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Stephan Hiller, Kieslinger Daniel et al. (Hrsg.): Prävention im Sozialraum

Rezensiert von Prof. Dr. Michael Noack, 25.09.2023

Cover Stephan Hiller, Kieslinger Daniel et al. (Hrsg.): Prävention im Sozialraum ISBN 978-3-7841-3506-9

Stephan Hiller, Kieslinger Daniel, Meininger Luisa (Hrsg.): Prävention im Sozialraum. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2023. 204 Seiten. ISBN 978-3-7841-3506-9. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Reihe: Beiträge zur Erziehungshilfe - 52.

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Thema

Chancen und Risiken sozialraumorientierter Sozialer Arbeit werden seit mittlerweile über 20 Jahren im sozialarbeiterischen Fachdiskurs intensiv erörtert. Mit dem Fachkonzept Sozialraumorientierung (Hinte, 2020) ist es gelungen, zentrale Aspekte sozialraumorientierter Sozialer Arbeit nicht nur im akademischen Diskurs zu reflektieren, sondern auch in der Praxis zu implementieren. Ein Handlungsfeld, in dem diese Implementierung bereits um die Jahrtausendwende begonnen hat, ist die Kinder- und Jugendhilfe. Dabei spielten und spielen immer auch Überlegungen zum Präventionspotenzial sozialraumorientierter Sozialer Arbeit eine Rolle. An diesen Überlegungen dockt die Publikation an.

Herausgeber:innen

Das Buch wurde von Stefan Hiller, dem Geschäftsführer des Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe (BVkE e.V.), Daniel Kieslinger, dem stellvertretenden Geschäftsführer des BVkE e.V. sowie Leitung des Projekts „Inklusion jetzt!“ und Luisa Meininger, vom BVkE e.V. und Leiterin des Projekts „Zukunft Ganztagsbetreuung!“ herausgegeben.

Entstehungshintergrund

Der BVkE e.V. Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe führte von 2018 bis 2020 das Projekt „Prävention im Sozialraum – eine Bestandsanalyse in den Hilfen zur Erziehung“ durch. In der Publikation werden zentrale Projektergebnisse dargestellt und diskutiert.

Aufbau

Die Publikation ist in vier Kapitel untergliedert:

  • Im ersten Kapitel werden theoretische und fachliche Grundlagen sozialraumorientierter Sozialer Arbeit erörtert.
  • Das zweite Kapitel ist dem politischen Diskurs zur sozialraumorientierten Sozialen Arbeit gewidmet.
  • Praxisbeispiele zur Prävention im Sozialraum werden im dritten Kapitel vorgestellt.
  • Im vierten Kapitel geht es um Forschungsergebnisse zu sozialraumorientierten Präventionsangeboten.

Inhalt

Einleitend weist Luisa Neininger darauf hin, dass niederschwellige Angebote in der Kinder- und Jugendhilfe Wirkung zeigen würden, weshalb sich der Diskurs zum Ausbau niederschwelliger Hilfen intensiviert habe (vgl. S. 7). Ausgehend von der Feststellung der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eingesetzten Arbeitsgruppe zur Novellierung des SGB VIII, dass Hürden abzubauen und formale Entscheidungsprozesse zu reduzieren sind, um niederschwellige Angebote zu stärken, sah der BVkE e.V. den „Bedarf, die sozialräumlichen Angebote und Strukturen seiner Mitgliedseinrichtungen und Dienste zu stärken und initiierte das Projekt ‚Prävention im Sozialraum – eine Bestandsanalyse in den Hilfen zur Erziehung‘.“ (ebd.) Die Studie diente dazu, den Wissenskanon über Angebote, Wirksamkeitsindikatoren, erfolgskritische Aspekte und geeignete Finanzierungsmodelle für niederschwellige Hilfen zu erweitern.

Das erste Kapitel beginnt mit dem Beitrag „Sozialraumorientierung als Arbeitsprinzip (in) der Sozialen Arbeit?“ von Stefan Godehardt-Bestmann. Anhand eines fiktiven Fallbeispiels erörtert der Autor, in welchem Verhältnis Eigensinnigkeit und institutionelle Logiken stehen. Der Alltag der „Familie Kleinschmidt“ ist von Herausforderungen geprägt, die verschiedene sozialarbeiterische Arbeitsfelder und andere Professionen betreffen: Zu enger und teurer werdender Wohnraum, schulische Herausforderungen der Kinder, Pflege der Großtante etc. Godehardt-Bestmann weist darauf hin, dass „die Profis sich stets nur mit einzelnen Teilausschnitten aus dem für Familie Kleinschmidt gleichwohl zusammenhängenden und damit einem Lebensalltag befassen (müssen)“, wodurch „Wechselwirkungsdynamiken“ zwischen „Verhältnissen und Verhaltensweisen“ (S. 13 [Hervorheb. i.Orig.]) aus dem Blick geraten würden. An dieser Herausforderung setze das Fachkonzept Sozialraumorientierung an. Um Menschen dabei zu unterstützen, einen von ihnen gewollten gelingenderen Alltag zu gestalten, würde mit sozialraumorientierter Sozialer Arbeit „neben der einzelfallspezifischen Dimension“ auch „sozialstrukturell einflussnehmende Phänomene“ fokussiert, um sie „gemeinsam mit den Adressat*innen zur Veränderung zu bringen.“ (ebd., S. 14 [Hervorheb. i.Orig.]). Um dies zu ermöglichen, beinhalte das Fachkonzept Sozialraumorientierung methodische Ansätze, die dazu dienen herauszufinden, „was die Menschen überhaupt wollen.“ (ebd., S. 15) Allerdings würden es hilfesystemische Prozesse erschweren, die Willensorientierung und die anderen vier Prinzipien sozialraumorientierter Sozialer Arbeit in der Berufspraxis zu berücksichtigen: „Wie soll die Mitarbeiterin ressourcenfokussiert arbeiten, wenn maßgeblich die Defizite stets hervorzuheben sind?“ (ebd., S. 16)

