Carolyn Hollweg, Daniel Kieslinger (Hrsg.): Übergänge und Schnittstellen
Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Enggruber, 17.04.2024
Carolyn Hollweg, Daniel Kieslinger (Hrsg.): Übergänge und Schnittstellen in einer inklusiven Erziehungshilfe. Kooperationen und Netzwerke auf dem Prüfstand. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2023. 324 Seiten. ISBN 978-3-7841-3549-6. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Im Februar 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert und sich damit zu Inklusion, d.h. zur gleichberechtigen Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen und damit auch Regelsystemen verpflichtet. Dabei gelten die Menschen als behindert, die aufgrund einer Beeinträchtigung oder Benachteiligung „in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft“ (Artikel 1 UN-BRK) behindert werden. Vor dieser auch als Bundesgesetz geltenden UN-BRK soll die Kinder- und Jugendhilfe in den nächsten Jahren inklusiv gestaltet werden. Nach dem im Mai 2021 reformierten Sozialgesetzbuch (SGB) VIII, dem sogenannten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG), sollen die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Eingliederungs- bzw. Behindertenhilfe zusammengeführt werden. In dem in Deutschland nach unterschiedlichen Rechtskreisen und entsprechenden Behörden segmentierten Sozialleistungssystem kann dies als ein großer Schritt gelten. Denn es geht dabei nicht nur um die rechtskreis- und behördenübergreifende Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe sowie Behinderten- bzw. Eingliederungshilfe, sondern auch um Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsträgern wie zur Wohnungslosenhilfe, Ausbildungs- und Beschäftigungsförderung oder Gesundheits- bzw. Suchthilfe. Damit junge Menschen in solchen Übergangsprozessen nicht verloren gehen, möchten Carolyn Hollweg und Daniel Kieslinger mit dem von ihnen herausgegebenen Sammelband vorbeugen, „dass junge Menschen und Familien durch eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe neue Übergänge bearbeiten müssen, durch Komplikationen zusätzliche Belastungslagen und zeitliche Verzögerungen entstehen, die in letzter Konsequenz eine geringere Leistung(-squalität)“ (S. 12) bedeuten. Die von den Herausgeber:innen zusammengestellten 16 Beiträge basieren auf Expertisen und Erfahrungen aus dem Modellprojekt „Inklusion jetzt – Entwicklung von Konzepten für die Praxis“ (S. 17) und gewähren somit Einblicke in eine mögliche, gelungene Praxis zur Gestaltung von Schnittstellen und Übergängen in einer inklusiven Erziehungshilfe.
Herausgeber:innen und Autor:innen
Carolyn Hollweg ist Referentin im Evangelischen Erziehungsverband (EREV) und stellvertretende Leiterin des Modellprojektes „Inklusion jetzt – Entwicklung von Konzepten für die Praxis“. Daniel Kieslinger leitet das Modellprojekt und ist stellvertretender Geschäftsführer des Bundesverbandes Caritas Kinder- und Jugendhilfe (BVkE). Für den von ihnen herausgegebenen Sammelband haben sie sowohl Vertreter:innen verschiedener Modellstandorte (Anne Baggen, Markus Gnida, Barbara Henseler, Markus Meyer, Catja Teicher, Georg Kruse, Melanie Schindhelm, Tina Volkens, Ute Thumer) als auch Mitglieder im Projektbeirat (Benedikt Hopmann) und Referierende auf einem der Praxisworkshops (Jessica Feyer und Severine Thomas) gewinnen können.
Entstehungshintergrund
Wie bereits oben erläutert, ist dieser Sammelband im Kontext des Modellprojekts „Inklusion jetzt – Entwicklung von Konzepten für die Praxis“ entstanden.
