Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Renate Dillmann: China

Rezensiert von Johannes Schillo, 23.03.2023

Cover Renate Dillmann: China ISBN 978-3-9822036-7-6

Renate Dillmann: China. Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft, den Aufstieg einer neuen Großmacht. Verlag Die Buchmacherei 2021. 388 Seiten. ISBN 978-3-9822036-7-6. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Das Buch behandelt China als politisch-ökonomischen Sonderfall. Es ist ja das einzige Entwicklungsland, das die westliche Verheißung einer erfolgreichen Teilnahme am Weltmarkt und eines Aufstiegs zur vollwertigen Industrienation wahrgemacht hat. Dazu wird die jüngere Geschichte des Landes analysiert – von den Opiumkriegen über die Mao-Zeit bis zur Gegenwart. Besonderen Wert legt die Autorin auf die Untersuchung des Zusammenhangs der „sozialistischen“ (1949 – 1978) und der „kapitalistischen“ Etappe (von 1978 bis heute), beide unter Führung ein und derselben Kommunistischen Partei. In der aktualisierten 11. Neuausgabe des Buchs (Erstveröffentlichung: 2009), die seit Ende 2022, vorliegt wird – neben weiteren Entwicklungen in Ökonomie oder Sozial- und Gesundheitspolitik – der neue „Kalte Krieg“ zwischen den USA und der Volksrepublik thematisiert.

AutorIn

Dr. Renate Dillmann ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin mit den Schwerpunkten China, Sozialpolitik und Medienkritik. Mit Arian Schiffer-Nasserie hat sie das Buch „Der soziale Staat – Über nützliche Armut und ihre Verwaltung“ (2018) veröffentlicht.

Aufbau

Die Neuausgabe enthält eine etwa 70seitige Ergänzung mit aktuellen Themen der letzten zehn Jahre. Danach bietet „China – ein Lehrstück“ zwei annähernd gleich große Teile: Der erste (ca. 170 Seiten) steht unter der Überschrift „Der Sozialismus in der Volksrepublik China“, der zweite widmet sich dem „Kapitalismus in der Volksrepublik China“ (ca. 200 Seiten).

Inhalt

Der einleitende, neue Abschnitt „China – Stand 2020“ trägt die jüngsten Entwicklungen nach, wobei es vor allem um die Ökonomie (Fortschritte der chinesischen Volkswirtschaft, Binnenmarkt, Löhne), um die Gesellschaftspolitik (Sozialversicherungen, Sozialkreditsystem etc. samt einem Exkurs zur chinesischen Corona-Politik) und um die Außenpolitik (Neue Seidenstraße, Aufrüstung, Streit um die Inseln im südostasiatischen Meer) geht. Thema ist dabei auch die Repression im Innern, die an den beiden Fällen Hongkong und Uiguren-Minderheit zur Sprache gebracht wird. Die beiden Punkte leiten dann über zur Auseinandersetzung mit der Darstellung Chinas in den deutschen Medien, wobei die Autorin eine lange Liste an Vorwürfen (von der „neokolonialen“ Politik in Afrika bis zum „China-Virus“) abarbeitet, die in den letzten Jahren immer mehr den Charakter eines Feindbildes angenommen haben.

Der unverändert aufgelegte Hauptteil beginnt mit einer Vorbemerkung, die verdeutlicht, dass und inwiefern das Buch in seiner Darstellung quer zu vielen westlichen Deutungen des chinesischen (Wieder-)Aufstiegs steht: Einerseits kritisiert es den Sozialismus Mao Zedongs, ohne Partei zu ergreifen für den Übergang der Volksrepublik zur Marktwirtschaft, andererseits konstatiert es den Erfolg des modernen China und analysiert die Eindämmungsbemühungen der etablierten Weltmächte, „ohne in der Auseinandersetzung, die längst begonnen hat, Sympathien für eine der beiden Seiten zu bekunden“ (S. 10).

Teil 1 über die sozialistische Phase und ihre Vorgeschichte enthält neun Kapitel. Kapitel 1 resümiert, wie das fernöstliche „Reich der Mitte“ vom Imperialismus „erschlossen“ wurde. Die politische Ökonomie des chinesischen Kaiserreichs im beginnenden 19. Jahrhundert – Stichworte: „Ostasiatische Produktionsweise“ (Marx), feudaler Beamtenstaat – wird analysiert und die Frage erörtert, warum sich in China trotz weit fortgeschrittener Geld- und Kreditfunktionen keine kapitalistische Produktionsweise entwickelte. Der Kanonenboot-Politik der westlichen Eroberer hatte das riesige Reich wenig entgegenzusetzen und im Zuge seiner halbkolonialen Unterwerfung (Opiumkriege) wurden die existierenden ökonomischen und politischen Zusammenhänge zerstört. Kapitel 2 thematisiert die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), ihre Gründung 1921 und ihren anti-imperialistischen Widerstand. Die KPCh erkämpfte sich mühevoll („Langer Marsch“) ihren Sieg als Partei der Bauern. Behandelt werden das Programm zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und in einem Exkurs der Widerspruch von „Kommunismus und Nation“.

