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Anne-Laure Garcia: Geschlechterordnung zwischen Wandel und Permanenz

Rezensiert von Prof. Dr. Jana Günther, 25.08.2023

Cover Anne-Laure Garcia: Geschlechterordnung zwischen Wandel und Permanenz ISBN 978-3-7799-6800-9

Anne-Laure Garcia: Geschlechterordnung zwischen Wandel und Permanenz. Symbolische Tiefenstrukturen in Erzählungen männlicher Ärzte. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 281 Seiten. ISBN 978-3-7799-6800-9. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.

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Thema

Die soziologische Studie von Anne-Laure Garcia wirft einen dezidiert soziologischen Blick auf die Gleichzeitigkeit von Wandel und Stabilität in der Geschlechterordnung. Ihr Forschungsgegenstand sind dabei „symbolische Tiefenstrukturen“ in Narrativen von Ärzten der Humanmedizin. In den Gender Studies werden einerseits in aktuellen Studien Veränderungen hinsichtlich (zwei)geschlechtlicher Ordnungen nachgewiesen. Anderseits legen andere Untersuchungen nahe, dass trotz einer Pluralisierung von Männlichkeit eine Permanenz der Geschlechterordnung nachweisbar ist. Die Autorin betrachtet diese widersprüchlichen Erkenntnisse auf der Folie von Gleichzeitigkeit „als Ergebnis von Spielräumen innerhalb symbolischer Tiefenstrukturen“ (S. 9) und beweist mit ihrer empirischen Studie, dass Wandel und Permanenz eine Dimension bilden, welche Spielräume ermöglicht, aber auch Ordnungen in anderer Form wiederherstellt oder verfestigt.

Herausgeberin

Anne-Laure Garcia, PD Dr. habil. rer. pol., Soziologin, ist als Vertretungsprofessorin für Mikrosoziologie an der Technischen Universität Dresden tätig. Ihre Schwerpunkte liegen u.a. in der Geschlechter- und Familiensoziologie. Sie beschäftigt sich außerdem mit Auswertungstechniken der strukturalen Semiotik und versucht, diese für die Sozialwissenschaften nutzbar zu machen.

Aufbau und Inhalt

Die Studie unterteilt sich in sechs Kapitel. Beginnend mit einer fundierten Einleitung (Kapitel 1) führt Garcia in ihr Thema sowie die Herangehensweise ihrer Forschung ein. Die Entwicklung und Praktizierung der Heilkunde in westlichen Gesellschaften, die insbesondere durch das „christliche Gebot der Barmherzigkeit“ (S. 10) in Klöstern von Mönchen und Nonnen oder ganz unterschiedlichen Berufsgruppen mit mannigfachen Erfahrungen ausgeführt wurde, veränderte sich im 18. Jahrhundert zugunsten einer patriarchalen Ordnung. Diese forcierte das „Idealbild der bürgerlichen Kleinfamilie“ (S. 11), die Trennung der produktiven und reproduktiven Sphäre sowie eine Verwissenschaftlichung der sich in einer binären Ordnung gegenüberstehenden ‚Geschlechtercharaktere‘ (ebd.). Diese Entwicklungen bewirkten auch den Ausschluss bzw. eine Schlechterstellung von Frauen im Bereich der Medizin. Garcia erläutert, dass der „human-, sozial- und naturwissenschaftliche Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts“ ein Geschlechterverhältnis legitimierte, welches ‚das Männliche‘ mit der Vernunft und Rationalität verband (S. 13) und ‚das Weibliche‘ entsprechende mit Gefühl und Sorge. In seiner binären Komplementarität schrieben sich diese Zuweisungen auch in den untersuchten Berufsfeldern fort: erstens im Verhältnis Arzt-Krankenschwester (S. 14) und im Ärzt:innenbereich als fachliche sowie hierarchische Segregation (S. 17).

Einer soziologischen Studie angemessen, entfaltet die Autorin in Kapitel 2 das Themenspektrum Männlichkeit(en) und Arbeit (S. 21ff). Hier widmet sich Garcia einer kritischen Gegenlese der Klassiker wie Ferdinand Tönnies (S. 22ff), Émile Durkheim (S. 26ff) und Georg Simmel (S. 33ff) und kondensiert deren soziologische Betrachtungsweisen zum Thema Geschlecht – bei allen dreien freilich in der binären Logik jener Zeit – Beruflichkeit und Arbeitsteilung. Weiterhin referiert die Forscherin über die innerhalb der Geschlechter- und Arbeitssoziologie entwickelten Ansätze, die sich aus dem symbolischen Interaktionismus, dem Strukturfunktionalismus oder/und sozial-konstruktivistischen Theorieansätzen entwickelt haben. Hier gelingt es Anne-Laure Garcia, ihr eigentliches Thema – das Arbeitsfeld der Ärzt:innen – nicht aus den Augen zu verlieren und Theorieexegese und Forschungsstand zum Berufsfeld sinnvoll zu verbinden (S. 42f, S. 48, S. 52, S. 57 usw.). Des Weiteren führt ein drittes Unterkapitel Erkenntnisse der Men’s Studies und der Arbeitssoziologie zusammen, um die enge Verwobenheit von Erwerbsarbeitsstatus und hegemonialer Männlichkeitskonstruktion darzustellen.