Anschließend beschäftigt sich Sebstian Dirks mit „raum(re)produktionstheoretischen Skizzen“, da der „Gegenstand der Sozialraumorientierung, der Sozialraum (…) thoeretisch nur vage bestimmt sei.“ (S. 21) Zudem seien auch die Prinzipien sozialraumorientierter Sozialer Arbeit nach Hinte „unbestimmt“, weshalb es notwendig sei, eine „raumtheoretisch versierte Perspektive einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit als Sozialraumarbeit“ einzunehmen. Sozialraumorientierung wird vom Autor als „Programm“ dargestellt. Als solches entspreche es zwar nicht der Realität, könne sich jedoch auf Realitäten auswirken, weil es Denk- und Verhaltensweisen von Praktiker:innen beeinflusse und in Gesetze eingewoben werden würden (vgl. S. 22). Anschließend wiederholt der Autor eine Kritik, die so alt ist, wie das Fachkonzept Sozialraumorientierung selbst: Das dem Fachkonzept zugrunde liegende Raumverständnis komme einer Container-Raumorientieurng gleich. Sodann geht Dirks auf Bourdieus Raumbegriff als Alternative ein (vgl. S. 23 f.), um anschließend Löws relationales Raumkonzept als „Standard der raumtheoretischen Vergewisserung in der Sozialen Arbeit“ (S. 24) vorzustellen. Anschließend geht der Autor auf die „raum(re)produktionstheoretische Perspektive“ von Kessl und Reutlinger sowie auf die von Lefebvre formulierte kapitalismuskritische Forderung auf ein Recht auf Stadt ein (vgl. S. 25 – 27). Sodann erörtert Dirks „theoretische Anknüpfung[en]“, um „praxistheoretische Überlegungen“ anzustellen (vgl. S. 28 f.). Dabei nimmt er einerseits Raum und Alltagsleben in den Blick, um Raum als Produkt und Wirklichkeit des Alltagslebens zu erörtern. Unter der Überschrift „Raum und Praktiken“, weist der Autor darauf hin, dass die Fokussierung von Praktiken dazu diene „Herstellungsprozesse des Sozialen“ zu analysieren. Abschließend bündelt Dirks seine vorangegangen Erörterungen, die dazu führen würden, sozialstrukturelle Aspekte und alltägliche Praktiken miteinander zu verknüpfen (vgl. S. 30).

Anschließend gehen Fabian Kessl und Christian Reutlinger auf ihr Programm einer „Sozialraumarbeit als professionelle Tätigkeit in sozialräumlichen Zusammenhängen und am Sozialraum“ ein und weisen darauf hin, dass die vorliegenden Ausführungen auf ihren „jüngsten Überlegungen“ (S. 34) basieren würden. Die Autoren grenzen einleitend ihr Programm der Sozialraumarbeit wie gewohnt vom Fachkonzept Sozialraumorientierung nach Hinte mit dem Anspruch ab, räumliche Konstruktionsprozesse in den Blick nehmen zu wollen, „die dazu führen, dass Gesellschaftsmitglieder ihre Angebote nutzen oder nutzen müssen.“ (S. 35) Kern das Programms der Sozialraumarbeit sei eine reflexive räumliche Haltung, die sich in einer Kontextualisierung und Positionierung konkretisiere. In konkreten räumlichen Kontexten ginge es um die Frage, inwiefern Sozialarbeitende eine parteiliche Haltung für ihre Nutzer:innen einnehmen können (vgl. S. 36). Dafür sei es notwendig, gesellschaftliche Verhältnisse zu reflektieren, sich mit den „Spezifika und Bedeutungen des jeweiligen Sozialraums“ auseinanderzusetzen und professionelles „Agieren reflexiv in den Blick“ (ebd., S. 37) zu nehmen, um die Handlungsfähigkeit von Menschen zu eröffnen und zu erweitern.

Das zweite Kapitel ist dem politischen Diskurs zur sozialraumorientierten Sozialen Arbeit gewidmet.

Maria Lüttringhaus und Colin Paterson beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Methoden der fallunspezifischen und fallübergreifenden Arbeit für die Arbeit in Regeleinrichtungen. Mit Bezugnahme auf Hinte und Oelschlägel charakterisieren sie das Fachkonzept Sozialraumorientierung als ein „systematisch praktiziertes Arbeitsprinzip“ (S. 42), das im Bereich der Hilfen zur Erziehung eine doppelte Präventionsfunktion einnehmen könne: „Prävention und Prävention vor Rückfällen“ (S. 42). Anschließend heben die Autor:innen die dem Fachkonzept Sozialraumorientierung inharänte Ressourcenorientierung hervor, die auch Kernbestandteil des Case Managements sei, ohne dass jedoch darauf eingegangen wird, zu welchem Zweck Sozialraumorientierung und Case Management in dem Beitrag miteinander in Bezug gesetzt werden. Anhand „fingierter Teamprotokolle“ (S. 43) gehen die Autor:innen anschließend darauf ein, wie sich in ressourcenorientiert arbeitenden Sozialraumteams im „Rundlaufverfahren“ (S. 45) fallunspezifisches Ressourcenwissen bündeln lässt, damit die Fachkräfte für ihre einzelfallbezogenen Tätigkeiten von den Ressourcenkenntnissen ihrer Kolleg:innen „profitieren“ können (vgl. 45 f.). Das Ziel ressourcenorientierer Sozialraumteamarbeit bestehe u.a. darin, „den Blick (…) vor dem Hintergrund des konkreten Einzelfalls auf die Ressourcen des Sozialraums zu richten.“ (S. 47) Sodann widmen sich die Autor:innen den Verfahren fallunspezifischer Ressourcenbergung und -entwicklung. Neben ressourcenerkundenden „Stadtteilspaziergängen“ sei auch das Verfahren „10 Minuten nach dem Beratungsgespräch“ geeignet, um im Anschluss an ein Beratungsgespräch die Menschen darum zu bitten, von Ressourcen und Ressourcendefiziten in ihrem Wohnumfeld zu berichten (vgl. S. 49).

Andreas Kuhn hat sich mit der Bedeutung der menschenrechtsorientierten Inklusionsdebatte für die Kinder- und Jugendhilfe beschäftigt. Ausgehend vom Konzept der assistierten Autonomie hebt der Autor die Zugehörigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zum Universalismus der Menschenrechte hervor (vgl. S. 54), um darauf hinzuweisen, dass in der UN-BRK Behinderung als Bestandteil menschlicher Vielfalt begriffen werde. Anschließend geht Kuhn auf die Reichweite und Bedeutung der UN-BRK für die kommunale Gestaltung der Kinder- und Jugendhilfe ein. Dabei erörtert er, wie die UN-BRK die Inklusionsdebatte in der Kinder- und Jugendhilfe angefacht habe, die u.a. in die Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen gemündet sei (vgl. S. 55 f.). Nach der Thematisierung von Spannungsfeldern der inklusiven Weiterentwicklung außerfamiliärer Wohnformen stellt der Autor das „4 A Schema“ vor, mit dem sich die Umsetzung der UN-BRK reflektieren lässt (vgl. S. 58). Schließlich zieht der Autor ein Fazit, bei dem er die Notwendigkeit einer „konzeptionellen und strukturellen Revision aller Angebote und der Kinder- und Jugendhilfe, sowie deren Vernetzung und Kooperation mit weiteren Bereichen der Unterstützung (insbesondere SGB V; SGB IX; SGB XI)“ (S. 58) hervorhebt.