Kapitel 3 untersucht die erste Phase der Volksrepublik als Versuch, alle gesellschaftlichen Kräfte mit Ausnahme des „Monopolkapitals“ an einem Neuaufbau zu beteiligen. Die daraus entspringenden Widersprüche beantwortete die KP mit weiteren Verstaatlichungen. Kapitel 4 („Ein Fehler, viele Widersprüche“) analysiert Theorie und Praxis der „staatlich geplanten Wertproduktion“. Ein „Zwischenfazit in polemischer Absicht“ (S. 82) fasst die Kritik zusammen und leitet über zur Darstellung der praktischen Konsequenzen, die die widersprüchliche Kombination von plan- und marktwirtschaftlichen Prinzipien für Produzenten und Konsumenten hatte.

In Kapitel 5 wird der „Kampf zweier Linien“, für den die Protagonisten Mao Zedong und Deng Xiaoping stehen, als Resultat der Mängel erklärt, die die staatlich geplante Wertproduktion mit sich brachte. In Kapitel 6 werden die berühmten maoistischen Massenkampagnen „Lasst hundert Blumen blühen“, „Der große Sprung nach vorn“ und die „Große proletarischen Kulturrevolution“ in ihrer Intention und ihrem Verlauf ausführlich dargestellt und kritisiert.

Kapitel 7 setzt sich mit der Kritik Dengs an Mao auseinander und analysiert die Begründungen, mit denen der neue Parteiführer nach Maos Tod einschneidende Reformen forderte, die dann vom XI. Parteitag der KPCh 1978 als „große historische Wende“ in die Wege geleitet wurden. Kapitel 8 stellt die chinesische Außenpolitik der sozialistischen Etappe dar: Koreakrieg, Unterstützung antiimperialistischer Befreiungskriege, Auseinandersetzung mit den USA und dem sozialistischen „Bruderstaat UdSSR“, wobei der letztere Konflikt das Ende des sozialistischen Ostblocks einläutete. Kapitel 9 beschäftigt sich als „kurzer Anhang zum ,Maoismus‘“ mit den Leistungen von Mao und seinen Anhängern in anderen Staaten. Speziell geht es um die Attraktivität des Maoismus für die westeuropäische Linke.

Teil 2 beginnt mit Kapitel 1: „Die ‚neue Linie‘ ist ein neues System“. Es erläutert den Übergang zu dem neuen Prinzip des Wirtschaftens, das Deng mit der Parole „Bereichert euch!“ in das bislang sozialistische Land einführte. Kapitel 2 befasst sich mit der Rücknahme der Kollektivierung der Landwirtschaft (Abschaffung der „Volkskommunen“) und erläutert die jeweiligen Bedingungen sowie die Folgen für Nahrungsmittelproduktion und -sicherheit, für die natürlichen Ressourcen und die Bauern.

Kapitel 3 ist von zentraler Bedeutung für die Erklärung des historischen Ausnahmefalls China: Auslandskapital wird zum Entwicklungshelfer für die Empfängernation. Kapitel 4 erklärt die Übertragung Rendite-orientierten Wirtschaftens auf die gesamte chinesische Wirtschaft: Privatisierung der Staatsbetriebe und Entstehung privater Unternehmen „neben dem Plan“.

Kapitel 5: Chinas neue freie Lohnarbeiter gelten als die „Werkbank der Welt“. Es geht um die Frage, was das für sie heißt und welche Konsequenzen das für die „globale Arbeitsbevölkerung“ hat. Kapitel 6 fokussiert auf Banken und Börsen und erläutert die neue Bedeutung von Kredit, Spekulation und Immobilienwirtschaft in der Volksrepublik.

Kapitel 7 beschäftigt sich folgerichtig mit Chinas neu entstehender Kapitalistenklasse. Kapitel 8 thematisiert die Widersprüche, die Dengs „kapitalistisches Experiment“ bis 1989 zustande gebracht hatte und die mit der Niederschlagung der Studentenbewegung und illegal gegründeter Gewerkschaften beantwortet wurden.

