaver
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Zitiervorschlag
Julius Daven. Rezension vom 17.04.2023 zu:
Inke Hummel: Mit allen Sinnen wachsen. Körpergefühl – Motorik – Konzentration - Miteinander. Wie du die Superkraft der Wahrnehmung unterstützt. Starkes Kind, entspannter Familienalltag. Spiegelbestellerautorin. Humboldt
(Hannover) 2023.
ISBN 978-3-8426-1699-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30331.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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