Manfred Liebel, Philip Meade: Adultismus
Rezensiert von Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz, 14.11.2023
Manfred Liebel, Philip Meade: Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder. Eine kritische Einführung.
Bertz + Fischer
2023.
440 Seiten.
ISBN 978-3-86505-768-6.
D: 10,00 EUR,
A: 10,30 EUR.
Reihe: Kritische Einführungen - 4.
Zu den Autoren
Manfred Liebel war lange Jahre Professor für Soziologie an der TU Berlin. In seinem vielfältigen Arbeiten, Artikeln und Büchern widmete er sich vorrangig der Kindheits- und Jugendforschung; insbesondere „Kindern im Abseits“ sowie Überlegungen einer postkolonialen Kindheit. Seine Erfahrungen mit der „Educacion Popular“ in Lateinamerika veranlasste ihn zur Gründung des Studienganges „Childhood Studies and Childrens Rights“. Er ist Mitbegründer des Vereins ProNATs, der arbeitende Kinder und ihre Bewegungen weltweit unterstützt, und Mitglied des Beirats der National Coalition – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland.
Philip Meade fragt sich schon immer, wie Adultismus funktioniert. Nach einem Studium der Sozialpädagogik und Erfahrungen als Schulsozialarbeiter studierte er Kinderrechte. Er war langjährig Kinderrechts-Beauftragter in der Berliner Jugendhilfe und ist Dozent im Studiengang „Childhood Studies and Children‘s Rights“. Auch hat er den Verein ProNATs mitbegründet ist Mitglied im Beirat der National Coalition zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland
Hintergrund
Die Autoren haben ihr Thema in zwei Versionen dargelegt: zum einen als umfangreiches wissenschaftliches Fachbuch, zum anderen als kürzere, illustrierte Einführung, die sich vornehmlich an Jugendliche richtet. Diese Rezension bezieht sich vorwiegend auf das Fachbuch. Dennoch steht sie in gewisser Weise auch für die sehr gelungene Einführung für Jugendliche.
In den Titeln der Bücher liest sich bereits die zentrale Aussage: es geht darum, die Macht, die Erwachsene in der Lesart der Autoren über Kinder ausüben, darzustellen, zu hinterfragen, ihre Hintergründe zu erörtern und nach Auswegen aus dem nachvollziehbar beschriebenen Machtverhältnis zu suchen. Die Autoren entfalten dabei ein Kindheitsbild, das quer zu den üblichen und universalistisch entworfenen Modellen der Erziehungs- und Bildungswissenschaften liegt und eher vielfältig ist. Sie beziehen sich dabei vor allem auch darauf, dass Kinder in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich „definiert“ werden bzw. unterschiedliche Plätze einnehmen und somit auch sehr unterschiedlich in den Alltag eingebunden sind.
Gegen den Universalismus des westlichen Kindheitsmodells einer von Erwachsenen zu schützenden und zu gestaltenden Kindheit entwerfen sie ein eher pluriversales Kindheitsbild. In diesem pluriversalen Modell scheint, und das mitunter sehr normativ untersetzt, die Idee von Kindern als von Erwachsenen unabhängigen und eigenständigen Subjekten auf, mit eigenen Vorstellungen und eigenen Handlungskompetenzen, die als generell gültig entworfen wird. Das ist sehr sympathisch, macht das Buch wichtig und lesenswert; dies wird zudem vielfältig mit Beispielen untersetzt. Zugleich ist es aber auch problematisch und ambivalent.
Zum einen relativiert dieser Ansatz tatsächlich das westliche Modell eines zu schützenden Kindes, das in seiner Entwicklung wesentlich von Erwachsenen dominiert wird. Zum anderen wird aber, trotz aller Relativierung und Verabschiedung des universellen und westlichen Modells, erneut ein Bild skizziert, das durchaus implizit einen erneuerten universellen Anspruch beinhaltet. Das ist nicht als Kritik zu verstehen, es zeigt aber die Problematik, die das Buch in seinen Grundzügen prägt. Es bewegt sich einem Diskursfeld, das umstritten und auch umkämpft ist.