Rainer Wiesner fokussiert in seinem Beitrag die Möglichkeiten, die das durch das KJSG novellierte SGB VIII für sozialräumliche (Präventions)Angebote bietet. Einleitend schildert der Autor die Ausgangslage zur rechtlichen Betrachtung des „Phänomens“ (S. 60) Sozialraumorientierung, das aufgrund angespannter kommunaler Haushaltssituationen, nicht als Fachkonzept, sondern „entgegen dem Anspruch des Fachkonzepts“ (ebd.) als Sparprogramm eingesetzt werden könne. Darüber hinaus führe die Diskussion über das „inhaltlich wenig konturierte“ Fachkonzept Sozialraumorientierung zu unterschiedlichen Erwartungen an das Recht. Dies schildert der Autor anhand unterschiedlicher Perspektiven auf „Sozialraumorientierung in der Fallarbeit, [und] Sozialraumorientierung als Organisationsmodell oder sozialräumliche Finanzierungsmodelle“ (S. 62). Unter der Überschrift „Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe“ erörtert Wiesner die Frage, „mit welcher Zielsetzung der Sozialraumorientierung im Recht der Kinder- und Jugendhilfe größere Bedeutung verschafft werden soll“ (S. 62). Zu diesen Zielen würden die Würdigung bisher noch nicht ausgeschöpfter Potenziale des Fachkonzepts, die Verortung sozialraumorientierter Hilfen als neue Hilfeform im sogenannten primär- und sekundärpräventiven Bereich, der Einsatz des Fachkonzepts für die Leistungserbringung in einem sozialen Raum, die Nutzung der Sozialraumorientierung als Steuerungskonzept für die Deckung von Hilfebedarfen, das Verständnis von Sozialraumorientierung als Finanzierungskonzept für infrastrukturelle Angebote oder die missbräuchliche Anwendung des Fachkonzepts als Sparprogramm (vgl. ebd.) gehören. Darüber hinaus würden Protagonist:innen der Sozialraumorientierung das sozialrechtliche Leistungsdreieck und das Wunsch- und Wahlrecht infrage stellen, was die aktuelle Rechtsprechung als unzulässig erklärt hat. Anschließend geht der Autor auf Bezüge zum sozialen Raum ein, die sich im SGB VIII schon vor der Verabschiedung des KJSG finden ließen (vgl. S. 64 f.). Sodann erörtert Wiesner „Kritik von Seiten der Protagonist:innen der Sozialraumorientierung“ am SGB VIII. Bei der Kritik, dass das Bewilligungsverfahren für eine erzieherische Hilfe zu bürokratisch sei, würde außer Acht gelassen werden, dass § 36a, Abs. 2, SGB VIII eine unmittelbare Inanspruchnahme zulasse. Vor dem Hintergrund der Debatte um „die Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung“ in den Jahren 2016–2017 resümiert Wiesner, dass „es aber nicht darum gehen [darf; M.N.], die verschiedenen Hilfetypen gegeneinander auszuspielen, sondern es ist die Aufgabe, die individuellen Einzelfallhilfen einerseits und sozialräumliche Ressourcen andererseits wechselseitig anschlussfähig zu gestalten.“ (S. 68 f.) Anschließend beschäftigt sich Wiesner mit der Finanzierung sozialräumlicher Angebote und erörtert dabei die Finanzierungsform des Sozialraumbudgets, das dazu diene fallübergreifende und fallunspezifische Arbeit mit zu finanzieren und erzieherische Hilfen zu vermeiden. Im Fachdiskurs sei dabei die Kritik geäußert worden, dass die postulierten Wirkungen nicht mehr hinterfragt werden würden. Dabei bezieht sich Wiesner auf Publikationen von Sandermann/​Urban aus dem Jahr 2007 und von Weber aus dem Jahr 2012 (vgl. S. 69 f.). Grundsätzlich werfe die Finanzierungsdebatte nach Wiesner die Frage auf, weshalb überhaupt über die Finanzierung debattiert wird, weil die Finanzierungsfrage „akzessorischen bzw. nachgelagert“ (ebd.) sei. Darüber hinaus stelle sich die Frage, weshalb die Debatte auf die Finanzierung freier Träger fokussiert sei, wenn doch auch „Dienste des Jugendamts in vergleichbarer Weise sozialräumlich arbeiten“ (ebd.) könnten. Darüber hinaus sei zu beanstanden, dass „der Status der Menschen im sozialen Raum“ geschwächt werde „weil sie der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich der Realisierung ihrer Rechte an den beauftragten Träger der freien Jugendhilfe verweisen würde.“ (S. 70) Schließlich sei zu kritisieren, warum fallübergreifende und fallunspezifische Arbeit aus dem Haushalt der Kinder- und Jugendhilfe finanziert werden solle, wenn die Protagonist:innen immer wieder betonen, dass „Sozialraumorientierung den konzeptionellen Hintergrund für das Handeln in allen Feldern sozialer Arbeit bildet.“ (ebd.) In seinem Fazit geht Wiesner auf seine Perspektive ein, wonach Kritik am Jugendhilferecht (Angebot- statt Willensorientierung, Versäulung etc.) keine Folge der gesetzlichen Logik seien, weil „Spielräume hinsichtlich der Entwicklung maßgeschneiderter Hilfen (§ 27, Abs. 2, SGB VIII)“ (S. 74) enthalten seien. Wenn dieses Potenzial nicht ausgeschöpft werde, liege dies an „fehlerhafter Rechtsanwendung“. (ebd.)

Johanna Sinoplu geht in ihrem Beitrag darauf ein, wie sich Bildung durch multiperspektivische Zusammenarbeit gestalten lässt. Zunächst widmet sich die Autorin kritisch dem Präventionsbegriff, der auch als defizitorientierte Vermeidungsstrategie (vgl. S. 76) missverstanden werden könne. Ausgehend von dieser Kritik hebt sie die Rolle der Partizipation von Adressat:innen der Kinder- und Jugendhilfe bei der Gestaltung von Präventionsmaßnahmen hervor. Um zu schildern wie sich Bildung multiperspektivisch gestalten ließe, geht die Autorin sodann auf die Funktion kommunaler Bildungslandschaften ein, die einen personenübergreifenden kommunalen Austausch ermöglichen würden, was zu einer verbesserten Koordination von Bildungsübergängen führen könne (vgl. S. 79). Schließlich weist Sinoplu auf die Notwendigkeit einer multiperspektivischen Bildungsgestaltung hin, bei der Vertreter:innen der non-formalen Bildung mit ihrer Expertise als Bildungspartner:innen nicht übersehen werden sollten (vgl. S. 80).

Nina Thieme beschäftigt sich mit sozialraumorientierten ganztägigen Bildung-, Erziehungs- und Betreuungsarrangements. Ausgehend vom sogenannten „PISA-Schock“ geht die Autorin darauf ein, dass mit der Förderung von Ganztagsschulen Bildungsungerechtigkeiten kompensiert werden sollen. Laut der Autorin es ist es dafür erforderlich, dass sich Schulen konsequent dem Sozialraum öffnen. Daraufhin setzt sie sich kritisch mit der Fokussierung der Herkunft als Ursache für Bildungsbenachteiligung auseinander: „eine derartige Fokussierung [kann; M.N.] mit der Ausblendung weiterer Ungerechtigkeits(re)produzierender Aspekte“ (S. 83) einhergehen. Daher sei es relevant, dass ganztägige Bildung-, Erziehung- und Betreuungsarrangements „Lern- und Lebensbedingungen im Sozialraum für Kinder, Jugendliche und ihre Familien positiv beeinflussen“. Dafür sei es unter anderem erforderlich, defizitorientierte Kooperationsangebote in benachteiligten Stadtteilen zu reduzieren und Kooperationen zu initiieren, die über einen reinen Informationsaustausch hinausgehen (vgl. S. 83 f.).

Das dritte Kapitel beinhaltet Beispiele guter Praxis. Im ersten Beitrag von Daniel Hahn werden Jugendhilfestationen thematisiert. Er geht darauf ein, wie das Haus Nazareth „gemeinsam mit dem Landkreis Sigmaringen“ Jugendhilfestationen entwickelt hat, deren Hauptziel in der Schaffung „eines lebensweltbezogenen und sozialräumlichen Hilfearrangements“ (S. 89) besteht. Die Novellierung des SGB VIII habe zu einer Begünstigung der Umsetzung dieses Modellprojekts geführt. Als Beispiel nennt der Autor § 27, Abs. 2 SGB VIII, mit dem die Möglichkeit besteht, unterschiedliche Hilfearten zu kombinieren, was früher häufig daran gescheitert sei, dass „die strukturellen und bürokratischen Hürden“ (S. 90) zu hoch gewesen seien.

Britta Schmitz und Georg Spilles stellen das Projekt „Chance for Kids“ vor, dem die Idee zugrunde liegt „die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe (Familienberatungsstellen) und Gesundheitswesen (Suchthilfe) für Familien mit psychisch erkrankten Eltern voranzutreiben.“ (S. 93) In ihrem Beitrag beschäftigen sie sich mit der Frage, wie Brücken zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen gebaut werden können. Als Geleingensfaktoren heben sie u.a. das Finden einer gemeinsamen Sprache durch Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen und der Jugendhilfe hervor. Darüber hinaus seien eine gesicherte Finanzierung und auskömmliche Stellenumfänge relevant für erfolgreiche Kooperationen (vgl. S. 96 f.).

Emil Hartmann geht in seinem Beitrag auf das zirkuspädagogische Projekt „Zirkus Giovanni“ ein. Das zirkuspädagogische Projekt wurde vom Don Bosco Jugendwerk entwickelt und habe gezeigt, dass sich die Einbettung erzieherische Hilfen in den Sozialraum durch das Projekt verbesserte. Als pädagogische Leitlinien nennt der Autor die Pädagogik Don Boscos, die unter anderem eine Haltung der bedingungslosen Annahme von jungen Menschen erfordere (vgl. S. 99). Das zirkuspädagogische Projekt sei an Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 25 Jahren in der Stadt Bamberg adressiert. Neben der Zielsetzung, individuelle Kompetenzen zu fördern trage das Projekt zur Einbettung erzieherischer Hilfen in den Sozialraum durch eine Erweiterung des internen sowie externen Erfahrungsraums junger Menschen und die Verbesserung der Lebens- sowie Freizeitqualität für alle Menschen im Sozialraum bei (vgl. S. 103). Durch aufsuchende Arbeit, die aus dem Projekt heraus in Kooperation mit anderen sozialen Einrichtungen stattfindet, würden die Familien im Sozialraum Entlastung durch die Schaffung und Vermittlung eines Betreuungsangebotes erfahren (vgl. S. 106).

Benedikt Jochheim und Luisa Neininger gehen darauf ein, wie die sozialräumliche Vernetzung zwischen einer Ganztagsschule und dem Wunderhof, einem Jugendzentrum, gelingen kann. Ein Gelingensfaktor seien flexible Abholzeiten: „Die Besonderheit des Wunderhofs stellt das Konzept Teil-Offenen-Tür (TOT) dar. Die vielfältige Nutzung des offenen Ganztags in den Räumlichkeiten des Wunderhofs (…) geht fließend in die TOT über. Somit haben die Kinder im Ganztag die Möglichkeit das Angebot der TOT direkt im Anschluss an den Ganztag bis 19.00 Uhr zu nutzen.“ (S. 111)

