Gerd Rudolf: Dimensionen psychotherapeutischen Handelns
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 04.04.2023
Gerd Rudolf: Dimensionen psychotherapeutischen Handelns. Menschsein in Therapie und Philosophie. Schattauer (Stuttgart) 2023. 160 Seiten. ISBN 978-3-608-40153-0. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.
Thema
„Menschsein in Therapie und Philosophie“ ist dem Text als Motto vorangestellt.
Autor
Gerd Rudolf, Jg. 1939, ist der letzte prominente Vertreter der Schultz-Hencke Schule in der psychoanalytischen Tradition der sogenannten Neo-Analyse. Er wurde als leitender Oberarzt von Annemarie Dührssen 1980 Professor an der Freien Universität Berlin, 1989 Lehrstuhlinhaber und Direktor der 1950 von Alexander Mitscherlich gegründeten Psychosomatischen Klinik in Heidelberg (als Nachfolger von Walter Bräutigam). Wie sein erster psychotherapeutischer Lehrer ist Rudolf ein engagierter Vertreter der empirischen Forschung und hat hier zu bedeutenden Erfolgen in der psychodynamischen Psychotherapie beigetragen (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD, Entwicklung der strukturbezogenen Psychotherapie, Etablierung der Wirksamkeitsforschung als Kriterium für die Krankenkassenfinanzierung der Psychotherapie). Er ist ein expliziter Gegner der Psychoanalytischen Identitätspolitik und lehnt Konzepte ab, die sich empirisch nicht ausreichend belegen lassen (z.B. projektive Identifizierung). Trotz dieser großen Erfolge hat Rudolf die zunehmende Dominanz der Verhaltenstherapie in seinem Feld nicht verhindern können.
Entstehungshintergrund
Ein Dialogangebot in umgekehrter Richtung im Verhältnis zum jüngst im selben Verlag erschienenen Buchs von Langner und Hain (2022, Psychoanalyse (griffbereit)): Hier präsentiert ein Therapeut und Wissenschaftler, der die 80 überschritten hat, das Fazit seiner klinischen und wissenschaftlichen Erfahrungen im Dialog mit einer jungen Psychologin, die im Begriff ist Psychotherapeutin zu werden. Er knüpft an seine psychotherapeutische Anthropologie „Wie Menschen sind“ an, schreibt aber sehr viel komprimierter zu Themen, die eigentlich Raum benötigen (Die Idee, junge Leute würden nicht mehr lesen, vor allem keine dicken Handbücher aus den Vorcomputer-Zeiten, scheint sich seiner bemächtigt zu haben). Autobiographische Passagen und Auszüge aus wissenschaftlichen Texten des Autors machen den Text zuweisen etwas sperrig; die philosophischen Reflexionen dürften mehr Raum beanspruchen.
Aufbau/​Inhalt
In einem „Biographischen Vorspiel“ beschreibt der Autor die Umstände seines Aufwachsens im 2. Weltkrieg, bis hin zum Entschluss Arzt zu werden und dem erst späteren Zusammentreffen mit dem saarländischem Psychiatriereformer Prof. Wolfgang Werner, der ihm half den Alltag zu meistern.
In den folgenden sechs Kapiteln beschreibt der Autor die Entwicklungslinien psychodynamischen Denkens und Handelns nach dem 2. Weltkrieg bis zur Gegenwart.
Wie die Psychotherapie sich als Disziplin zwischen Medizin, Psychologie und Philosophie entwickelt, und wie der Autor selbst Psychotherapeut wird, einschließlich einer Skizze über berufspolitische Auseinandersetzungen zwischen den psychoanalytischen Schulen und eher pragmatisch orientierten psychodynamischen Psychotherapeut:innen. Die Beziehungen zwischen biographischen Erfahrungen und Identitätsbildung.
R. gibt einen Überblick über die psychotherapeutischen Orientierungen im deutschen Sprachraum zwischen 1950 und heute, was durch eine Beschreibung thematischer Schwerpunkte bei den Lindauer Psychotherapiewochen von 1950–2000 erhärtet wird. Schließlich zeichnet R. den Weg der Psychotherapie von der Schulenbildung durch charismatische Lehrer zur wissenschaftlich begründeten Praxis nach.