Die geäußerte Kritik am Machtverhältnis ist völlig nachvollziehbar und ausführlich belegt, auch der Entwurf einer schillernde Utopie, die an vielen Beispielen erläutert wird. Doch in diesem Spannungsbogen liegen zugleich Ambivalenzen und eben der prinzipielle Widerspruch, den einen Universalismus durch einen anderen zu ersetzen. Dies geschieht mitunter auch dadurch, dass die Autoren nahezu apodiktisch ihre Position vertreten, und diese mitunter als die bessere. Damit versuchen sie der Gefahr zu entgegen, dass universalistische, normativen Aussagen in einen „kulturellen Relativismus” verfallen können
Aus Sicht der Autoren ist deshalb darauf hinzuweisen, dass die Argumentation auf einer Unterscheidung von „europäischem (oder eurozentrischem) Universalismus” und „universalem Universalismus” beruht, die Manfred Liebel in seinem Buch „Postkoloniale Kindheiten” von Immanuel Wallerstein übernommen hat. Diese Unterscheidung ist sicherlich wichtig, da versucht wurde, sie in den normativen Aussagen zur Kritik des Adultismus und möglichen Alternativen zu beachten.
Zweifellos müssen Bücher, die grundlegende und kontroverse Themen der Gesellschaft aufgreifen, eben auch normativ sein. Doch mitunter wird diese Normativität aus der Sicht des Rezensenten zu stark überhöht. Doch das schmälert nicht den Gewinn, den das Buch liefert. Es muss nur darauf hingewiesen werden, dass die Linien des Buches sich in dieser Ambivalenz bewegen.
Insofern besteht das Buch aus notwendig zwei Linien: einer Kritik der bestehenden Machtverhältnisse, die als Adultismus verdichtet werden, und Wegen aus diesem Verhältnis heraus. Die darin liegende Ambivalenz ist ein Vorteil, da die Autoren nach Antworten suchen, und darin notwendig aber vieles offen lassen. Die Debatten, die von diesem Buch ausgehen können, erhalten eine Fülle von Anregungen und Material.
Aufbau und Inhalt
Insgesamt ist es ein Fachbuch mit einer ungeheuerlichen Fülle an Facetten, Details, Informationen, Querverweisen und ausführlichen Diskussionen, die in einer Rezension noch nicht einmal annähernd abgebildet werden können. Insofern beschränkt sich diese, bezogen auf Aufbau und vor allem dem Inhalt, auf die Grundstruktur der einzelnen Kapitel und fordert den Leser auf sich selbst ein Bild zu machen, indem er sich umfänglich mit den Inhalten beschäftigt und sie zugleich kritisch hinterfragt.
Viele Thesen gehen weit über den Mainstream der Debatten zu Kindheiten und dem in Gesellschaften, insbesondere den westlichen, eingelagerten und wenig reflektierten Verhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen hinaus und öffnen neue Dimensionen, die sowohl Widersprüche als auch Zustimmung generieren können, da sie wesentliche Dimensionen ansprechen, die der Adultismus als Herrschaftsstruktur mit sich bringt. Dabei wird deutlich, wie subtil dieser agiert.
Eigentlich wollen Erwachsene alles tun, damit es den Kindern gut geht und sie heranwachen können. Doch dabei übertragen sie ihre eigenen Vorstellungen, wie Kinder zu sein hätten, mitunter völlig unreflektiert auf diese. Wenn Kinder einbezogen werden und partizipieren können, dann geschieht auch dies zumeist nach den Regeln der Erwachsenen. Folgt man den Thesen des Buches, die breit, historisch hergeleitet und mit aktuellen Belegen unterfüttert werden und darin überzeugen, außer vielleicht jenen, die das ausgebreitete Abhängigkeitsverhältnis essentialisieren und als gegeben verstehen, dann sind Erziehung und Bildung Ausdruck eines Machtverhältnisses, als Adultismus verstanden, das letztlich die Kinder nach Bildern der Erwachsenen so formt, wie diese sie gerne hätten.
Zugegeben ist diese Darstellung an dieser Stelle sehr verkürzt und gibt nur eine Ahnung von dem intellektuellen Reichtum, den das Buch hinsichtlich einer, aus der Sicht des Rezensenten, notwendigen und gerechtfertigten Kritik des Adultismus liefert. Wie bereits betont, kann eine Rezension der Fülle, die das Buch anbietet, nicht gerecht werden. Sie kann nur anregen sich selbst ein Bild zu machen.