Kapitel 9 beansprucht, eine Erklärung des heutigen politischen Systems in China zu liefern, das im Negativ-Vergleich mit dem demokratischem Procedere oft schnell als „autoritär“ geächtet wird. Nachdem zunächst ein kurzer Exkurs „Demokratie und bürgerliche Staatsgewalt“ als Herrschaftsmodell thematisiert, werden das Verhältnis von Staat und Kommunistischer Partei (die auf ihrem „Führungsanspruch“ beharrt) sowie die Themen Rechtsstaatlichkeit, die Organisation des politischen Systems, das politische Bewusstsein und die Nationalitätenfrage in der Volksrepublik behandelt.

Kapitel 10 widmet sich Chinas außenpolitischen Aktivitäten seit der Einführung kapitalistischen Wirtschaftens und fokussiert dabei auf den zentralen Gegensatz zwischen den USA als der existierenden Weltmacht und der Herausforderung, die der ökonomische und politische Aufstieg der Volksrepublik für den Westen darstellen. Kapitel 11 setzt sich mit China-Büchern deutschsprachiger linker Autoren auseinander (Stand bis 2009).

Diskussion

Das Buch von Dillmann gilt inzwischen als eine Art Klassiker linker China-Literatur, was auch die mehrfachen Neuauflagen und die durch das Buch angeregten Kontroversen verdeutlichen. Es vereint eine umfassende historische Darstellung des neueren China seit den Opiumkriegen mit einer begrifflich scharfen Analyse – die sowohl die sozialistische Phase des Landes wie die heutige kapitalistische Realität ohne Voreingenommenheit ins Visier nimmt. Den Zusammenhang zwischen der früher praktizierten Sozialismusvariante und dem inzwischen herrschenden Kapitalismus mit seinen staatsinterventionistischen Momenten und ideologischen Eigenheiten siedelt die Autorin in der nationalen Ausrichtung der chinesischen Kommunistischen Partei an, mit der sich das Buch intensiv auseinandersetzt. Ein wichtiges wissenschaftliches Verdienst dieser Landeskunde liegt gerade in der Befassung mit dem grundsätzlichen Verhältnis von Sozialismus/​Kommunismus und Nation/​Nationalismus, das oft als selbstverständlicher Bestandteil des antikolonialen Befreiungskampfes abgehakt wird. Ausgehend von Fragen, die die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung betreffen, kommt Dillmanns Analyse zu dem Ergebnis, dass in dem Kampf um nationale Unabhängigkeit der entscheidende Erklärungsschlüssel für Maos Politik zu finden ist. Antikapitalismus – etwa im Sinne von Marx, der nach wie vor der KPCh als Berufungsinstanz dient – war das Programm demnach nicht. Erst wenn man sich dieses nationalistische (Selbst-)Missverständnis klar macht, so der Nachweis der Autorin, kommt man den scheinbar rätselhaften Wendungen und Entgleisungen der VR China bis hin zur Abkehr vom Sozialismus auf die Spur.

Die Mao-Zeit wird dabei weder verdammt noch romantisiert, sondern als sozialistisches Projekt eigener Machart auf den Prüfstand gestellt. Dillmann erliegt auch nicht der Versuchung (wie einige andere Autoren aus dem links-alternativen Lager), in der heutigen Volksrepublik mit ihrem ökonomischen Erfolg und rasanten Aufstieg so etwas wie eine „Perspektive“ mit dem Angebot einer besseren, weil „multipolaren“ Weltordnung zu sehen – davor bewahrt sie ihr unbestechlicher antikapitalistischer wie staatskritischer Blick.

Fazit

Das Buch ist eine kompakte Kombination von historischer Darstellung und politisch-ökonomischer Analyse des welthistorischen Sonderfalls China. Dass ein Entwicklungsland zur Großmacht aufsteigt, die im Westen, speziell in den USA, mittlerweile als die ultimative systemische Herausforderung gilt, wird in einer analytisch überzeugenden Weise in den Blick genommen und in einer gut lesbaren Form sowie klaren Anordnung des umfangreichen Materials präsentiert. Dabei hält sich das Buch von Idealisierung wie Dämonisierung der fernöstlichen Macht fern, thematisiert aber solche Bezugnahmen auf den chinesischen Kurs, wie man sie im Westen und in der Dritten Welt seit den Zeiten des Maoismus antrifft und wie sie dem westlichen Publikum heutzutage vor allem mit einem Feindbild China präsentiert werden.

Rezension von
Johannes Schillo
Mailformular

Es gibt 10 Rezensionen von Johannes Schillo.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 23.03.2023 zu: Renate Dillmann: China. Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft, den Aufstieg einer neuen Großmacht. Verlag Die Buchmacherei () 2021. ISBN 978-3-9822036-7-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30338.php, Datum des Zugriffs 26.09.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht