Heinz Klippert: Die gelähmte Bildungsrepublik
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Beywl, 29.12.2023

Heinz Klippert: Die gelähmte Bildungsrepublik. Plädoyer für eine veränderte Reformpolitik. Mit E-Book inside. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 272 Seiten. ISBN 978-3-407-83226-9. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Thema
Ausgangspunkt ist die konstatierte hohe Reformbedürftigkeit des deutschen Schulwesens. Es geht um eine kritische Analyse der Bildungsreformen der letzten sechzig Jahre. Erklärt werden soll deren begrenzter Erfolg. Dieser wird festgemacht an im internationalen Vergleich weiterhin nicht befriedigenden Lernleistungen und einer sich weiter zuspitzenden sozioökonomischen Bildungschancen-Ungleichheit. Mit Schwerpunkt bei einer unterrichtszentrierten Schulentwicklung und passgenauer Unterstützung für Lehrkräfte werden Anforderungen an die aktuelle Bildungspolitik formuliert.
Autor
Klippert war nach seiner Junglehrerzeit in den 1970er Jahren, u.a. als Aus- und Weiterbildner in der Lehrkräftebildung, langjährig als Schulentwickler für verschiedene Bundesländer – u.a. im NRW-Reformprojekt Schule & Co. – tätig. Er versteht sich auch als Bildungspolitik-Berater. Mit allein 166 im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek nachgewiesenen Büchern – darunter zahlreiche Neuausgaben – zählt sein Werk zu den auflagenstärksten der pädagogischen Fachliteratur. Meist handelt es sich um fachübergreifende oder fachspezifische, unmittelbar auf die Unterrichtspraxis bezogene Publikationen. Zentral behandelt er das „Methodentraining“ für Schülerinnen und Schüler (zu Vermittlung von Lernstrategien). Seine hierauf fokussierten Bücher und Trainings treffen bei vielen Lehrkräften auf großes Interesse. Hingegen werden sie durch die Bildungswissenschaft meist negativ bewertet. Belastbare Evaluationen seiner Programme liegen nicht vor.
Entstehungshintergrund
Analysen und Empfehlungen des Buches basieren auf der jahrzehntelangen Erfahrung des Autors in der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Wesentliche Quellen sind der Fachaustausch mit hunderten Lehrkräften, Lehrkräfte-Fortbildenden, Reformverantwortlichen aus den Bundesländern usw. Für die Problembeschreibung nutzt Klippert Literatur, darunter Jahresberichte der Externen Schulevaluation verschiedener Bundesländer.
Inhalt
Im Vorwort nennt Klippert seine Intention: „Schulische Reformprozesse müssen deutlich alltagstauglicher, systematischer, verbindlicher und motivierender angelegt und so institutionalisiert werden, dass sich auf Lehrer- wie Schulleiterseite innovative Handlungsstrategien ausbilden können.“ (S. 11)
In der Einleitung hebt er – in Fortführung seiner in vorangegangenen Büchern erfolgten Konzentration auf die Unterrichtspraxis – das „alltagstaugliche Repertoire für einen innovativen Unterricht“ hervor, mit „innovativen Handlungsroutinen und Umsetzungshilfen“ (S. 16).