Aufbau
Die mit der Einleitung insgesamt 17 Einzelbeiträge in diesem Sammelband gliedern sich in die folgenden sechs Kapitel:
- Kapitel 1 Von Schnittstellen zu Nahtstellen – Ansätze einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe
- Kapitel 2 Ein inklusives Übergangssystem braucht kommunale Verantwortung
- Kapitel 3 Übergänge und Schnittstellen in den Frühen Hilfen und der Schule
- Kapitel 4 Übergänge und Schnittstellen zwischen Schule und Beruf
- Kapitel 5 Übergänge zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie
- Kapitel 6 Übergänge und Schnittstellen zwischen Kinder-, Jugend- und Eingliederungshilfe
Inhalt
Kapitel 1, überschrieben mit „Von Schnittstellen zu Nahtstellen – Ansätze einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe“ beinhaltet das von Stephanie Dorsch, Geschäftsführerin des Landesverbandes Lebenshilfe, verfasste Vorwort und eine Einleitung, in der Carolyn Hollweg und Daniel Kieslinger als die beiden Herausgeber:innen gemeinsam mit Wolfgang Schröer in das Thema und die einzelnen Kapitel des Sammelbandes einführen. Ein besonderes Augenmerk richten sie dabei auf das hier schon oben erwähnte Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sowie auf die häufig von besonders prekären Lebenslagen betroffenen Careleaver:innen.
In Kapitel 2 wird der Fokus auf „kommunale Verantwortungsgemeinschaften“ (S. 17) gerichtet, denn eine inklusive Infrastruktur, in der Kindern, Jugendlichen und ihren Familien nahtlose Übergänge zwischen verschiedenen Rechtskreisen, Behörden und Angeboten sozialer und gesundheitlicher Hilfen gewährleistet werden, ist kommunal zu verankern. Programmatisch wird in diesem Zusammenhang gefordert, dass sich kommunale Verantwortungsgemeinschaften bilden, in denen alle Träger von Erziehungs- sowie Eingliederungs- bzw. Behindertenhilfen eng aufeinander abgestimmt zusammenarbeiten und sich zudem mit relevanten Bildungs- sowie Leistungsträgern und -anbietern wie Schulen, Wohnungslosenhilfe oder Beschäftigungsförderung vernetzen. So sollen auf die individuellen Bedarfe abgestimmte Hilfen gemeinsam und nachhaltig angeboten werden. Vier Beiträge, darunter drei mit unterschiedlichen Beispielen guter Praxis für so verstandene, kommunal realisierte inklusive Infrastrukturen, beinhaltet dieses 2. Kapitel:
- Das Hildesheimer Übergangsmodell skizzieren Jessica Feyer und Severine Thomas als Beispiel für ein inklusiv gestaltetes Care Leaving.
- Als ein Beispiel für „[i]nklusive Quartiersentwicklung“ (S. 43) stellt Ute Thumer das „Zukunftsprojekt Inklusives Quartier Hochgelegen in Heilbronn“ (S. 43) vor, das sich im Entstehungsprozess befindet.
- Eine andere Perspektive auf inklusive Infrastrukturen eröffnet Tania Helberg, die am Beispiel des Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe (BRJ e.V.) zeigt, wie Ombudsstellen Kinder und Jugendliche dabei unterstützen können, dass ihnen auch gegen Widerstände z.B. von Jugendämtern der Zugang zu für sie hilfreichen Angeboten gelingt.
- Dieses 2. Kapitel schließt mit dem Beitrag von Stephanie Ulrich, die sich mit den „Anforderungen an das Jugendamt“ (S. 73) auseinandersetzt, die sich aus dem KJSG ergeben.
Die beiden Beiträge im 3. Kapitel beschäftigen sich mit der Schnittstellengestaltung „in den Frühen Hilfen und der Schule“ (S. 78), im Einzelnen:
- Der Frage „Was bedeutet die Inklusionsthematik für die Frühförderung?“ (S. 79) geht Jürgen Kühl nach und stellt zunächst grundsätzliche, auch rechtlich basierte Überlegungen dazu an, was die UN-BRK für Inklusion in der Frühförderung bedeutet. Seine grundlegenden Ausführungen präzisiert er im Weiteren für „Inklusion im häuslichen Umfeld“ (S. 86) und Inklusion in der „Frühförderung in einer Krippe oder einem Kindergarten“ (S. 92).