Im 3. Kapitel wird der eigentliche Forschungsstand zum Thema „[m]ännliche Ärzte“ (S. 81) offengelegt. Garcia bedient sich hierbei sozialhistorischer, soziologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektivierungen. Historisch herrschte in der Ärzteschaft um 1900 eine starke Distinktion (S. 83). Der Ausschluss von Frauen aus der Medizin wurde intellektuell wie auch körperlich begründet (S. 85), wenngleich für bestimmte Fachbereiche (z.B. Frauenheilkunde) Ärztinnen als kompetent – allerdings nur in der binären Logik der vermeintlichen Geschlechtercharaktere – angesehen wurden (S. 86f). Die moderne Entwicklung des Berufsfeldes arbeitet Garcia anhand von Statistiken (S. 93ff) und Sekundärstudien heraus. Der Anteil der Ärztinnen hat selbstredend stark zugenommen, es zeigt sich aber innerhalb des Berufsfeldes eine starke „geschlechtliche Arbeitsteilung“ (S. 96), die auf spezifische Art und Weise weiterwirkt, obwohl mehr Frauen im medizinischen Bereich anzutreffen sind. Garcia macht entsprechend zwei Säulen der Geschlechtshierarchisierungen aus: „Das vermeintlich universalistische Ideal der Meritokratie und der Glaube an die Biologisierung der Geschlechter“ (S. 104).

Diffizil und nachvollziehbar erörtert die Forscherin im Kapitel 4, wie symbolische Tiefenstrukturen methodisch aus den problemzentrierten Interviews herausgearbeitet wurden. Garcia entschied sich für eine strukturale Interviewanalyse (S. 123). Im Gegensatz zu Prämissen der objektiven Hermeneutik, hebt ihre Analyseform die Sequenzilität des Transkripts auf, um nicht-manifeste Vorstellungsstrukturen offenzulegen (S. 124): wie in einem Puzzle. Alle Transkriptionen werden in ihren Segmenten in Funktionen (fonctions), Handlungen (actions) und Narrationen (unités narratives) eingeteilt (S. 125f). Nach den induktiven Arbeitsschritten von Codieren und Recodieren wurden im Weiteren beweisführend analysiert (S. 128) und spezifische Disjunktionen herausgearbeitet. Die anspruchsvolle und trotz allem klar erörterte Methodologie – und das ist eine Stärke des Kapitels – wird anhand eines praktischen Beispiels (S. 132ff) nachvollzogen.

Das Herzstück der Arbeit stellt Kapitel 5 mit den herausgearbeiteten Befunden dar, von denen hier nur exemplarisch einige vorgestellt werden können: Die Vorstellung von „taffen“ (jungen) Frauen in der Medizin existiert und diese werden den ‚mütterlichen‘ Frauen und den ‚Mäuschen‘ gegenübergestellt (S. 152ff). Die ‚taffen Frauen‘ gelten im bourdieuschen Sinne solange als Wettbewerbsmitspielerinnen, bis sie in ihren „Dreißigern zu ‚normalen‘ Frauen“, wenn sie Kinder bekommen, werden (S. 154). Anschließend an dieses Motiv stellt Garcia fest, dass sich bei Ärzten die vergeschlechtlichten Vorstellungen von Elternschaft überwiegend reproduzieren. So stehen Ärztinnen im gebärfähigen Alter unter „dem ständigen Verdacht“ (S. 159), ausfallen zu können. Die Idee aktiver Vaterschaft und männlicher Elternzeit findet sich zwar unter den Interviewten, aber in den prestigeträchtigen Fachbereichen wird dies „als große Gefahr für den weiteren Karriereverlauf“ wahrgenommen (S. 160f). Durchaus aufschlussreich sind auch die Ergebnisse Garcias zum komplexen Hierarchiegefüge zwischen Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen (S. 172ff). Pflege wird, obwohl sich in dem Feld ebenfalls Männer bewegen, immer noch weiblich codiert (S. 183). Pfleger werden im Gegensatz zu den ‚Schwestern‘ eher als aktive ‚Player‘ wahrgenommen, die sich über das Berufsfeld der Krankenpflege professionalisieren und später in andere geschlechtlich ‚adäquatere‘ berufliche Bereiche aufsteigen (S. 184). Neben weiteren dichotomen Hierarchisierungen arbeitete Garcia auch mehr oder weniger versteckte vergeschlechtlichte ärztliche Idealtypen heraus: den Superhelden (S. 202ff), den Wissenschaftler (S. 206ff), den barmherzigen Menschen (S. 210ff) und den Doppelbegabten (S. 215ff).