Der Aufbau des Buches hat vor dieser prinzipiellen und kritischen Auseinandersetzung mit dem Adultismus eine klare Logik, indem er dessen Thesen ausbreitet, begründet und am Ende Alternativen diskutiert. Dabei bauen die Kapitel aufeinander auf – und können doch auch jedes für sich gelesen werden. Insgesamt besteht das Buch aus fünf Kapiteln, die sich in viele Unterabschnitte teilen. Der jeweilige Umfang der Kapitel und des Buches insgesamt macht, es hat weit über 400 Seiten, wie bereits betont, nur einen Überblick möglich, der zum Lesen anregen soll.
Im Kapitel I, Was ist Adultismus? Eine Annäherung, werden Zugänge und Grundzüge dargelegt und ausführlich diskutiert. Deutlich wird, was der Begriff Adultismus meint und wie er sich abbildet. Der Leser und die Leserin finden zahlreiche Beispiele, wie Adultismus von Kindern erlebt wird und wie somit deren Alltäglichkeit aussieht. Anhand dieser empirischen Fakten wird Adultismus definiert und in seinen Bedeutungen kritisch reflektiert. Das umfasst ein weites Feld.
Da stehen umfängliche Aussagen zur Adultismuskritik, zu deren historischen und zum aktuellen Stand der Forschung in diesem Bereich. Es finden sich verwandte Begriffe, die Adultismus in eine umfängliche Gesellschaftskritik einbauen. Im Anschluss an Fallstricke des Etikettierens, die sich mit einem solchen komplexen Begriff notwendig verbinden, wird schließlich eine intersektionale Perspektive eingeführt, die sehr bedeutsam ist, da sie aufzeigt, dass Adultismus nie alleinsteht, sondern mit vielfältigen Ausbeutungsmechanismen und Machtverhältnisses verbunden ist.
Deutlich wird aber auch, und das ist aus Sicht des Rezensenten, wesentlich, dass es trotz der vielfach dargelegten Beispiele noch immer ein mangelhaftes Bewusstsein für die Phänomene des Adultismus und somit für die Abhängigkeit der Kinder von Erwachsenen gibt. Trotz aller Emanzipationsdebatten, die sich auch in der Kindheitspädagogik niedergeschlagen haben, ist noch immer das Bild einer von Erwachsenen zu beschützenden und zu gestaltenden Kindheit leitend, in dem Kinder eben von Erwachsenen in die Welt nach ihrem eigenen Bild eingeführt werden müssen, indem sie diese an die Hand nehmen und mitunter auch für sie entscheiden, obwohl diese durchaus zu eigenen Entscheidungen fähig sind.
Das Kapitel II, Adultismus in gesellschaftlichen Praxen, stellt das Thema in einen historischen Kontext, der wichtig ist, da somit Hintergründe, Ursachen und Entstehungskontexte analytisch und somit in aller Deutlichkeit dargelegt werden. Für das Verstehen des aktuellen Adultismus ist das von großer Bedeutung, zeigt es doch, dass dieser nicht vom Himmel gefallen ist, sondern mit konkreten und historisch gewachsenen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen verbunden ist und diese hinsichtlich Kinder und Kindheiten zum Ausdruck bringt.
Dieser historische Rückblick, der sehr weit zurück geht und dennoch auch bis in die Gegenwart reicht, rekonstruiert und zeigt zunächst, wie junge Menschen bereits in früheren Epochen, insbesondere auch in nicht-bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften sozial abhängig waren und einen untergeordneten Platz hatten.
Die Autoren diskutieren diese Unterdrückung von Kindern von antiken Hochkulturen bis zur europäischen Neuzeit. Sie zeigen vielfach und an beeindruckenden Beispielen Gewalt und Diskriminierung gegen Kinder, die schon in den Kolonialisierungsprozessen zum Alltag gehörten. Deutlich wird die Gewalt gegen Kinder und deren Abhängigkeiten und Diskriminierung, die sich in der postkolonialen Epoche darstellte. Schließlich, quasi als eine erste Alternative, kontrastieren die Autoren Macht und Diskriminierung gegen Kinder mit den eher egalitären Altersordnungen in indigenen Gemeinschaften, in denen Kinder einen eher gleichwertigen und gleichberechtigten Platz einnahmen und auch für ihre eignen Belange zuständig waren und Entscheidungen fällen konnten. Die Macht der Faktizität, die sich an Beispielen festmacht, lässt sich kaum widerlegen, dennoch hat der Rezensent ab und an den Eindruck, dass hier auch idealisierte Vorstellungen dieses andere Bild malen.
