Astrid Neuy-Bartmann: ADS. Erfolgreiche Strategien für Erwachsene und Kinder
Rezensiert von Dr. Alexander Tewes, 25.11.2008

Astrid Neuy-Bartmann: ADS. Erfolgreiche Strategien für Erwachsene und Kinder. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2007. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. 272 Seiten. ISBN 978-3-608-94103-6. 18,50 EUR. CH: 35,90 sFr.
Autorin
Dr. med. Astrid Neuy-Bartmann ist Fachärztin für Psychotherapie und betreibt eine Praxis mit Schwerpunkt ADS-Behandlung in Aschaffenburg. Sie ist selbst Betroffene und Mutter von fünf Kindern, von denen drei ein ADS haben.
Thema und Entstehungshintergrund
Zu dem stets kontrovers diskutierten Krankheitsbild ADS gibt es diverse Fachbücher und Ratgeber. Je nach Ausrichtung der Autoren sind diese wissenschaftlich, idealistisch, pädagogisch, als Ratgeber oder als Lehrbuch konzipiert. Dieses Buch deckt sämtliche Bereiche ab, legt seinen Schwerpunkt jedoch vor allem auf praktische Lebenshilfe für Betroffene und deren soziales Umfeld.
Aufbau
Das Buch besteht aus drei Teilen:
- Im ersten Teil werden Symptome, Ursachen und Behandlungskonzepte vorgestellt.
- Im zweiten Teil, "die täglichen Herausforderungen in den Griff bekommen", wird auf konkrete (Alltags-) Probleme und Möglichkeiten diesen zu begegnen, eingegangen.
- Im dritten Teil "ADS – nicht nur ein individuelles Problem: Auswirkungen auf Beziehungen und Gesellschaft" wird der im zweiten Teil des Buches an konkreten Beispielen angerissene Gedanke gesellschaftspolitisch zu Ende gedacht.
Des Weiteren umfasst das Buch eine kurze Einleitung inklusive Lesehinweis und einen 20seitigen Anhang mit Fragebögen, Checklisten und hilfreichen Adressen.
Teil 1: Symptome, Ursachen und Behandlungskonzepte
Im ersten Teil setzt sich die Autorin mit der immer wieder geäußerten Kritik, ADS sei eine Modediagnose, auseinander. Dem entgegnet sie (wie diverse andere Autoren zu diesem Thema auch zu Recht), dass es sich um ein seit vielen Jahren bekanntes Krankheitsbild handelt. So sei es beispielsweise bereits 1848 von dem Psychiater Heinrich Hoffmann in dessen Geschichten des Struwwelpeters beschrieben worden. Allerdings seien immer wieder Umbenennungen (Minimale Cerebrale Dysfunktion, HKS, ADS, etc.) erfolgt, so dass folgerichtig die aktuell noch gebräuchlichen Begrifflichkeiten von der Autorin kurz erläutert werden.
Anschließend hebt sie hervor wie wichtig es ist, ein ADS nur durch eine ausgebildete Fachkraft diagnostizieren zu lassen. Weiterhin gelte es zu beachten, dass nicht jedes ADS behandlungsedürftig sei. ADS stelle "nicht primär eine Störung dar, sondern eine Verhaltensvariante" (S. 25). In Anlehnung an Thom Hartmann (1997) beschreibt sie den Menschen mit ADS als Raubkatze, die, stets auf dem Sprung und reaktionsfähig, immer reizoffen sei. Demgegenüber wird der Mensch ohne ADS als "Bauer" beschrieben. Diesem Typus zueigen sei Beständigkeit, Sorgfalt, Wissen und Vorausschau. Nun habe sich vor allem die Umwelt, in der wir leben, verändert. Die Anforderungen der modernen industrialisierten Welt würden den Bauern bevorzugen und den Jäger überfordern.
