Philipp Staab: Anpassung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.05.2023

Philipp Staab: Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2022.
240 Seiten.
ISBN 978-3-518-12779-7.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR,
CH: 25,90 sFr.
Reihe: edition suhrkamp - 2779. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783518075159.
Freiheit und Abhängigkeit
Der Mensch ist frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Diese Menschenrechtsdiktion bringt zum Ausdruck, dass er sich darum bemühen müsse, seinen ihm angeborenen Verstand zu benutzen. Wir sind bei der Conditio Humana, in der die Menschenwürde als das Non-plus-ultra der Humanität zum Ausdruck kommt, und sich in der Balance-Fähigkeit von Tun und Lassen zeigt. Wir sind damit bei der Frage, wie sich im Leben der Menschen Anpassung und Widerstand artikulieren. Etymologisch zeigt sich der Begriff „Anpassung“ in vielfältigen Ausdrucks- und Anwendungsformen: Abstimmung, Akklimatisation, Angleichung, Assimilation, Konvergenz…; während „Widerstand“ ausdifferenziert wird in: Auflehnung, Gegenwehr, Opposition, Resilienz… Im Leben der Menschen sind diese Einstellungen und Verhaltensweisen Gegensätze, aber auch Synonyme. Sie vermitteln Richtungen und Ziele, wie auch Grenzen und Veränderungen. Im aktuellen Diskurs darüber, wie die Menschheit mit den Interdependenzen umgehen soll, dass sich die Welt lokal und global immer entgrenzender, zusammenwachsender, gleichzeitig aber auch ego-, ethnozentristischer, nationalistischer, rassistischer und populistischer entwickelt, ergeben sich grundlegend zwei Perspektiven: Die eine kommt zum Ausdruck in dem Appell der „Weltkommission Kultur und Entwicklung“ (1995) mit der Forderung: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“; und die andere in der Frage: „Darf der Mensch alles machen, was er kann oder zu können meint?“ (vgl. dazu: 23.10.2022, https://www.sozial.de/menschliches-verhalten-ein-weites-feld.html).
Entstehungshintergrund und Autor
Die biblische, missverstandene Aufforderung – „Macht euch die Erde untertan“ – wird im aufgeklärten, modernen Bewusstsein relativiert durch die Erkenntnis, dass der Mensch, als evolutionäres Lebewesen, unabdingbarer und integrativer Bestandteil des terrestrischen, kosmischen Ganzen ist. Dadurch gewinnt die Aufforderung zur Anpassung eine völlig neue Bedeutung. Der Berliner Soziologe Philipp Staab nimmt diese Perspektive zum Anlass, um Anpassung zu einem neuen, gesellschaftlichen Leitmotiv auszurufen: Anpassung ist die „Fähigkeit zu Lebensführung in einer Welt, für die es kein Zurück zu Fortschritt und Modernität gibt“.
Aufbau
Eine „adaptive Gesellschaft“, als individuelle und kollektive, lokale und globale Existenz-Kompetenz für Mensch und Natur, ist möglich. Diese Botschaft vermittelt der Autor in sechs Schritten. Im ersten Teil seiner Studie thematisiert er „Metamorphosen der Anpassung“, im zweiten geht es um Prozesse „Selbstentfaltung zu Selbsterhaltung“, im dritten setzt er sich auseinander mit „Ent-Täuschung der Moderne“, im vierten ruft er auf zur „adaptive(n) Rebellion“, im fünften differenziert er „Kritikalität und Kritik“ als Anpassungskonzepte, und im sechsten Kapitel diskutiert er mit „Protektive Technokratie“ die Möglichkeiten und Fallen, wie sie sich als Politik-, Demokratie- und Gesellschaftskritik ergeben.
Inhalt
Fragen wie – „Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die sich mit Nachdruck vom Fortschrittsbegriff verabschiedet?“ und: Wie kann ein Leben damit gestaltet werden? – müssen und sollen nicht hin zu Verlust- und Entbehrungsängsten, sondern zu Autonomie-, Souveränitäts-und Freiheitserfahrungen führen: „Wir müssen die Leute wieder dahin erziehen, dass das Allgemeinwesen auch ein höheres Ziel ist und dass nicht nur jeder für sich selbst zählt“. Es ist die „adaptive Kritik“ am ökonomischen Immer-Mehr – und wie sich am kritischen Diskurs um den individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit der KI-Entwicklung zeigt – die Anpassung als „Mobilisierung für die Freiheit“ aufstellt.
Es sind sozialökologische, solidarische und erdbewusste Argumentationen, die eine „adaptive Lebensführung“ ermöglichen sollen. Da ist zuallererst die Korrektur, wie sie uns im abendländischen, griechisch-römischen, jüdisch-christlichen, aufgeklärten Denken überliefert ist: Emanzipation als Fortschrittsglaube: „Mit dem Verzicht auf Fortschritt wird das spätmoderne Subjekt auch von der Verantwortung für das unglaubwürdig gewordene Projekt gesellschaftlicher Perfektionierung entlastet“.
