Saskia Erbring: Systemische Beratung für eine inklusivere Gesellschaft
Rezensiert von Dipl.-Sozialpäd. Gerhard Klug, 21.08.2023

Saskia Erbring: Systemische Beratung für eine inklusivere Gesellschaft.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2022.
86 Seiten.
ISBN 978-3-525-40806-3.
D: 12,00 EUR,
A: 13,00 EUR.
Reihe: Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten.
Thema
Das Thema „Inklusion“ ist eines der Themenbereiche, das von vielen Akteuren beansprucht wird, indem es unterschiedlich gedeutet, kritisiert oder eingefordert wird. Meistens bleibt der Beigeschmack einer Vision übrig, die noch in ferner Zukunft liegt, jedoch im Hier-und-Jetzt eine Art unbefriedigende, noch zu lösende Aufgabe, skizziert. Mit dem vorliegenden Werk soll aus einer klaren systemischen Perspektive das Einwirken auf das Thema, auf die Vision der Inklusion, bearbeitet werden. Der Fokus liegt auf der inklusiven Schulentwicklung im Handlungsfeld Schule/​Bildung und ist als Hintergrundfolie eingebettet in ein systemisches Betrachtungs- und Beratungsverständnis und normativ als Entwicklung zu einer inklusiveren Gesellschaft verankert.
Autor:in und Entstehungshintergrund
Saskia Erbring lehrt an der Hochschule Erfurt, im Studiengang Soziale Arbeit, Beratung. Sie ist als freiberufliche systemische Beraterin und Supervisorin tätig und beschäftigt sich im freiberuflichen Kontext mit den Schwerpunkten Schulentwicklung und LehrerInnengesundheit.
Aufbau und Inhalt
Erbrings Werk ist kompakt und übersichtlich aufgebaut. Entlang des systemischen Blickwinkels wird im ersten Beitrag der Kontext des Geschehens beschrieben. Mit einem Beispiel aus einer Grundschules, die vor der Aufgabe steht, Inklusion umzusetzen, beginnt Erbring praxisnah mit der Kontextbeschreibung. Diesen Einstieg nutzt die Autorin, um anschließend die normative Komponente (UN-Menschenrechtskonvention) aufzuzeigen, in der sich das Geschehen abspielt. Neben den normativen, ethischen und gesellschaftlichen Implikationen zeigt sie Grenzen und Entwicklungspotenziale in der Umsetzung von extern aufgetragenen Inklusionsumsetzungsprozessen auf. Der systemische Blick zeigt aus einer Metaperspektive auf, mit welchen Elementen die Umsetzung von Inklusion in Wechselbeziehung steht, wie die hierarchische Einbettung in der Organisation (emotionalen) Einfluss ausübt und wie eine Entflechtung und Betrachtung aller Wechselbeziehungen gelingen kann. Sonderpädagogische Realitäten werden entlang des ICF anschlussfähig durch die systemische Brille erklärt. Abschließend beschreibt Erbring die nach innen wirkenden Folgen der Rekontextualisierung. Diese setzen meistens dann ein, wenn die Inklusionsumsetzung Anpassungsleistungen von der Organisation Schule abverlangt. Anschließend zeigt sie Wege auf, wie diesen Tendenzen wirksam begegnet werden kann.
Im zweiten Abschnitt, die systemische Beratung, wird die einleitend vorgestellte Fallvignette, eine Grundschule, die sich auf dem inklusiven Weg aufmacht, aufgegriffen. Methodisch wird mit einer systemischen Strukturaufstellung gearbeitet, indem verschiedene Repräsentant:innen aufgestellt werden, die verschiedene Attribute im Umsetzungsprozess abbilden. Im Anschluss wird die Methode erklärt und der Beratungsprozess analysiert. Es folgt eine weitere Fallvignette, welche sich ebenfalls mit dem inklusiven Schulentwicklungsprozess an einem Gymnasium beschäftigt, und die Bearbeitung des Themas entlang des salutogenetischen Ansatzes ansetzt. Weiterhin wird methodisch das Auftragskarussell bzw. das Erwartungskarussell angewandt, das als Hilfsmittel dient, um die an den Schulleiter herangetragenen vielschichtigen Erwartungen zu sortieren und letztlich einen Weg aus dem lähmenden Dilemma zu finden. Abgerundet wird die Fallvignette durch die Verknüpfung mit resilienzfördernden Leitgedanken, den Antreiber- und Erlaubnissätze. Abgeschlossen wird der zweite Abschnitt durch den Vorschlag eines Prozessmodells für inklusive Schulentwicklung, angelehnt an Scharmers U-Prozess. Mittels zwei weiteren Methoden zeigt die Autorin weitere Beratungsmethoden auf, wie die inklusive Schulentwicklung gestaltet werden kann: mit der Lösungsparty soll die Aufmerksamkeitsfokussierung von der Problemtrance zur Lösung gelingen und mithilfe der Fallberatung „Evolving Cases“ werden problematische Fälle geschildert, welche mithilfe der Gruppe aus unterschiedlichen Perspektiven lösungsorientiert betrachtet werden.