Im weiteren Verlauf werden Definition und Kernsymptome des ADS, sowie die positiven Seiten "der ADS-ler" (S. 36) beschrieben. Auf eine umfassende Beschreibung des ADS in der lebenslangen Entwicklung (nein – ADS "wächst sich nicht aus") werden die Begleiterscheinungen (Störungsbilder) des ADS und die (neurologischen) Ursachen dargestellt.
Nach Beschreibung des Weges zur Diagnosestellung (wer diagnostiziert wie) wird dann die Behandlung erläutert. Hierbei geht die Autorin auf die relevanten Punkte
- Aufklärung,
- Selbstmanagement,
- Coaching,
- Psychotherapie (bei Kindern und Erwachsenen),
- Medikamentöse Stimulanzientherapie,
- sowie weiterführende Maßnahmen (Entspannungsverfahren, Sport, Ernährung, Naturheilmittel)
ausführlich und kritisch ein.
Teil 2: Die täglichen Herausforderungen in den Griff bekommen
In diesem zweiten Teil werden konkrete und leicht umsetzbare Anleitungen für Betroffene, Angehörige und das gesamte Umfeld gegeben, indem jedes Unterkapitel jeweils in die weiteren Unterkapitel nach folgendem Muster unterteilt wird:
- Problembeschreibung (z.B. Überaktivität, Unruhe und Nervosität - "Strategien für den Zappelphilipp")
- Was Sie selbst für sich tun können
- Was Sie als Partner tun können
- Was Sie als Eltern tun können
- Was Sie als Pädagoge tun können
- Ggf. abschließendes Fallbeispiel
Nach diesem übersichtlichen Schema werden nach und nach erschöpfend alle wichtigen Alltagsprobleme erarbeitet, die sich Betroffenen und deren Umfeld bieten können.
Teil 3: ADS – nicht nur ein individuelles Problem: Auswirkungen auf Beziehungen und Gesellschaft
Im abschließenden Teil bietet Astrid Neuy-Bartmann zunächst "10 Regeln für lebendige Beziehungen". Anschließend geht sie auf die spezielle Herausforderung ein, mit der sich Eltern und Lehrer von ADS-betroffenen Kindern und Jugendlichen konfrontiert sehen. Abschließend nimmt sie in soziologischer Manier Stellung – man dürfe sich den "Chancen und Konsequenzen" (S. 242 ff.) des ADS in der heutigen Gesellschaft nicht verschließen.
Diskussion
Zu dem kontrovers diskutierten Störungsbild ADS gibt es mittlerweile unzählige Fachbücher und Ratgeber, von denen einige bereits hier rezensiert wurden. Dennoch hat das Buch von Astrid Neuy-Bartmann durchaus seine individuellen Stärken und Schwächen, die es so lesenswert machen:
Im Vergleich zu vielen anderen eher problemorientierten (z.T. auch hier rezensierten) Büchern kommt dieses Buch wesentlich empathischer und ressourcenorientierter daher. Dies wird vor allem im ersten Teil des Buches deutlich: Diesen kennt man inhaltlich sicherlich aus ähnlicher Fachliteratur, jedoch in Sachen Einfühlungsvermögen sucht Astrid Neuy-Bartmann ihresgleichen. Wissenschaftlich orientierte und/oder therapeutisch Arbeitende werden allerdings kaum bedient; so bietet das Buch von Cordula Neuhaus (vgl. die Rezension) z.B. mehr und bessere Quellen und beispielhafte Testprofile, während das Buch von Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Bradl & Gerald Hüther (vgl. die Rezension), interdisziplinär ausgerichtet, keine Fragen offen lässt.