In diesem zweiten Kapitel werden sodann die institutionellen Grundpfeiler, wie es die Autoren nennen, herausgearbeitet, die den Adultismus prägen, ihn legitimieren, ihm seinen Zweck einhauchen und sein Gebäude der Abhängigkeit aufrechterhalten. Nachvollziehbar sind dies Institutionen, die sich „von selbst“ ergeben bzw. mit der strukturellen Logik moderner Gesellschaften verbunden sind: Familie als die Keimzelle, Schule als der Hort und Recht und Politik als die Manifestation und Absicherung des Adultismus. Diese sehr überzeugende Darstellung zeigt, wie Adultismus in unseren modernen und westlichen Gesellschaften auch weiterhin verankert ist und tradiert wird.
Konsequent stehen am Ende des Kapitels sechs Bereiche, in denen eine adultistische Diskriminierung junger Menschen empirisch zu beobachten ist. Dies wird an konkreten Beispielen überzeugend dargestellt. Diese sechs Bereiche sind: Sanktionierung nichtkonformen Verhaltens, das Erwachsene als solches definieren und entsprechende „Strafen“ ersonnen haben und diese konsequent gegen Kinder dursetzen; eingrenzender und paternalistischer Kinderschutz, der von Erwachsenen und deren Kindheitsbildern ausgeht, da man zwar Gutes für die Kinder und diese zugleich schützen will, dies aber immer aus der Perspektive der Erwachsenen geschieht; der beschränkte Zugang von Kindern zu den vielfältigen Ressourcen der Gesellschaft, da oft von Erwachsenen davon ausgegangen wird, dass bestimmte Dinge für die Entwicklung der Kinder schädlich sei; die Herstellung von Normativität, die von Erwachsenen entworfene Lebensläufe vorgibt und versucht deren Umsetzung mitunter auch zu erzwingen; die Ausbeutung und Diskriminierung von Kindern in vielfältigen Bereichen; die generationale Diskriminierung, da Kinder bspw. nicht wählen dürfen, als noch nicht erwachsen gelten und somit in vielen Bereichen kein Mitsprachrecht haben.
Konsequenterweise und der Logik der Argumentation folgend liefert der Band im Kapitel III Bausteine einer kritischen Theorie des Adultismus. Dieser zentrale und für das Buch essenzielle Abschnitt zeichnet sich durch eine hohe Dichte des Diskurses und einen gelungenen Versuch aus, die verschiedenen theoretischen Strömungen, Linien und Narrative, die sich mit den vielfältigen und auch widersprüchlichen Diskursen um Adultismus verbinden, miteinander zu verknüpfen. Es sind zwar Bausteine, die erörtert werden, doch es gelingt den Autoren diese mit Mörtel zu verbinden und ein Haus zu errichten, das den Adultismus sowohl historisch als auch aktuell einordnet und ihm somit eine nachvollziehbare Gestalt verleiht. Mit dem vorgelegten theoretischen Bauwerk kann die Auseinandersetzung, aus Sicht des Rezensenten, um den Adultismus sowohl theoretisch als auch empirisch weitergeführt werden. Für dieses gelungene Gebäude, das es in dieser umfassenden und theoretisch tief durchdrungenen Form noch nicht gab, und das weiteren Auseinandersetzungen große Möglichkeiten öffnet, ist den Autoren zu danken.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Stand der Theorie, der kurz und angemessen dargelegt wird. Konsequent wird im Anschluss daran Adultismus als eine Diskriminierungsform vorgestellt, die eben nicht alleinsteht und somit auch nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern in einer intersektionalen Perspektive sich in gesellschaftlichen Ordnungen einreihen lässt, die prinzipiell Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse erzeugen. Damit aber wird Macht in ihren vielfältigen Ursachen, Kontexten, Bedeutungen und Formen in den Fokus gerückt, aus denen Adultismus als eine überlegene Positionen der Erwachsenen über Kinder hervorgeht, die diese zu Abhängigen macht, und somit deren Diskriminierung nachvollziehbar begründet. Die dadurch ausgelösten Wirkungen des Adultismus werden in ihren empirischen Formen und Bedeutungen erkennbarer, verstehende Zugänge werden geöffnet. Aber auch die Rückwirkungen, die sich aus dem Adultismus heraus auf Struktur und Persistenz gesellschaftlicher Verhältnisse ergeben, kommen somit in den Blick der Analyse.
