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Ulrich Bachmann, Thomas Schwinn (Hrsg.): Max Weber revisited

Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Herrmann-Pillath, 26.04.2023

Cover Ulrich Bachmann, Thomas Schwinn (Hrsg.): Max Weber revisited ISBN 978-3-7799-6811-5

Ulrich Bachmann, Thomas Schwinn (Hrsg.): Max Weber revisited. Zur Aktualität eines Klassikers. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 382 Seiten. ISBN 978-3-7799-6811-5. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779938316. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779962991. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779965046.

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Autoren und Zielsetzung

Der von Ulrich Bachmann und Thomas Schwinn (beide Max Weber Institut der Universität Heidelberg) herausgegebene Sammelband mit Beiträgen international renommierter Autor:innen aus der deutschsprachigen und weltweiten Forschung reiht sich als besonders gelungener Beitrag in die verschiedenen Publikationsprojekte anlässlich des 100. Todesjahres Max Webers ein. Leitmotiv der 17 Aufsätze ist die Frage nach der heutigen Relevanz Max Webers nicht nur für die Soziologie, sondern auch für das Selbstverständnis heutiger Gesellschaft(en). Dabei wird systematisch durch die zwei Hauptteile unterschieden zwischen

  • erstens, der Frage, was die Lektüre Webers beitragen kann, um die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts besser zu verstehen (erster Teil) und
  • zweitens, was Weber „in der Welt“ zu sagen hat (zweiter Teil), mit Beiträgen aus dem anglophonen Bereich, Brasilien, Japan, dem Islam, Russland und China (mit zwei Beiträgen), wobei die Beiträge zum Islam und einer zu China von deutschen Autor:innen stammen.

Die Zäsur zwischen den beiden Teilen wird durch das Transkript einer Podiumsdiskussion mit Jürgen Kaube, Dirk Kaesler und Wolfgang Schluchter markiert, die sich mit ‚Weber als Interpret der Moderne‘ befasst. Die Texte des ersten Teils stammen ausschließlich aus dem deutschsprachigen Raum. Während sich die Themen des zweiten Teils aus der Fragestellung ergeben, wie die jeweilige Weber-Diskussion verlaufen ist und ob Weber in diesen Diskursen weiterhin relevant ist, gibt es im ersten Teil thematische Schwerpunkte, ohne dass diese herausgeberisch gesetzt wären. Solche Themen sind Rationalisierung und die Stellung der Wissenschaft in der heutigen Gesellschaft.

Entstehungshintergrund

Schwinn detailliert in seinem informativen abschließenden Kapitel zur Geschichte der Weber Rezeption die bereits in der herausgeberischen Einleitung getroffene Feststellung, dass heute eher ‚über‘ als ‚mit‘ Weber geforscht wird. Weber ist ein Klassiker, dessen Zitation Verpflichtung ist, während seine Theorien und Thesen nurmehr oberflächlich in der Forschung aktiviert werden. Schwinn weist freilich darauf hin, dass dies auch daran liegt, dass sich Praxis und Standards der Forschung verändert haben: In den Mühlen der heutigen Publikationsmaschinerie zählen eher kleinteilige, methodisch aber ausgefeilte empirische Analysen. Diese Beurteilung bezieht sich auf die Soziologie, die im Band auch fokussiert wird. Welche Bedeutung Weber in anderen Disziplinen wie vor allem der Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft oder den Geschichtswissenschaften hat, wird nicht ausdrücklich thematisiert. Daraus ergibt sich auch die unterschiedliche Ausrichtung der beiden Teile: Im ersten Teil geht es um ‚die Gesellschaft‘, wobei sich der Anknüpfungspunkt bei Weber dadurch ergibt, dass aus seiner Sicht der Kapitalismus als globale transformative Kraft der Uniformierung von ‚Gesellschaft‘ wirkt, während im zweiten Teil die unterschiedlichen Entwicklungen in den betrachteten Regionen thematisiert werden – mit Ausnahme des Beitrages von Sica, der sich auf die anglophone Weber Rezeption als solche konzentriert, und nicht mehr fragt, was diese zum Selbstverständnis dieser anglophonen ‚Gesellschaften‘ beitragen kann.