Wie bei all diesen Büchern, bleibt die Erläuterung der Ursachen des ADS immer noch unzufrieden stellend. Das ADS wird diffus als "eine Störung bzw. eine Normvariante [sic!] des Frontalhirns" (S. 74) beschrieben. Diese – fast schon hilflose – Umschreibung mach das aktuelle Dilemma deutlich: Trotz des eindeutigen Störungsbildes und des offensichtlichen medikamentösen Behandlungserfolges konnten bislang lediglich auffällige Aktivitätsmuster in den Handlungsplanungszentren des menschlichen Gehirns beobachtet werden. Ob diese jedoch Ursache oder Folge des auffälligen Verhaltens darstellen, konnte bislang immer noch nicht restlos geklärt werden. Wer hier auf den aktuellen Stand der neuropsychologischen Forschung gebracht werden möchte, dem sei der Artikel von Gerald Hüther im dem Buch, das er gemeinsam mit Marianne Leuzinger-Bohleber und Yvonne Bradl 2006 veröffentlicht hat (vgl. die Rezension) wärmstens ans Herz gelegt: Er macht deutlich, was man derzeit weiß, und was nicht.
Das Buch ist, vor allem im zweiten Teil, im Vergleich zu anderen vergleichbaren Werken praktischer für die lebensalltägliche Anwendung ge- und beschrieben. Dieser zweite Teil macht dann auch die Besonderheit dieses Buches aus: Es kann zwar von A bis Z gut durchgelesen werden, wer es jedoch gerne schnell will, liest nur Teil 1 und dann nach Bedarf quer. Liest man den zweiten Teil jedoch komplett, so erschließt sich einem ein umfassendes Bild der Lebensrealität Betroffener, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Nach welchen Kriterien die Schwerpunkte gesetzt wurden, wird jedoch nicht ganz ersichtlich. Das Buch hätte an dieser Stelle sicher kürzer oder auch doppelt so dick ausfallen können.
Der dritte Teil ist kurz, hat es jedoch in sich. Er wirkt teilweise wie ein Manifest – die Autorin hat offensichtlich ein intrinsisch motiviertes Anliegen! Hier tritt jedoch auch ein weiterer leichter Kritikpunkt zu Tage, der für das gesamte Buch gilt: Vieles, was hier explizit für "ADS-ler" empfohlen wird, hat durchaus auch Allgemeinwert (was diesen nicht mindern soll). So könnten die "10 Regeln für lebendige Beziehungen" – wieso eigentlich immer 10? –genauso gut für jede "normale" Beziehung gelten und grenzen meines Erachtens zum Teil schon fast an alltagspsychologische Weisheiten (z.B. "Regel VII: Ehrlich miteinander sein", S.219 ff.).
Zielgruppe
"Alles was Betroffene, Angehörige, Partner, Eltern, Freunde, und Pädagogen über ADS wissen wollen" – der Klappentext gibt die Zielgruppe vor. Diese wird erreicht, auch wenn man dem Anspruch "alles" zu erläutern, natürlich nie gerecht werden kann. Eine mögliche Zielgruppe fehlt: Therapeuten. Diese können dieses Buch selbstverständlich ebenfalls gewinnbringend lesen (und bedenkenlos weiterempfehlen), dennoch wird deutlich, dass es nicht für sie geschrieben wurde. Da sind die Bücher von Cordula Neuhaus und vor allem Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Bradl & Gerald Hüther eher zu empfehlen.
Fazit
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ein absolut empfehlenswertes Buch, das sich vor allem an Betroffene und deren Umfeld richtet. Besonders hervorzuheben ist die Ressourcenorientierung und die Empathie, die Astrid Neuy-Bartmann zeigt. Da sie sich ist selbst als Betroffene und Mutter von fünf Kindern, von denen drei ein ADS haben "outet", verwundert dies jedoch auch nicht. Dieses Buch muss ihr ein echtes Anliegen, ja eine Herzensangelegenheit gewesen sein. Und das merkt man.
Rezension von
Dr. Alexander Tewes
Instituts- und Ausbildungsleiter LAKIJU-VT (Lüneburger Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie), Psychiatrische Klinik Lüneburg gemeinnützige GmbH im Verbund der Gesundheitsholding Lüneburg
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