Kapitel 1 Warum Deutschland Bildungsreformen braucht erörtert die zu meisternden Herausforderungen in je einem Unterkapitel:
- bildungsökonomische Erfordernis, Jugendliche auf die Berufs- und Arbeitswelt vorzubereiten, mit Fokus auf „innovationsstärkende Kernkompetenzen wie Selbstständigkeit, Eigeninitiative, Teamfähigkeit und Problemlösungskompetenz“
- ausgeprägte Chancenungleichheit
- bei vielen zu geringe fachliche und überfachliche Kompetenzen
- Nachholbedarf beim digitalen Lernen
- Anstrengungsvermeidung und andere motivationale Probleme, einhergehend mit fortschreitender gesellschaftlicher Individualisierung
- zu wenig gemeinsames Lernen angesichts zunehmender Inklusionserfordernisse
- starke Überlastung vieler Lehrkräfte
- Fehlen lernwirksamer und dabei zeitsparender pädagogischer Alltagsroutinen
- wenig Schulkultur, in der „vor allem die Schüler/innen arbeiten und interagieren, planen und entscheiden, experimentieren und debattieren, organisieren und Probleme lösen, evaluieren und Feedback geben etc.“ (S. 49)
- fehlende Nachhaltigkeit bisheriger Bildungsreformen, die oft mit ihren Modellversuchen ausliefen, zudem oft an Bedarfen der schulischen Fachleute vorbeigingen
Kapitel 2 Zur Reformhistorie der letzten Jahrzehnte zeichnet mit 16 Unterkapiteln ein verdichtetes Bild der in diesem Zeitraum erfolgten bildungspolitischen Initiativen. Beginnend bei Pichts Bildungskatastrophe von Anfang der 1960er Jahre werden in wesentlich chronologischer Folge dargestellt: Strukturreformen (gymnasiale Oberstufe, verlängerte Schulpflicht); Curriculum-Reformen der 1970er Jahre mit ihren Lernziel-Taxonomien bei Umstellung der Lehrkräfteausbildung (Zweiphasigkeit); parallel und teils verzahnt damit die Einführung integrierter Gesamtschulen als „Hoffnungsträger“; schulische Modellversuche (unter anderem Leuchtturm-Schulen und Deutscher Schulpreis); verstärkte Selbstständigkeit/​Teilautonomie von Schulen, verbunden mit der Verpflichtung auf Schulprogrammarbeit und externe Schulevaluation; Überlagerung zukunftsgerechter Prinzipien des Lehrens und Lernens in der Schule durch „unverfängliche pädagogisch-erzieherische Schwerpunktsetzungen“ (S. 89); PISA-Studien seit Beginn der 2000er Jahre mit einem „bemerkenswerten“ Lernbegriff, der auch Fähigkeiten zum Problemlösen und anspruchsvolle extrafunktionale Kompetenzen wie Ausdauer und Konzentration einschließt – sowie „Aufgabenkultur“; Bildungsstandards und Bildungspläne zur genaueren Beschreibung und damit auch Evaluierbarkeit intendierter Kompetenzen in den verschiedenen Fachbereichen. Letztere fungierten einerseits als „wichtige Umsetzungshilfen für die Lehrkräfte und Schulleitungen“ (S. 98), andererseits sei ihr „Abstraktionsgrad“ oft so hoch, dass sie Lehrpersonen überforderten. Weiter: Ausbau der Früh- und Ganztagsförderung; Auflösung der Hauptschulen, teils jedoch lediglich „wohlklingende Um-Etikettierungen“; (letztlich weitgehend gescheiterte) Verkürzung der gymnasialen Bildungszeit (G8); (zumindest teilweise gelungene) Ausbreitung inklusiver Schulen; schließlich der 2019 gestartete „Digitalpakt“, mit seinen gleichwohl „bürokratischen Beantragungsprozessen“ (S. 119).
Das Fazit im 17. Unterkapitel fällt überwiegend skeptisch aus:
- Das gegliederte Schulwesen hat sich nur marginal geändert.
- Nach wie vor dominiert lehrer- und stoffzentrierter Unterricht.
- Schul-/​Klassenraumgestaltung/​Lernumgebungen sind oft suboptimal.
Insbesondere habe keine tiefgreifende Unterrichtsentwicklung stattgefunden.
Kapitel 3. Einige Gründe für das Scheitern von Reformen will erklären, wie es zu dieser unbefriedigenden Situation kommt. Genannt werden schlagwortartig u.a. Unübersichtlichkeit, fehlender kultureller Wandel, ständestaatliches Denken, Föderalismus, Sprunghaftigkeit, Fassadenhaftigkeit, Bürokratisierung und Unterfinanzierung, Tücken des Beamtenstatus, sowie „innovationsferne Pädagogen-Ausbildung“ und „Abstraktismus der Reformdesigner“.