Insgesamt stellt die Autorin fest, dass sich auf der Grundlage der Auswertungen gewisse Spielräume für Wandel nachweisen lassen, die auch mit Veränderungen auf der Meso- und Makroebene zu tun haben (S. 222). Diese Veränderungen müssen aber nicht zwangsläufig mit „Verschiebungen oder Erneuerungen auf der Ebene der symbolischen Tiefenstrukturen einhergehen“ (S. 223). Dieses ambivalente Ergebnis stützt die These vom „Wandel in der Permanenz“, so wird dies auch im Fazit (Kapitel 6) noch einmal kondensiert erläutert. Besonders hartnäckig halten sich Muster der vergeschlechtlichten Naturalisierung bezüglich der fach- und hierarchiespezifischen Segregationen im Ärzt:innenberuf. Innerhalb der Ärzteschaft gibt es also nach wie vor eine tief verwurzelte Idee der Geschlechterdichotomie, die aber trotz persistenter Naturalisierungslogiken gewisse „Spielräume für Variationen“ hervorbringen kann (S. 228).

Diskussion

Die Studie zu symbolischen Tiefenstrukturen in Erzählungen männlicher Ärzte beweist nachdrücklich die Persistenz bestimmter vergeschlechtlichter Vorstellungen in einem immer noch sehr mit Sozialprestige ausgestattetem Berufsfeld. Die von Ein- und Ausschluss geprägte Entwicklungsgeschichte medizinischer Berufe flankiert den roten Faden der Arbeit, ohne diesen zu dominieren. Anzurechnen sei Garcia, dass sie nicht die in der bundesdeutschen Sozialwissenschaft üblichen blinden Flecken hervorbringt: Sie beschreibt Ursache und Wirkung sowie Unterschiede in der Professionsentwicklung Deutschlands, ohne dabei die bildungs-, geschlechts- und professionsspezifischen Entwicklungen der DDR zu vergessen (u.a. S. 16, S. 94, S. 121, S. 139, S. 251). Die theoretisch-soziologische Fundierung sowie die Methodologie werden insgesamt überzeugend und nachvollziehbar erläutert. Wobei an dieser Stelle im Besonderen die Ausführlichkeit des Methodenteils (Kapitel 4) zu erwähnen sei. Die Anwendung und die Erkenntnisse aus der praktischen Umsetzung dieser Erhebungs- und Auswertungsmethode sowie die Innovation dieser aus dem französischen Sprachraum stammenden Ansätze, sollten auch für weitere Forschungsprojekte in den Sozial- und Erziehungswissenschaften fruchtbar gemacht werden.

Die Studie von Anne-Laure Garcia bietet für die Arbeits- und Geschlechtersoziologie, nicht zuletzt auch für die Professionssoziologie, wichtige Forschungserkenntnisse. Insgesamt sind die Kapitel so abgerundet konzipiert, dass jedes für sich stehen kann. Das macht die Studie nicht nur für die Soziologie important, sie kann und sollte gleichermaßen in der Lehre (beispielsweise in Master-Studiengängen) genutzt werden. Für das Berufsfeld der Gleichstellungspolitik und des Diversity-Managements in der Medizin liefert die Publikation zudem Einblicke in Sinnzusammenhänge und Tiefenstrukturen, die ‚auf den ersten Blick‘ schwer erfassbar und daher bei der Etablierung bestimmter Maßnahmenkataloge kaum eine Rolle gespielt haben dürften. Auch auf der praktischen Ebene von Gleichstellung und Inklusion kann diese Studie daher wichtige und innovative Impulse liefern, um gleichstellungspolitische Steuerungselemente geeignet zu reflektieren.

Fazit

Die Ergebnisse der Studie sind detailliert und nachvollziehbar beschrieben, das Interviewmaterial und die Analyse sind reichhaltig erörtert und hervorragend zu lesen. Zwar ist es nicht die Aufgabe wissenschaftlicher Studien unterhaltend und spannend zu sein, doch gerade die Auswertung gibt interessante Einblicke in die Profession, die die Leser:innenschaft – nicht zuletzt durch einen gelungenen Schreibstil – bei der Stange halten und auch für Fachleute anderer Wissenschaftsbereiche interessant sein wird.

Rezension von
Prof. Dr. Jana Günther
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Zitiervorschlag
Jana Günther. Rezension vom 25.08.2023 zu: Anne-Laure Garcia: Geschlechterordnung zwischen Wandel und Permanenz. Symbolische Tiefenstrukturen in Erzählungen männlicher Ärzte. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6800-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30347.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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