Das diagnostische System OPD und seine therapeutischen Konsequenzen
Das zweite Kapitel verschiebt die mehr narrative Form zum wissenschaftlichen Diskurs um die Möglichkeit, psychodynamische Kategorien zu operationalisieren. Erstmals ist das einem großen Team von Wissenschaftlern gelungen (beteiligt waren viele psychosomatische Universitätskliniken in Deutschland, Österreich und der Schweiz, aber auch viele klinische Praktiker). Entstanden ist zunächst ein Manual zur psychodynamischen Diagnostik für Erwachsene; es folgten zahlreiche Publikationen zu Teilaspekten (Nachweis der Zitate im Buch) und später vergleichbare Manuale für die Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen sowie eine Revision (OPD II und OPD KJ II) der vorgelegten Werke in einer wesentlich weiterentwickelten Form, die auch einen empirisch belegten Pfad für die Ausrichtung der anschließenden Behandlungen einschließt. Neben den Texten der OPD- Arbeitsgruppe liefern Rudolf selbst und seine Heidelberger Gruppe in den folgenden Jahren ihre wissenschaftlichen Hauptwerke.
Inhaltlich erfasst OPD folgende Dimensionen (als Achsen bezeichnet):
- Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen,
- Beziehung,
- Konflikt (intrapsychisch und interpersonell)
- Struktur und
- psychische und psychosomatische Störungen
Auf 19 Seiten wird nun der praktische Umgang mit der OPD geschildert und 4. Prinzipien therapeutischen Handelns einer auf OPD-Prinzipien basierenden psychodynamischen Behandlung, wie sie für den gesamten Bereich der empirischen Forschung heute die Regel ist. Somit ist die psychodynamische Wissenschaft und Forschung 100 Jahre nach Freuds und Breuers psychoanalytischem Urtext „Studien über Hysterie“ nun erstmals in einem szientistischen Sinn empirisch basiert.
In 5. Aspekte der Psychosomatik folgt R. den zuvor beschriebenen Strategien, bezieht aber zusätzlich philosophische Reflexionen (z.B. Gadamer) zur Leib-Seele-Einheit mit ein und diskutiert seine Form, körperliche, psychische und soziale Einflüsse abzuwägen, was auch behandlungstechnische Konsequenzen nach sich zieht.
Der 6. Philosophische Hintergrund der Psychotherapie diskutiert Aspekte der Sinngebung des Lebens, naturgemäß eine Domäne existenzphilosophischer, ontologischer und phänomenologischer Forscher. All das kann im wesentlichen nur erwähnt werden, wobei Karl Jaspers Konzept der Achsenzeit eine etwas gründliche Reflexion erfährt.
7. Was den Menschen ausmacht: Versuch einer Synopsis. Unter den Überschriften „Der Mensch ist leiblich: der biologische Aspekt“; „Der Mensch ist intentional und emotional: der Aspekt der Beziehung“; „Der Mensch kann sich selbst zum Gegenstand seines Denkens nehmen: der Aspekt der Selbstreflexion“; „Der Mensch ist sozial und kommunikativ: Gemeinschaft und Geschichte“; „Der Mensch jenseits der Natur: der wissenschaftlich-technische Gesichtspunkt"; „Menschen strukturieren ihre Gemeinsamkeit: der politische Aspekt“; „Der Mensch vermag eine Welt der Kunst gestalten: der Aspekt des Kreativen“; diskutiert Gerd Rudolf die Konsequenzen für eine Psychotherapie in sozialer und ökologischer Verantwortung.
Auf den letzten Seiten porträtiert Rudolf, wie er seine geistig philosophischen Leitsterne sieht, jeweils in wenigen Schlagworten: Heinrich von Kleist, Karl Jaspers, Jean-Paul Sartre; Odo Marquard, Edmund Husserl und Helmuth Plessner.