Kapitel 4. Was nachhaltige Schulentwicklung begünstigt, greift auf Konzepte und Modelle zurück, die Klippert in seinen anderen Publikationen vertieft dargestellt hat. Er identifiziert als „Quelle von Nachhaltigkeit […] die planvolle Institutionalisierung innovativer Handlungsweisen, Aktionsketten und Zuständigkeiten der Einzelschule“. (S. 163) Gefordert sind Verbindlichkeit, Sanktionsregelungen und Evaluationsabsprachen. Recht allgemein thematisieren die nachfolgenden zwölf Unterkapitel: stimmige Rahmenbedingungen, Machbarkeit und Nützlichkeit, kräftiges Unterstützungssystem mit „speziell geschulten Innovationsexperten“ (S. 177), Innovationsmanagement mit Netzplänen, Qualifizierungsoffensive mit Lehrerentlastung und -kooperation sowie passende Anreizsysteme und erforderliche Sachressourcen. Kernpunkte, die sich auch durch die anderen Kapitel ziehen, sind die „Unterrichtsentwicklung als Basisstrategie“ (Kap. 4.4) und der „Aufbau neuer Routinen“ (Kap. 4.13) auf Seiten der Lehrkräfte.
Kapitel 5. Konsequenzen für die aktuelle Bildungspolitik appelliert zum einen: weniger Symbolpolitik; Konsolidierung mit Unterrichtsentwicklung im Zentrum statt immer wieder kurzlebige Reformen; mehr Geldmittel; innovationsfreudige Lehrkräfte- und Schulleitungs(aus)bildung, veränderte Aufgaben für die Schulaufsicht, mehr Bundeskompetenzen usw. Zum anderen werden ein „Institut für Reformplanung“ sowie die „Qualifizierung versicherter Innovationshelfer“ vorgeschlagen. Schließlich werden lang im Raum stehende Forderungen bekräftigt: mehr integrierte Gesamtschulen, Ganztagsschulangebote sowie kommunale Bildungsnetzwerke; Einstellung weiterer Lehr- und Förderkräfte sowie verbesserte Lehrkräfterekrutierung; mehr Selbstständigkeit für die Einzelschule. Auch lasse sich vom Ausland viel lernen (Kap. 5.16).
Diskussion
Wiederkehrende Themen in diesem Buch sind die Lehrerkooperation und die Teamarbeit, das gemeinsame Lernen und die Schüleraktivierung, alles mit Perspektive auf Selbstwirksamkeit und auf die eigene Anstrengung rückführbare Gewinne. Dies wird für Lehrende genauso wie für Lernende geltend gemacht. Schule und Unterricht und darauf gerichtete Reformprozesse müssten alltagstauglich sein. Dafür sei professionelle Routine der Unterrichtenden zentral. Bildungspolitik solle sich auf die eigentliche Unterrichtsarbeit konzentrieren und diese mit allen verfügbaren Mitteln entwickeln helfen. Ein Schlüssel hierfür sei das „Lehrertraining“, gerade auch im Verlauf der Berufstätigkeit, als Erfahrungslernen, als Lernen im Prozess der Arbeit. Klippert weist dabei auch immer auf die Zeitknappheit der Lehrpersonen und ihre oft hohe Belastung hin. Daher gehe es um direkt nützliche Unterstützungsmaßnahmen und schnelle Gewinne.
Vielfach kritisiert Klippert die Praxisferne von Reformen mit deutlichen Worten, zum Beispiel „über Gebühr hochtrabende didaktische, curriculare und erziehungswissenschaftliche Grundsatzdebatten“ in der Lehrerbildung (S. 65), „Innovationsferne“, „intellektuelle Hochakrobatik“ namentlich bei vielen Bildungsforschenden oder Instituten für Bildungsqualität. Nicht zimperlich spricht er von „Blendwerk“, „Sprunghaftigkeit“ und „Mogelpackungen“.