Mit dem verdichteten theoretischen Instrumentarium können die Autoren Voraussetzungen und Entwicklungen des Adultismus nachzeichnen. Sie zeigen überzeugend auf, wie dieser, nahezu unreflektiert, in der rechts- und moralphilosophischen Debatte über Kinderrechte wirkt und eine klare Positionierung zum Recht der Kinder, die als eigenständige Subjekte begriffen werden müssen, auf Mitbestimmung und Teilhabe unterläuft und letztlich auch verhindert. Statt Subjekte zu seien, bleiben Kinder Objekte der Erziehungs- und Entscheidungsmacht der Erwachsenen.
Und dennoch gerät Adultismus sowohl praktisch als auch theoretisch vermehrt unter Rechtfertigungsdruck, den dieses Buch noch erhöht, indem es zum einen Adultismus grundsätzlich auf den Begriff bringt und ihn zum anderen in gesellschaftlichen Strukturen von Macht und Abhängigkeit verankert, die sich schon länger in der Kritik befinden. Dieser Rechtfertigungsdruck wird durch das Buch nicht nur dargestellt, er wird sogar noch einmal dadurch gesteigert. Es zeigt nämlich auf, wie junge Menschen, diskutiert unter dem Narrativ Agency, sehr wohl über ihr Leben entscheiden und dieses gestalten können, wie sie eben ihre Sicht der Dinge einbringen und ihre Rechte einfordern. Deutlich wird, wie sie Akteur*innen und eigenständige Subjekte in gesellschaftlichen Verhältnissen sein können. Daraus leiten die Autoren schließlich Elemente einer Theorie des „Kinder-Protagonismus“ ab, in dem diese prinzipiell als Akteur*innen und eigenständige Subjekte begriffen werden und somit zu gleichberechtigten Gestaltern der Welt werden können.
Daran anschließend werden im Kapitel IV eine Fülle von Überlegungen und Ansätzen erörtert, wie wir „dem Adultismus entgegenwirken“ können, wenn wir es denn wollen. Dieses sehr dichte und an Bildern und Diskursen reiche Kapitel kann an dieser Stelle noch nicht einmal ansatzweise dargelegt werde, da es eine fast unübersehbare Abfolge von Ideen darstellt, die jede für sich zum Nachdenken anregt.
Getragen wird dieses Kapitel dabei von der alles entscheidenden Frage, wer spricht eigentlich für wen? Diese aus postkolonialer Perspektive übernommene und noch immer offene Frage weist darauf hin, dass es nahezu immer die Erwachsenen sind, so auch die Autoren des Buches, die über und für Kinder reden, auch wenn sie für deren Rechte eintreten und sich für deren Protagonismus stark machen. Allein schon daraus kann eine Fülle an praktischen und theoretischen Überlegungen abgeleitet werden, wie dem entgegenzuwirken ist. Damit verbunden ist nachvollziehbar und essenziell ein „kritisches Erwachsensein“, ein Narrativ, das in dieser Form bisher kaum diskutiert wurde. Es ist von daher auch hier das Verdienst der Autoren, das sie dieses Narrativ öffnen.
In der Folge wird ausführlich diskutiert, wie eine adultismuskritische (Sozial-) Pädagogik aussehen könnte. Hierfür werden einige Elemente benannt, die nicht immer neu sind, aber in diesem gebündelten Kontext insgesamt aufzeigen, was notwendig, möglich und zugleich herausfordernd ist. Das reicht von der Thematisierung des hierarchischen Erziehungsverhältnisses über subjektorientierte Zugänge zum Erwachsenen-Kind-Verhältnis bis hin zu adultismuskritischen Praxen in der Kinder und Jugendhilfe. Es sind zum einen Beispiele, die angeführt werden; es sind zum anderen aber Fragen und Herausforderungen, die eine konkrete Ahnung davon vermitteln, was bereits da ist und was auf dem Weg einer kritischen Bearbeitung des Adultismus noch getan werden muss. Insofern ist dieses Kapitel in seinen Argumentationen sehr normativ und zugleich utopisch. Das ist nicht als Kritik zu verstehen, es zeichnet vielmehr dieses Buch aus, dass es sich vor normativen Aussagen nicht drückt und versucht eine scheinbar „objektive“ Position einzunehmen.