Inhalt

Die Einschätzungen sind im ersten Teil recht unterschiedlich. Eine Position ist, dass Webers ‚Moderne‘ nicht mehr die heutige ‚Moderne‘ ist (der Begriff der ‚Postmoderne’ scheint im Band kaum auf). Dies wird unterschiedlich begründet.

  • Weber befasst sich mit dem Kapitalismus seiner Zeit, und demzufolge sind seine Analysen nurmehr von historischem Interesse. Berger meint etwa, dass der heutige Kapitalismus in vielerlei Form staatlich gebändigt sei, und dass die ‚Entfesselungs‘ Metapher eher die Moderne insgesamt beschreibt, wie etwa die Ausweitung der Wissenschaft. Eine ähnliche Auffassung vertritt Kaesler in der Podiumdiskussion.
  • Gleichzeitig weist Joas darauf hin, dass die Säkularisierungsthese Webers erheblicher Differenzierung bedarf und in jedem Fall dem empirischen Befund nicht standhält, nämlich der anhaltenden Kraft des Religiösen in modernen Gesellschaften.
  • Webers Sicht auf die Politik ist aus heutiger Sicht problematisch, weil er eher Dysfunktionen der entstehenden Demokratien seiner Zeit thematisiert, vor allem den Parteienwettbewerb (Mansow).
  • Ähnlich ist auch seine Sicht der Wertfreiheit und der Stellung der Wissenschaft in Politik und Gesellschaft nicht mehr zeitgemäß, zunächst vor allem diagnostisch, angesichts von veränderten Formen der Öffentlichkeit von Wissenschaft und ihren Evaluationsmechanismen (Weingart).

Demgegenüber sehen andere Beiträge die anhaltende Relevanz von Webers Rationalisierungsparadigma. Das gilt zum einen für die Algorithmisierung vieler gesellschaftlicher Praktiken und Weisen der Lebensführung (Heintz) und damit zusammenhängend die ebenso weit reichende Quantifizierung (Vormbusch). Zwar unterscheiden sich die heutigen Forschungsstrategien dadurch, eher spezifische soziale Mechanismen zu betrachten und weniger systemische Gesamtzusammenhänge, die Weber interessierten, doch ist Weber genau aus diesem Grund weiter relevant.

Diese unterschiedliche Einschätzung bildet sich auch in der Podiumsdiskussion ab. Das Bild verändert sich im zweiten Teil, wobei Sica für den anglophonen Bereich ebenfalls eher einen zeremoniellen Status der Weber-Referenzen notiert. Für die anderen Beiträge gilt, dass Weber weiterhin als eine Herausforderung für die soziologische Reflektion der eigenen Verhältnisse gesehen wird. Dabei tritt viel mehr als im ersten Teil Webers Herrschaftssoziologie in den Vordergrund, die beispielsweise in Brasilien (Sell) weiter einflussreich ist, was das Verständnis von Pfadabhängigkeiten neopatrimonialer Systeme anbetrifft, oder ein wichtiges Leitmotiv in der nachholenden Rezeption Webers in Russland (Filippov) ist.

Die Aktualität Webers ‚in der Welt‘ ist deswegen bemerkenswert, weil Weber – oft ohne selbstverschuldete Nachlässigkeit – nur unzulängliches Wissen über die Verhältnisse in außereuropäischen Gesellschaften besaß, das den Stand der jeweiligen Fachdisziplinen seiner Zeit abbildete. Besonders nachteilig hat sich dies auf seine Behandlung des Islam ausgewirkt (Krämer), aber auch für China gibt es bedeutsame Defizite (Tsai, Roetz). Dennoch bleibt seine ‚Mängelthese’ inspirierend für die Diskurse in diesen unterschiedlichen Ländern, wie etwa für Japan bis heute gilt (Noguchi), das Land mit der nach Deutschland weitaus größten Zahl von Anschaffungen der Weber-Werkausgabe durch Bibliotheken und Forschungseinrichtungen. Dabei muss unterschieden werden zwischen der historischen Analyse, wo Webers Ansatz zur Lebensführung und Kapitalismus (Protestantismus-These) weiterhin stimulierend wirkt (Tsai), und der Rolle Webers für das Verständnis der zeitgenössischen Gesellschaften, wie Russland.