Im vierten und letzten Kapitel geht es um eine empirische Studie mit dem Titel „Prävention im Sozialraum – Eine Bestandsanalyse in den Hilfen zur Erziehung“. Im ersten gleichnamigen Beitrag von Monika Feist-Ortmanns, Thea Schmollinger und Clara Sartingen werden einleitend Hintergrund und Ziel der Studie beschrieben. Die Studie habe an der Debatte um eine Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung angedockt, bei der es um die „Stärkung von Angeboten, die leicht zugänglich sind und Menschen dort ansprechen, wo sie sich ohnehin aufhalten und dadurch Potenzial frühzeitiger ihre Wirkung entfalten können“ (S. 115) gegangen sei. Das Ziel bestand darin „einen Beitrag zur Operationalisierung und Verortung zu schaffen, indem zunächst der Bestand analysiert und darauf aufbauend eine empirisch fundierte Übersicht über niedrigschwellige, präventive und sozialraumorientierte Angebote im Arbeitsfeld der Erziehungshilfen erstellt wird.“ (S. 116) Dem dargestellten Forschungsdesign liegt eine Mixed-Method-Logik zugrunde. Es besteht aus vier Arbeitspaketen, die qualitative und quantitative Methoden der Sozialforschung beinhalten (vgl. S. 117–122). Qualitative und quantitative Erhebungen wurden separat durchgeführt und ausgewertet, und interpretativ zusammengeführt. Interessant ist, wie im Rahmen der Studie mit den in Praxiszusammenhängen nicht immer einfach zu durchschauenden akademischen Diskurs zur sozialraumorientierten Sozialen Arbeit umgegangen wurde, bei dem eher selten tatsächliche inhaltliche Unterschiede diskutiert werden, sondern vor allem um Diskursmacht gerungen wird. Im Rahmen der Datenerhebung wurde „zum einen Raum für das Begriffsverständnis in der Alltagspraxis“ geschaffen, um der Frage nachzugehen „wie Sozialraumorientierung“ angewendet wird, „zum anderen sollte jedoch auch ersichtlich werden welche Rolle das Fachkonzept der Sozialraumorientierung (vgl. Hinte/Treeß 2014) und dessen Prinzipien spielen.“ (S. 134). Die Autorinnen arbeiten aus den Studienergebnissen plausibel heraus, welche Prinzipien in welchen Arbeitsfeldern als besonders relevant erörtert wurden. So spielte etwa im Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung die Willensorientierung eine höhere Rolle als die anderen vier Prinzipien sozialraumorientierter Sozialer Arbeit, während im Arbeitsfeld der erzieherischen Hilfen „die einzelnen Elemente des Fachkonzepts deutlich ausgeglichener“ benannt wurden. Als eine Quintessenz der Studie heben die Autor:innen hervor, „dass sich Leistungserbringer als Teil einer niedrigschwelligen, präventiven und sozialraumorientierten Infrastruktur sehen.“ (S. 177). Als Entwicklungspotenziale nennen sie sozialrechtliche Weiterentwicklungen, mit denen es gelingen kann, den „Ausbaubedarf niedrigschwellige Angebote, die ohne Antragstellung in Anspruch genommen werden können,“ (ebd.) zu fördern.

Diskussion

Den Herausgeber:innen ist es mit dieser Publikation gelungen, Vertreter:innen zweier unterschiedlicher Standpunkte zur sozialraumorientierten Sozialen Arbeit in einem Buch zu Wort kommen zu lassen. Auf der einen Seite finden sich Protagonist:innen des Fachkonzepts Sozialraumorientierung (Godehardt-Bestmann, Lüttringhaus und Patersen). Auf der anderen Seite kommen auch Befürworter:innen des Programms einer Sozialraumarbeit zu Wort (Dirks, Kessl und Reutlinger).

Godehardt-Bestmann ist es gelungen, über eine fallbeispielbasierte Darstellung der fünf methodischen Prinzipien des Fachkonzepts aufzuzeigen, inwiefern sozialraumorientierte Soziale Arbeit dazu beitragen kann, hilfesystemische Kolonialisierungen des individuellen Eigensinns zu vermeiden. Diese Darstellung hätte davon profitieren können, bereits zu Beginn des Beitrags aufzuzeigen, auf welchen Theorien das Fachkonzept basiert, um notwendigerweise abstrakte theoretische Aussagen zur willensorientierten Verknüpfung von Person und Raum, zur Vermeidung hilfesystemischer Kolonialisierungen und defizitorientierter Hilfegestaltungen handlungmethodisch, zu erden.

Dirks, Kessl und Reutlinger haben ihr Programm einer Sozialraumarbeit basierend auf kritischen Auseinandersetzungen mit dem Fachkonzept Sozialraumorientierung begründet. Allerdings entsteht der Eindruck, dass sich weder Dirks noch Kessl und Reultinger vorab umfassend mit den Inhalten des Fachkonzept Sozialraumorientierung auseinandergesetzt haben.

Dies zeigt sich etwa in der Aussage Dirks, Gegenstand der Sozialraumorientierung sei der Sozialraum. Ohne viel Aufwand lässt sich durch die Rezeption einschlägiger Quellen (Nuss 2022; Hinte 2020) schnell erfassen, dass nicht irgendwelche räumlichen Bezüge Gegenstand des Fachkonzepts Sozialraumorientierung sind, sondern das Wechselverhältnis zwischen Person und Raum, „das sich konsequenterweise immer richtet, zum einen auf die Erweiterung des Innenraums eines Menschen durch eine konsequente Orientierung an individuellen Interessen, Fähigkeiten und Lebensentwürfen, zum anderen auf die Erweiterung des den Menschen umgebenden äußeren Raumes, wobei es immer sowohl um die bessere Ausstattung des ‚Raumes‘ geht (erschwinglicher Wohnraum, funktionierendes Internet, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Grünflächen und bebauter Umwelt, wohnortnahe Dienstleistungen usw.) (…).“ (Hinte, 2022, S. 104).