- Stephan Ullrich blickt auf Inklusion in Kindertagesstätten, nachdem er sich zunächst kritisch mit dem medizinischen Begriff von Behinderung, den entsprechenden gesetzlichen Grundlagen und dem engen Inklusionsbegriff sowie dem soziologischen Ansatz des „doing disability/​difference“ (S. 114) beschäftigt hat. Bei diesen grundsätzlichen Überlegungen belässt er es jedoch nicht, sondern stellt abschließend das Programm „Hannoversche Kitas auf dem Weg zur Inklusion“ (S. 120) mit seinen Mindeststandards für eine „Inklusionsförderliche Kita“ (S. 126) als Beispiel für eine „[i]nkluionsförderliche Organisationsentwicklung“ (S. 120) in Kindertagesstätten vor.
Das 4. Kapitel beinhaltet drei Beiträge, die sich mit Übergängen zwischen Schule und Beruf bzw. Erwerbsarbeit auseinandersetzen:
- Im ersten Beitrag diskutieren Michael Breitsameter und Georg Kruse „Inklusion als Chance und Herausforderung für Berufsbildungswerke“ (S. 135) und richten dabei ihren Fokus besonders auf junge Menschen mit „special needs“ (S. 143).
- Auch anhand persönlicher Schilderungen von jungen Menschen zeigen Anne Baggen, Markus Gnida, Barbara Henseler, Markus Meyer und Catja Teicher am Beispiel der Stiftung Gute Hand, wie Care Leaver:innen inklusiv in den Beruf begleitet werden können.
- Insbesondere aufgrund der Vorgaben der UN-BRK und den damit verbundenen europäischen Regelungen stehen immer wieder Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) als Sondersysteme beruflicher Bildung in der Kritik. Michael Weber und Lena Marie Wagner nehmen diese kritischen Einwände auf und begründen, warum aus ihrer Sicht WfbM dennoch eine sinnvolle und damit auch erhaltenswerte „Alternative zur beruflichen Bildung“ (S. 189) sind.
In Kapitel 5 richtet sich der Fokus in vier Beiträgen auf „Übergänge zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie“ (S. 198).
- Einleitend zu diesem 5. Kapitel stellt Eric van Santen Erkenntnisse und Daten zusammen, die bereits zu Übergängen und Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie vorliegen.
- Am Beispiel der Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe der Diakonissen Speyer und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Klingenmünster (KJPP) des Pfalzklinikums zeigen Tina Volkens, Corinna Schneiderfritz, Melanie Schindhelm und Susanne Leib, wie die Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie inklusiv gestaltet werden kann.
- „Die Bedeutung von Schnittstellenarbeit in der Versorgung von suchtbelasteten Familien mit Blick auf eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe“ (S. 233) erläutern Kim Kemner, Niklas Helsper und Henning Hartmann vor dem Hintergrund der Ergebnisse, die in dem „Forschungsprojekt Steuerungswissen und Handlungsorientierung für den Aufbau effektiver interdisziplinärer Versorgungsnetzwerke für suchtbelastete Familien“ (S. 237) gewonnen wurden.
- Abschließend zu diesem 5. Kapitel zeigen Birgit Reddemann und Markus Trelle an dem vom Caritasverband für Stuttgart e.V. durchgeführten „Praxisbeispiel an der Nahtstelle zwischen Jugendhilfe und Wohnungslosenhilfe“ (S. 251), wie junge wohnungslose Frauen zwischen 16 und 18 Jahren niederschwellig in einer sogenannten Frauenpension unterstützt werden können. Dieses gute Beispiel basiert auf einer engen Kooperation zwischen dem Jugendamt als Kostenträger, der Expertise der Jugendhilfe und den Erfahrungen der Mitarbeiterinnen der Frauenpension.