Diese Debatte fokussiert sich im vierten Kapitel konsequent in einer Art „Forderungskatalog“ an Politik und Pädagogik, die von den Autoren aus ihren Analysen heraus aufgestellt werden. Vieles davon ist nicht neu, aber in der Dichte und der Breite und dem Kontext, in den es eingebunden wird, gewinnt es zusätzlich an Bedeutung. Dazu gehört: gemeinsam gegen Adultismus in der Schule vorzugehen; aus dem politischen Schweigen herauszufinden; den Bezug auf Kinderrechte zu verstärken und ihnen noch mehr zum Ausdruck zu verhelfen, um eben damit dem Adultismus entgegen zu wirken. Aus diesen Überlegungen leiten die Autoren Wege zu einem nicht-adultistischen Kinderschutz ab und stellen Überlegungen zur politischen Partizipation und zum Wahlrecht von Kindern an. Das gipfelt in Diskussionen einer intergenerationalen Gerechtigkeit.
Dieses vierte Kapitel endet mit Beispielen, wie junge Menschen den Adultismus selbst in Frage stellen. Die aufgezeigten Überlebensstrategien, die Thesen zu Selbstbefreiung und Widerstand sowie der darin aufscheinende Kampf für eine bessere Gesellschaft belegen nicht nur, wie junge Menschen sich als Akteur*innen und Subjekte sehen und handeln: sie zeigen auch, dass die Überlegungen des Buches in einem größeren Kontext gesehen werden müssen: in dem Kampf um eine gerechtere Welt, den auch junge Menschen führen.
Am Ende des Buches, im Kapitel V, liefern die Autoren konsequent einen Ausblick. Sie wagen Blicke auf mögliche Wege zu einer adultismusfreien Gesellschaft. Dieses utopische Ende rundet das Buch ab und gibt dem Leser noch einmal einen Schub, sich selbst mit der Realität des Adultismus und den Machtstrukturen der Erziehungssituation im Kind-Erwachsenen-Verhältnis zu beschäftigen.
Diskussion
Es lohnt sich, dieses Buch in aller Ruhe und mit viel Muße zu lesen. Es fasst zwar viele Aufsätze und Thesen der beiden Autoren zusammen, die über viele Jahre vorgelegt wurden. Es verbindet diese aber in einer nachvollziehbaren und überzeugenden Theorie, die vielfach empirisch unterlegt wird.
Es ist zum einen normativ und legt mitunter moralisierend die Finger in Wunden des Adultismus, über die an vielen Stellen schon beachtliches erörtert wurde. Dennoch wird mit diesem Buch zum ersten Mal Adultismus mit einer klaren und dichten Konsequenz und einem deutlich herausgearbeiteten inneren Zusammenhang, was man sich von einer Theorie erhofft, in seinen Ursachen und Wurzeln, seinen gesellschaftlichen Bedeutungen, Wirkungen und Rückwirkungen, ausgebreitet. Gezeigt wird, wie dieser ein gewichtiger Aspekt intersektionaler Verflechtungen von Machtstrukturen, Abhängigkeiten, Dominanzen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen in modernen und vor allem westlichem Gesellschaften ist.
Das Buch ist aber auch euphorisch, da es zeigt bzw. postuliert und fordert, dass Kinder und junge Erwachsene sehr wohl eigenständige Subjekte und Akteur*innen ihres Lebens sein können, die über uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe wesentliche und wichtige Mitglieder von Gesellschaften werden können und Kinder den Erwachsenen gleichgestellt werden müssen. Das Erziehungsverhältnis, aber auch die Kontexte von Kinder- und Jugendhilfe, müssen vor diesem Hintergrund völlig neu strukturiert werden.
Dabei orientieren sich die Autoren immer wieder an Kindheitsvorstellungen und Praxen aus anderen Kulturen, insbesondere auch indigenen Kulturen. Das macht Sinn und bringt eine immense Erweiterung der Perspektiven. Doch darin liegt mitunter auch etwas Idealistisches.