Diskussion
Anders als man beim Blick auf sein streng empirisch angelegtes Lebenswerk denken würde, zeigt Gerd Rudolf sich in diesem Buch als sinnorientierter Therapeut: Nicht nur die in der Zusammenfassung genannten Philosophen säumen seinen Weg, auch Bloch, Boss, Cassierer, Bollnow, Descartes, v. Gebsattel, Kant werden zitiert. In der Tendenz handelt es sich bei Rudolfs Gewährsleuten um eher bürgerlich konservative Denker. Im Wesentlichen nicht einbezogen werden Akteure der Frankfurter Schule, die für die von Alexander Mitscherlich begründete kritische Theorie des Subjekts stehen (in Analogie der kritischen Theorie der Gesellschaft), bei den Soziologen und Philosophen Horkheimer, Adorno, Fromm, Marcuse, Habermas etc., bei den Psychoanalytikern neben den Mitscherlichs [1] selbst, auch H. E. Richter, H. Argelander und A. Lorenzer. Einige von ihnen [2] zählen zu den produktivsten Forschern in Gerd Rudolfs Tätigkeitsfeld und sind sogar durch biographische (Richter) oder institutionelle (Mitscherlich) Verbindungen mit ihm verbunden. Damit bleibt eines der herausragenden psychodynamischen Konzepte seiner Zeit unerwähnt und vielleicht auch unbeachtet. Das Ausblenden einer kritischen Perspektive auf die Gesellschaft der Bundesrepublik und vielleicht auch auf die psychotherapeutische Profession, wird nicht zuletzt auch im Verschweigen des Jahrzehnte andauernden Missbrauchsskandals an den psychoanalytischen Instituten in Heidelberg und Mannheim deutlich, die Gerd Rudolf aus nächster Nähe miterlebt hat. Was ich als blinden Fleck dieses großen Psychotherapieforschers erlebe, entwertet keinesfalls seine Leistungen (vgl. H. E. Richter 1976).
Fazit
Gerd Rudolfs aktuelles Werk Dimensionen psychotherapeutischen Handelns ist – wie immer bei ihm – gedankenreich und empirisch fundiert. Als echtes Defizit in diesem Werk sehe ich die Knappheit der Diskussion der herangezogenen philosophischen Quellen, auch der autobiographischen Schilderungen. Nichtdestotrotz: Zusammen mit neueren Forschungsansätzen, die den psychodynamischen Prozessen besser entsprechen als quantifizierende RCT-Studien und Ergebnisforschung (vgl. Buchholz & Kächele 2019) Storck et al (2020)), kann Gerd Rudolf als ein Hauptverdienst für sich beanspruchen, die Sackgasse in der psychodynamischen Forschung des späten 20. Jahrhunderts überwunden zu haben.
Literatur
Hermann Argelander (1971): Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Hermann Argelander (1970):Die szenische Funktion des Ichs und ihre Anteile an der Symptom- und Charakterbildung. In: Psyche 24, 1970, S. 325–345
Michael B. Buchholz und Horst Kächele (2019): Verirrungen in der bundesdeutschen Diskussion. Eine Polemik in Psychotherapeutenjournal 2/2019
Jürgen Habermas (1971): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt: Suhrkamp
Alexander Mitscherlich (1963): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München: Piper
Alexander und Margarete Mitscherlich (1967): Die Unfähigkeit zu trauern, München: Piper
Alfred Lorenzer (1974): Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Horst-Eberhard Richter (1976): Flüchten oder Standhalten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Timo Storck, Michel B. Buchholz, Reinhard Lindner und Horst Kächele (2020): Perspektiven der psychodynamischen Prozessforschung, in Forum der Psychoanalyse 36, S. 71–85, Berlin/​Heidleberg: Springer
[1] Bei Mitscherlich werden nur die klinischen Texte aus den Anfangsjahren seiner wissenschaftlichen Publizistik erwähnt, nicht die späteren sozialkritischen Arbeiten
[2] Hermann Argelanders szenisches Verstehen kann geradezu als das Gegenprogramm Gerd Rudolfs OPD verstanden werden
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 04.04.2023 zu:
Gerd Rudolf: Dimensionen psychotherapeutischen Handelns. Menschsein in Therapie und Philosophie. Schattauer
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-608-40153-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30363.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
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