Es ist irritierend, dass nach einer mittlerweile annähernd 30-jährigen Debatte zu unterschiedlichen Positionen sozialraumorientierter Sozialer Arbeit Kritiker:innen des Fachkonzepts Sozialraumorientierung nach wie vor den unwissenschaftlichen Weg wählen, Konzeptbestandteile aus ihrem Gesamtzusammenhang zu reißen, um sie einer Kritik zugänglich zu machen, die sich erübrigen würde, wenn das Fachkonzept zunächst ganzheitlich dargestellt werden würde.

Worauf Dirks zu Recht hinweist, ist der Standard einer raumtheoretischen Vergewisserung zu sozialraumorientierten Sozialen Arbeit, die sowohl Protagonist:innen das Fachkonzepts Sozialraumorientierung (vgl. Hinte, Treeß, 2014, S. 31 f.) als auch des Programms der Sozialraumarbeit vorwiegend bei Löws (2001) Konzept eines relationalen Raumbegriffs suchen und finden. Insofern liegt dem Fachkonzept Sozialraumorientierung keine Containerraumorientierung zugrunde. Der Löw'sche Raumbegriff wurde nicht für das Programm einer Sozialraumarbeit gepachtet, ebenso wenig wie die Verknüpfung sozialstruktureller Aspekte mit alltäglichen Praktiken, die Dirks propagiert. Dies leisteten bereits Budde, Früchtel und Cyprian (2013) vor 20 Jahren mit dem SONI-Modell; insbesondere in der Handlungsdimension der Sozialstruktur. Dies erwähnen Kritikerinnen des Fachkonzept Sozialraumorientierung (beabsichtigt?) systematisch nicht.

Kessl und Reutlinger weisen in ihrem Beitrag einleitend darauf hin, dass dieser auf jüngsten Überlegungen basiere. Hier fragt sich Mensch als Leser:in: ist das oder sollte das nicht der Normalfall für Fachbeiträge sein? Ansonsten stellt sich die Frage, wie die kritisch-reflexiven Ansprüche des Programms einer Sozialraumarbeit tatsächlich in die Praxis übersetzt werden können, wenn etwa von Sozialarbeitenden eine parteiliche Haltung für ihre Nutzer:innen gefordert wird. Ist es bspw. fachlich und ethisch vertretbar, für die politische bzw. demokratiegefährdende Einstellung rechtsextrem eingestellter Personen, mit denen eine Fachkraft arbeitet, anwaltschaftlich (vgl. S. 36) zu sein?

Der Mehrwert des Beitrags von Lüttringhaus und Patersen besteht insbesondere in der sehr praxisbezogenen Darstellung fallunspezifischer Arbeit in und durch Sozialraumteams. Allenfalls die nicht weiter begründete und reflektierte Verknüpfung des Fachkonzepts Sozialraumorientierung mit dem Case-Management-Konzept irritiert, weil sich zentrale Protagonist:innen des Fachkonzepts Sozialraumorientierung dezidiert vom Case Management Konzept abgrenzen (vgl. Hinte, Treeß, 2014, S. 47).

Kuhn hat in seinem Beitrag plausibel aufgezeigt, inwiefern Angebote der Kinder und Jugendhilfe einer konzeptionellen und strukturellen Revision zu unterwerfen sind, damit sie sich orientiert an der UN-BRK ausgestalten lassen.

Wiesner trägt in seinem Beitrag Argumente zur kritischen Reflexion sozialraumorientierter Sozialer Arbeit nach dem Fachkonzept Sozialraumorientierung zusammen, die bereits vielfach diskutiert und auch teilweise entkräftet wurde. Zunächst irritiert, dass er von einem wenig inhaltlich konturierten Fachkonzept spricht, obwohl er vorab Quellen darstellt, durch deren Rezeption sich ihm die Konturierung dieses Fachkonzept erschließen würde. Durch die Rezeption dieser Quellen hätte sich auch der Fehlschluss vermeiden lassen, Sozialraumorientierung in drei Aspekte zu differenzieren: Sozialraumorientierung in der Fallarbeit, als Organisationsmodell und als sozialräumliche Finanzierungsmodell. Tatsächlich handelt es sich bei Sozialraumorientierung um ein ganzheitliches Fachkonzept, das von der Ebene des Organisationsaufbaus über finanzierungstechnische Verfahren bis hin zur Handlungsmethodik Vorschläge für die Weiterentwicklung Sozialer Arbeit beinhaltet.