Im wissenschaftlichen soziologischen Diskurs ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Anpassungsprozessen grundlegend und zielführend: „Zu modernen Soziologien … gehört eine Interpretation der Ursachen von Adaptionsdruck, die ihren Zugriff auf Phänomene der Anpassung grundlegend prägt“. Es bedarf einer erhöhten, verantwortungsbewussten, politischen Aufmerksamkeit und Handhabbarkeit – durch Perspektivenwechsel – dass in den Zeiten von Unsicherheiten, von Konflikten, von Krisen, von ökonomischen und ökologischen Herausforderungen, ein neues resilientes Bewusstsein entsteht und wirksam wird (Klaus Fröhlich-Gildhoff/Maike Böse, Resilienz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29263.php). Es ist der notwendige „generative“ Blick, der sich als eine Aufmerksamkeit von „Naturzeit“ und „Gesellschaftszeit“ auftut. Spätestens, als sich die Corona-Pandemie in unvorstellbarer, unerwarteter und ungewohnter Geschwindigkeit in der Welt verbreitete, und der Begriff „Lockdown“ neue Realität verdeutlichte (Adam Tooze, Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28828.php), wurde auch wissenschaftlich registriert, dass eine „kulturelle Überbewertung des Individuums“ Egozentrismus befördert und ein gemeinschaftliches Bewusstsein gefördert werden muss (Paul Collier/John Kay, Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerstört – und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28719.php).
Diskussion
Es ist nicht das Podest, von dem aus der Mensch sich der Fragen vergewissern muss: „Wer bin ich?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“ (Immanuel Kant); vielmehr steht er auf den „Ruinen des Kapitalismus“, der mit dem „Immer-Mehr“ zu einer anthropologischen und biologischen Unfähigkeit zu leben führt. Wie kann eine „neue Menschheit“ entstehen? Es ist die uralte, in den Zeiten von Ungewissheiten virulent aufkommende Frage, die immer schon progressiv, subjektiv oder beharrend beantwortet wurde. Eine Lösung aus dem Dilemma versprechen David Graeber (+) und David Wengrow mit ihrer „neuen Geschichte der Menschheit“ und ihrer Idee der „indigenen Kritik“ (2022, www.socialnet.de/rezensionen/29159.php). Nicht angesprochen, aber in der Thematik virulent existent sind Fragen und Diskussionen, wie sie weltweit zur Entwicklung der KI geführt werden: „Wir müssen Maßnahmen ergreifen, bevor sie außer Kontrolle gerät“, und: „Risikoeinschätzung statt Machen“ – „Regulierung statt Moratorium“ (Rudy Novotny/Jakob von Lindern, Alles unter Kontrolle…, in Rubrik WISSEN, DIE ZEIT, Nr. 16 vom 13. 4. 2023, S. 31f).
Die Alternative zum kapitalistischen, neoliberalen „Weiter so!“ ist eine individuelle und kollektive adaptive Lebensführung: „Der adaptiven Lebensführung (wohnt) die Sehnsucht nach einer protektiven Technokratie inne, die sich aus der Wahrnehmung realer Selbsterhaltungsprobleme ergibt und die mit dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation bräche“. Notwendig bei der Wahrnehmung und Akzeptanz der (belasteten, soziologischen und gesellschaftspolitischen) Begrifflichkeit „Technokratie“ durch den Autor ist die Neufestlegung, dass „protektive Technokratie… den Fluchtpunkt des Gesellschaftsvertrages der adaptiven Gesellschaft (bildet und) … das materialistische wie auch das expressive Versprechen der Modernisierung durch eines der Entfaltung von Freiheit… (ersetzt)“.
Fazit
Die Studie „Anpassung“ von Philipp Staab bricht mit der (liebgewordenen) Vorstellung, dass die Entwicklung der Welt automatisch und natürlich sich immer zum Besseren, zum Weiteren und zum Immer-Mehr vollziehe, und die menschengemachten, fortschrittlichen Aktivitäten dies bewirken würden. Es sind die Anmahnungen und Belege des Autors, dass es heute vielmehr darum gehen müsse, „die Katastrophe abzuschwächen“ – freilich nicht durch eine „Hans-guck-in-die-Luft“-Einstellung, auch nicht durch Fatalismus und Weltuntergangs-Prophezeiungen, sondern durch ein kritisches, angepasstes, wissenschaftliches Bewusstsein!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 23.05.2023 zu:
Philipp Staab: Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2022.
ISBN 978-3-518-12779-7.
Reihe: edition suhrkamp - 2779. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783518075159.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30373.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.
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