Im abschließenden 6. Kapitel wird nochmal der Argumentationsfaden zum neuen KJSG aufgenommen und in drei Beiträgen der Blick auf „Übergänge und Schnittstellen zwischen Kinder-, Jugend- und Eingliederungshilfe“ (S. 264) gerichtet.
- Zunächst setzt sich Arne von Boetticher kritisch damit auseinander, ob die „Schnittstellenbereinigung im neuen KSJG“ (S. 265) und die dazu dort getroffenen Regelungen als „Motor oder Bremse einer ‚inklusiven Lösung‘“ (S. 265) gelten können.
- Heide Mertens begründet, warum für sie Mutter/​Vater-Kind-Einrichtungen nach § 19 SGB VIII bzw. KJSG „ein wichtiger Baustein einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe“ (S. 287) sein können.
- Der Sammelband schließt mit einem Beitrag von Daniela Molnar und Benedikt Hopmann, in dem sie die grundlegenden Unterschiede zwischen der „Kategorisierungsarbeit“ (S. 295) in der Kinder- und Jugendhilfe auf der einen und der Eingliederungs- bzw. Behindertenhilfe auf der anderen Seite beleuchten. Um nach dem deutschen Sozialrecht Sozialleistungen beziehen zu können, muss in der Regel zunächst ein entsprechender Bedarf und damit ein Defizit bei den Menschen festgestellt werden. So müssen Kinder und Jugendliche z.B. als ‚behindert‘, ‚benachteiligt‘, oder als ‚in ihrem Kindeswohl gefährdet‘ kategorisiert werden, damit ihnen entsprechende Hilfen nach dem SGB III, VIII oder IX gewehrt werden. Die institutionelle Handlungspraxis zur Kategorisierung von Kindern und Jugendlichen in der Eingliederungshilfe unterscheidet sich grundlegend von jener in der Kinder- und Jugendhilfe.
Diskussion
Der Sammelband illustriert eindrucksvoll die Vielfältigkeit der unterschiedlichen Praxisbeispiele und grundsätzlichen Überlegungen, die im Kontext des Modellprojektes „Inklusion jetzt – Entwicklung von Konzepten für die Praxis“ realisiert worden sind. Darin liegt einerseits seine Stärke, denn so können Leser:innen, die sich mit grundsätzlichen Fragen oder Beispielen guter Praxis für eine inklusive Erziehungshilfe beschäftigen möchten, auf eine gut gefüllte Fundgrube zurückgreifen und sich dadurch inspirieren lassen. Andererseits sehe ich darin jedoch auch sein Manko, denn ich vermisse klare Begriffsverständnisse und systematische Auseinandersetzungen mit grundlegenden Kontroversen, die sich um den Anspruch ranken, eine inklusive Erziehungshilfe und dazu auch inklusive Infrastrukturen gestalten zu wollen.
Fazit
Der Sammelband enthält zahlreiche und vielfältige Inspirationen für Beispiele guter Praxis und zu grundsätzlichen Überlegungen zu einer inklusiven Erziehungshilfe und den dazu notwendigen inklusiven Infrastrukturen. Der Band lädt insbesondere Praktiker:innen in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Eingliederungs- bzw. Behindertenhilfe zum Stöbern ein.
Rezension von
Prof. Dr. Ruth Enggruber
Hochschule Düsseldorf, FB Sozial- und Kulturwissenschaften
Mailformular
Es gibt 62 Rezensionen von Ruth Enggruber.
Zitiervorschlag
Ruth Enggruber. Rezension vom 17.04.2024 zu:
Carolyn Hollweg, Daniel Kieslinger (Hrsg.): Übergänge und Schnittstellen in einer inklusiven Erziehungshilfe. Kooperationen und Netzwerke auf dem Prüfstand. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2023.
ISBN 978-3-7841-3549-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30392.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.