Wiesners Hinweis, wonach die aktuelle Rechtsprechung sozialraumorientierte Finanzierungsverfahren als unzulässig erklärt, wenn sie das Wunsch und Wahlrecht gefährden, ist ebenso korrekt wie nicht mehr ganz aktuell. Tatsächlich wurde und wird in vielen Kommunen, die das Fachkonzept Sozialraumorientierung zur Weiterentwicklung kommunaler Hilfesystemen nutzen, auf diese Rechtsprechung durch Öffnungsklauseln in den Kooperationsverträgen mit den Leistungserbringern reagiert, wie sie sich bspw. in den Kooperationsverträgen für die Sozialraumteams in Stuttgart, Hannover, Frankfurt (Oder), Rosenheim, Celle, Siegen, im Landkreis Tübingen, in Kamp-Lintfort, Dorsten, im Landkreis Nordfriesland (vgl. Hinte et al. 2003: 53) und in der Stadt Rosenheim (vgl. Stähr 2010: 74) finden lassen. Zu den von Wiesner genannten Bezügen zur sozialraumorienterten Sozialen Arbeit im SGB VIII ist hinzuzufügen, dass es auch einer veränderten Finanzierungslogik bedarf, damit die Hilfegestaltung ausgehend vom Willen der Menschen und nicht von vorhandenen Trägerangeboten erfolgt. Insofern ist Wiesner Recht zu geben: Es geht nicht darum, verschiedene Hilfetypen gegeneinander auszuspielen. Aber es kann auch nicht draum gehen, diese vorzuhalten und individuellen Interessen und Hilfebedarfen überzustülpen. Sozialraumorientierte Soziale Arbeit zielt darauf ab, Hilfsangebote als Elemente individueller Unterstützungssettings zu verstehen, die es von Fall zu Fall aufs Neue zu (re)kombinieren gilt. Dies lässt sich durch flexible Finanzierungsverfahren ebenso fördern wie durch miteinander verknüpfte fallspezifische, fallunspezifische und fallübergreifende Arbeit. Dass diese Verknüpfung präventiv wirkt, wodurch sich Fälle und damit Kosten vermeiden lassen, wurde empirisch bestätigt (Richardt, 2017), und zwar in aktuelleren Untersuchungen als der, die Wiesner zitiert hat (Sandermann, Urban, 2007). Wiesners Argument, wonach Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich die Realisierung individueller Rechtsansprüche an den beauftragten Träger der freien Jugendhilfe delegieren würde, ist schlicht nicht haltbar. Sozialräumliche Umbauprozesse gehen nicht mit der Delegation der Verfahrensverantwortung des öffentlichen Leistungsträgers an Leistungserbringer einher. Berichte zu sozialräumlichen Umbauprozessen aus der Praxis zeigen regelmäßig, dass die Verwischung der Verfahrens- und Falldurchführungsverantwortung nicht erfolgt. So führt Sandner-Koller (2012, S. 19; Hervorheb. i. Orig.) zum Hilfeplanverfahren in der sozialraumorientierten Jugendhilfe der Stadt Graz aus: „Grundsätzlich haftet das Jugendamt als öffentlicher Träger für den gesamten Prozess […]. Das Jugendamt hat somit die Verfahrensverantwortung. […] Der freie Träger hat […] die Umsetzungsverantwortung. Er haftet für eine qualitätvolle, fachgerechte Umsetzung durch geeignete Fachkräfte.“

Schließlich irritiert die Aussage, dass „Spielräume hinsichtlich der Entwicklung maßgeschneiderter Hilfen (§ 27, Abs. 2, SGB VIII)“ (S. 74) aufgrund einer fehlerhaften Rechtsanwendung nicht ausgeschöpft würden. Die Probleme, die mit einer einzelfallbezogenen Finanzierung einhergehen (Angebote von der Stange statt individueller Unterstützungsarrangements, geringe Anreize für präventive Angebote, Anreiz Fälle möglichst lang zu halten), lassen sich nicht durch eine Schuldverlagerung an die kommunale Praxis lösen.

Sinoplu ist es mit ihrem Beitrag gelungen zu verdeutlichen, wie relevant die partizipative Gestaltung von Präventionsmaßnahmen ist, damit sie nicht zu defizitorientierten Vermeidungsstrategien degradiert werden.

Auch Thieme geht in ihrem Beitrag nachvollziehbar darauf ein, wie sich defizitorientierte Vorgehensweisen bei der sozialräumlichen Öffnung von Schulen vermeiden lassen.

Die im dritten Kapitel des Buches dargestellten Praxisbeispiele verschaffen einen interessanten Einblick in die Vielfalt sozialraumorientierter Präventionsangebote.

Fazit

Die Publikation bietet einerseits einen guten Einstieg in den Fachdiskurs zur sozialraumorientierten Sozialen Arbeit. Andererseits ermöglicht sie eine empirisch fundierte Übersicht zu niedrigschwelligen, präventiven und sozialraumorientierten Angeboten im Kontext erzieherischer Hilfen.

Literatur

Früchtel, F.; Budde, W.; Cyprian, G. (2013): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen. 3., überarb. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.

Hinte, W.; Litges, G.; Groppe, J. (2003): Sozialräumliche Finanzierungsmodelle: Qualifizierte Finanzierungsmodelle auch in Zeiten knapper Kassen. Berlin: Sigma.

Hinte, W. (2022): Das Fachkonzept Sozialraumorientierung als Grundlage für regionale Planung und Steuerung. In: Fischer, J.; Hilse-Carstensen, T.; Huber, S. (2022): Handbuch Kommunale Planung und Steuerung. Planung, Gestaltung, Beteiligung. Weinheim: Juventa. S. 104 – 115.

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Rezension von
Prof. Dr. Michael Noack
Hochschule Niederrhein
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Es gibt 4 Rezensionen von Michael Noack.

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Zitiervorschlag
Michael Noack. Rezension vom 25.09.2023 zu: Stephan Hiller, Kieslinger Daniel, Meininger Luisa (Hrsg.): Prävention im Sozialraum. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2023. ISBN 978-3-7841-3506-9. Reihe: Beiträge zur Erziehungshilfe - 52. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30393.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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