Der dritte Abschnitt, Am Ende, greift auf systemische Grundannahmen zurück und formuliert daraus kurze Haltung- und Handlungsempfehlungen im Umgang mit Inklusion.
Diskussion
Die Autorin gelangt schnell zum Wesentlichen. Das von ihr gewählte schulische Praxisbeispiel mag vermutlich für etliche ähnliche Beispiele im Land stehen und entfaltet daher unkompliziert Wirkung. Der Aufbau ist als gelungen zu bezeichnen, denn er führt über das praktische Schulbeispiel schnell zum Kern des Themas hin: Inklusion wird verlangt, es soll umgesetzt werden, aber die Praxis kommt nicht so recht vom Fleck. Die Kontexte sind nachvollziehbar dargestellt und die darin kämpfenden Verantwortlichen werden mit den Widerständen und lähmenden Prozessen anschaulich herausgearbeitet. Die systemische Grundhaltung und Perspektive begleitet und beschreibt als Hintergrundfolie die Muster anschaulich. Die Autorin erklärt dabei stets aus systemischer Sicht die Methode und im Kontext ihrer Feldberatung ist die supervisorisch angewandte Methode auf den inklusiven Schulentwicklungsprozess ausgerichtet.
Auch wenn Erbring allgemein von „die Supervisorin“ im erzählenden Stil schreibt, so ist davon auszugehen, dass sie sich selbst damit meint. Ihre Darstellung der Methoden, wie bspw. die systemische Strukturaufstellung und die Kurzanalyse des Beratungsprozesses sind klar, nachvollziehbar und sorgen mit der nötigen Schärfe für Orientierung und Ausweg aus dem Dilemma. Dadurch, dass sich die systemische Beratungsarbeit stets an der Umsetzung der Inklusion ausrichtet, ist die Zielstellung der Beratungsarbeit nicht zu verkennen.
Eine zentrale Frage ist, an wen dieses Werk gerichtet ist? Schulische Mitarbeitende bzw. Verantwortliche aus (Schul-)Verwaltung sind als eine erste Zielgruppe zu nennen. Angesichts der methodischen Spezifität und dargestellten Schmankerl würde diese Zielgruppe zu kurz greifen und so dürfen sich Berater:innen aus dem Feld der Supervision und Organisationsberatung ebenso angesprochen fühlen, da Erbring es gut versteht, sowohl das Thema Inklusion aufzubereiten als auch deren Umsetzungsprozess aus dem systemischen Blickwinkel gut zu veranschaulichen. Weiterhin dürfen sich alle Interessierten angesprochen fühlen, die sich mit Change-Prozessen auseinandersetzen (müssen) oder politisch/​administrativ Verantwortliche, die wunderbar erkennen werden, dass top-down gesetzte Themen vielschichtige und komplexe Muster von Widerständen, Alternativdeutungen und andere nichtintendierte Nebenwirkungen auslösen.
Fazit
Systemische Beratung für eine inklusive Gesellschaft richtet sich klar und deutlich an Interessierte aus dem Bereich Schule/​Bildung, die mittels systemischer Beratung Interventionsansätze erhalten, um inklusive Schulentwicklungsprozesse zu gestalten. Supervisor:innen, die in diesem Handlungsfeld beraten, erhalten damit einen anschaulichen Instrumentenkoffer.
Rezension von
Dipl.-Sozialpäd. Gerhard Klug
Klinischer Sozialarbeiter, M.A., Sozialpädagoge im Referat 4, Stadt Augsburg
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Es gibt 11 Rezensionen von Gerhard Klug.
Zitiervorschlag
Gerhard Klug. Rezension vom 21.08.2023 zu:
Saskia Erbring: Systemische Beratung für eine inklusivere Gesellschaft. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2022.
ISBN 978-3-525-40806-3.
Reihe: Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30336.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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