Dass seine strukturellen Reformvorschläge, etwa die „Innovationshelfer“ oder das „Institut für Bildungsreformen“, schließlich mehr im Sinne einer unterrichtsintegrierten Schulentwicklung funktionieren würden, ist fraglich: Wie gewährleistet werden soll, dass sie auf Dauer praxisnäher arbeiten würden und eben nicht organisationale Eigenlogiken entwickeln, wie dies, die die bisherigen Institute und Forschungseinrichtungen tun – darauf bleibt der Autor Antworten schuldig.
Historisch und institutionell spannt Klippert einen weiten Bogen auf. Die Texte sind gut lesbar und aufgrund der feinen Gliederung (70 Unterkapitel) sind Themen leicht aufzufinden. Der Großteil (70 %) der 185 Literaturquellen stammt aus den Jahren 2015 und früher. Neuere Forschung ist lediglich punktuell verarbeitet: Manche zentralen Befunde stützen sich auf wenig einschlägige bzw. alte Literatur. Z.B. wird für dysfunktionale Routinen oder halbherzige Implementationen auf öffentlich nicht zugängliche verwaltungsinterne Dokumente verwiesen (AQS 2009; Nieder u.a. 2011). Wer das Buch von vorne bis hinten liest, wird merken, dass Manches mehrfach, teilweise wortgleich, präsentiert wird. Oder auch, dass die Wörter „innovativ“, „Innovation“ usw. – oft ohne nähere Bestimmung – an die 500 Mal vorkommen.
Diese kritischen Punkte leisten der verbreiteten akademischen Kritik an Klipperts Publikationen Vorschub. Seitens Bildungsforschenden sind andererseits kaum Anstrengungen bekannt, die in zahlreichen Schulen mit oft ausdrücklichem Bezug auf Klippert nachhaltig umgesetzten Unterrichtsprogramme kritisch und fair zu evaluieren. Sein Erfahrungswissen zu ignorieren ist keine Lösung. So stehen sich – zugespitzt – ein forschungsferner Pragmatismus und ein praxisabgehobener Szientismus fremdelnd gegenüber. Dabei gälte es die auf breitem Erfahrungswissen basierenden Elemente wirkfähiger Unterrichtspraxis zu integrieren – im Sinne von Megehee (2016): „Nichts ist theoretisch so nützlich wie eine gute Praxis.“
Fazit
Interessant dürfte das Buch für bildungspolitisch Aktive bzw. Interessierte sein, darüber hinaus für Einrichtungen der Lehrerbildung. Eine Stärke ist die eigensinnige Aufarbeitung von 60 Jahren Bildungsreformen in Deutschland. Diese nimmt – wie auch andere Kapitel – ein Stück stellvertretend die Perspektive vieler Schulen und Lehrkräfte ein. Der in vieler Hinsicht kritikwürdige Text eignet sich als für die bildungspolitische Meinungsbildung förderliches Komplement gegenüber Verlautbarungen hochrangiger bildungspolitischer Gremien und akademischer Expertenkommissionen.
Literaturangaben
AQS Rheinland-Pfalz: Schul- und Unterrichtsentwicklung in Rheinland-Pfalz. Ausgewählte Ergebnisse der externen Evaluation. Bad Kreuznach 2009.
Megehee, Carol M. (2016): „Flipping Lewin on his head: There is nothing as usefully theoretical as a good practice“. In: Journal of Business Research, Jg. 69, 11, S. 5124–5127.
Nieder, Tanja. u.a.: Ergebnisse der Schulinspektion in Hessen. Herausgegeben vom Institut für Qualitätsentwicklung. Wiesbaden 2011.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Beywl
Evaluationswissenschaftler, Seniorprofessor,
Fachhochschule Nordwestschweiz, Pädagogische Hochschule, Institut Weiterbildung und Beratung. Professur für Bildungsmanagement und Schulentwicklung – wissenschaftlicher Leiter Univation– Institut für Evaluation, Köln.
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