Doch das sei den Autoren gestattet, im Gegenteil, es ist sogar erforderlich, da dies aufregende und wichtige Themen, Narrative und Bilder herstellt, die aus der Vergangenheit, von anderen Orten und aus völlig verschiedenen Kontexten kommend in eine Zukunft verweisen, in der wir noch nicht waren, aber hinkommen können. Sie ermöglicht vielleicht so etwas wie ein „gutes Leben“, in der Kinder tatsächlich Protagonisten ihres eigenen Lebens werden, eben Wesen für sich selbst und andere, die somit aber eigenständige Subjekte sind und den Erwachsenen gleichgestellt werden.
Der darin zum Ausdruck gebrachte utopische Charakter hebt das Buch, trotz seiner Wissenschaftlichkeit, über eine sogenannte und fragwürdige Objektivität hinaus und verleiht ihm eine wichtige normative und utopische Komponente. Gegen die hegemoniale Universalität westlichen Denkens wird der Ansatz eines pluriversalen Denkens gesetzt. Dabei gelingt es den Autoren auch, nicht in die Falle der kulturellen Aneignung zu geraten, sondern die Anlehnungen reflexiv in die Realitäten unserer westlichen Gesellschaft eizubinden und somit deren Diskussionen weiter zu entwickeln.
Um die Diskussion, die noch intensiver und länger geführt werden könnte, abzuschließen, sei noch auf zwei Thesen verwiesen, die das Buch zum Ausdruck bringt und die in die Diskurse der Kindheitspädagogik und der Erziehungswissenschaften allmählich Eingang finden und mit diesem Band intensiviert werden können. Diese Thesen sind:
Die Auseinandersetzung mit der zu „beschützenden Kindheit“, die sich in westlichen Gesellschaften herausgebildet hat, kann und darf nicht essenzialisiert werden, sie ist nur ein Spezialfall von Kindheitsvorstellungen, die wir in Vergangenheit und Gegenwart menschlicher Kulturen finden.
Von entscheidender Bedeutung ist, wer spricht eigentlich für wen. Noch immer sind es Erwachsene, so auch in diesem Buch, die über und für Kinder und junge Menschen sprechen. Es ist an der Zeit, diese stärker als Sprecher*innen für ihre eigenen Belange zu verstehen. Sie tun es, so in Kinderbewegungen, nur müssen wir es endlich hören und verstehen.
Letztlich sei noch eine Kritik platziert. Der Rezensent kann vieles nachvollziehen, insbesondere auch die These zum kindlichen Protagonismus. Dennoch sollte auch festgehalten werden, und das kommt im Buch etwas zu kurz, dass es Bereiche gibt, in denen Kinder tatsächlich geschützt werden müssen bzw. Erwachsene Bedingungen und Strukturen aufrichten müssen, damit insbesondere Benachteiligte die gleichen Chancen haben. Die Debatten um die Kindergrundsicherung haben dies gerade erst aufgezeigt.
Das Buch macht wach und richtet den Fokus auf das, was in Sonntagsreden immer besungen wird: das gute Leben der Kinder.
Fazit
Die Autoren legen eigentlich ein Grundlagenwerk vor. Es ist nämlich ein für die Beschäftigung mit Kindheiten sehr wichtiges und wegweisendes Buch, das sicherlich eine große Nachhaltigkeit in den weiteren Diskursen erlangen kann. Den Autoren ist eine Arbeit gelungen, die eine „Dichte Beschreibung“ darstellt. Das Buch liefert viele Ansätze bzw. erörtert diese, die im internationalen Diskurs bereits mehr oder weniger fokussiert werden, die aber durch dieses Buch noch einmal eine Verdichtung und eine Intensivierung und vielleicht auch eine Pfadänderung erfahren können.
Rezension von
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz
Soziologe und Anthropologe
Fachhochschule Erfurt
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Es gibt 9 Rezensionen von Ronald Lutz.
Zitiervorschlag
Ronald Lutz. Rezension vom 14.11.2023 zu:
Manfred Liebel, Philip Meade: Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder. Eine kritische Einführung. Bertz + Fischer
() 2023.
ISBN 978-3-86505-768-6.
Reihe: Kritische Einführungen - 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30384.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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