Es gibt im Band nur wenige Schlaglichter auf Webers Biographie, was freilich intendiert ist. Gilcher-Holtheys Beitrag zur Rolle Marianne Webers für die persönliche und intellektuelle Entwicklung Webers ist insofern ein Findling, freilich von hohem Wert. Wie auch Schwinn verdeutlicht, wäre ohne sie Max Weber in den ersten zwei Jahrzehnten nach seinem Tode nicht zu jener Stellung in der Geschichte der Soziologie gelangt, die heute zu Würdigungen wie in Form des vorliegenden Bandes Anlass gibt.

Diskussion

Gerade die Reichhaltigkeit des Bandes erlaubt es, Aspekte herauszuarbeiten, die unzulänglich behandelt werden und damit Motive einer Erneuerung des weberianischen Ansatzes bilden könnten. Der erste tritt in der Unterscheidung der zwei Teile klar zu Tage: Im ersten Teil gibt es eine universelle Moderne bzw. ‚die Gesellschaft‘, während im zweiten Teil die Pluralität von ‚Gesellschaften‘ in einer weltumspannenden Moderne hervortritt. Diese Einsicht des zweiten Teils wird im ersten nicht reflektiert: Der Begriff der ‚Gesellschaft’ bleibt ‚westlich‘ zentriert. Entsprechend fehlen wichtige Querverbindungen: Beispielsweise die in China heute viel schneller fortschreitende Algorithmisierung und Quantifizierung, die auf den ersten Blick mit der von Weber vollkommen vernachlässigten Tradition des Legalismus in China zusammenpasst (Roetz). Mit anderen Worten, inwiefern gerade die kritische Revision der ‚Mängelthese‘ auch zu Erweiterungen des ursprünglichen weberianischen Paradigmas in der Anwendung auf ‚den Westen‘ führen kann, bleibt unterbelichtet (der Rezensent hat diesbezüglich etwa die Stärkung des Ritual-Konzepts als soziologischem Grundbegriff gefordert).

Ein anderer Aspekt ist die ‚Begriffsarbeit‘, von Kaesler in der Podiumsdiskussion als Kern Weberschen Denkens betont. Tatsächlich drehen sich alle Beiträge vornehmlich um die makrosoziologischen Schlagwörter wie ‚Rationalisierung‘, nicht aber um die Detailarbeit Webers am historischen Material, wo seine Begriffsarbeit oft ansetzt. Diese Vernachlässigung dürfte auch den oben zitierten Befund Schwinns erklären: Die Weber Rezeption, auch in diesem Band, verliert buchstäblich den methodischen und methodologischen Grund unter den Füßen, den Weber intensivst beackert hat. Als Beispiel möge dienen, dass Weber sich seit seiner Dissertation durchgehend mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie konkrete institutionelle Arrangements in der Wirtschaft bestimmte Formen der rationalen Kapitalrechnung erst ermöglich haben und weiter ermöglichen. Weber hat an diesem Punkt durchaus weiter Relevanz für die Institutionenökonomik, die ihn komplett ignoriert. Insofern ist ein Desiderat des Bandes, jenseits der großen Themen Webers, seine Methode im Detail auf ihre heutige Relevanz zu prüfen.

Fazit

Der Band ist für jede:n eine Pflichtlektüre, wer heute auf Weber in aktuellen Forschungskontexten Bezug nehmen will. Er bietet gleichermaßen einen detaillierten Überblick zur Rezeptionsgeschichte ebenso wie zu zentralen Anwendungsfeldern in der Betrachtung der Weltgesellschaft, einerseits von ‚Megatrends‘ wie Säkularisierung und Rationalisierung, andererseits zur kulturellen und politischen Ausdifferenzierungen. Prädikat: Sehr empfehlenswert.

Rezension von
Prof. Dr. Carsten Herrmann-Pillath
Professor and Permanent Fellow, Max Weber Center for Advanced Cultural and Social Studies, Erfurt University, Germany Research Professor Economics and Evolutionary Sciences, Witten/Herdecke University, Germany Distinguished Visiting Professor of Schwarzman Scholars at Tsinghua University, China
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Es gibt 2 Rezensionen von Carsten Herrmann-Pillath.

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Zitiervorschlag
Carsten Herrmann-Pillath. Rezension vom 26.04.2023 zu: Ulrich Bachmann, Thomas Schwinn (Hrsg.): Max Weber revisited. Zur Aktualität eines Klassikers. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6811-5. Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779938316. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779962991. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779965046. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30383.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.


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