Judith Butler, Frédéric Worms: Unmögliches Leben
Rezensiert von Marvin Bucka, 02.06.2023
Judith Butler, Frédéric Worms: Unmögliches Leben.
Passagen Verlag
(Wien) 2023.
96 Seiten.
ISBN 978-3-7092-0541-9.
D: 15,00 EUR,
A: 15,00 EUR.
Reihe: Passagen forum.
Thema
In ihrem 2018 in Paris geführten Gespräch behandeln Judith Butler und Frédéric Worms die philosophische und politische Bedeutung der „Unlebbarkeit“ des Lebens. Das Thema findet sich bereits im ersten Satz der Einleitung zugespitzt auf die Formel: „Das ist kein Leben“ – und doch wird dieses Leben eben gelebt. Die äußerste Not, in der etwa Geflüchtete in Lagern an den EU-Außengrenzen oder im Norden von Paris leben müssen, auf deren Situation Arto Charpentier und Laure Barillas in ihrer Einleitung hinweisen, zeugen von Situationen, in denen das Leben unlebbar werden kann. Dieser Widerspruch wird in dem hier abgedruckten Gespräch untersucht und als Instrument der politischen Kritik fruchtbar gemacht.
Autor:in oder Herausgeber:in
Das Gespräch führen Judith Butler und Frédéric Worms. Butler zählt zu den bedeutendsten Denker*innen unserer Zeit und hat insbesondere mit „Das Unbehagen der Geschlechter“ die Gender Studies nachhaltig geprägt. Zum Thema erschien von Butler kürzlich unter anderem „Die Macht der Gewaltlosigkeit: Über das Ethische im Politischen“ (https://www.socialnet.de/rezensionen/28211.php). Aktuell hat sie die Maxine-Elliot-Professur für Komparatistik, Gender Studies und kritische Theorie an der University of California, Berkeley inne.
Frédéric Worms ist Professor für zeitgenössische Philosophie und Direktor der École normale supérieure (ENS) in Paris. Er hat eine Theorie des „kritischen Vitalismus“ entwickelt und diverse Publikationen insbesondere zu Verwundbarkeit und zur Ethik der Sorge vorzuweisen. Auf deutsch erschien bislang lediglich „Über Leben“.
Einleitung, Nachwort und Herausgabe des Gesprächs gehen auf Arto Charpentier und Laure Barillas zurück, die beide an der ENSim Fach Philosophie promovieren sowie an der Universität Paris-Nanterrebeziehungsweise der Universität Strasbourg unterrichten.
Entstehungshintergrund und Aufbau
Das Buch basiert auf einem Gespräch, das Judith Butler und Frédéric Worms am 11. April 2018 an der ENS in Paris geführt haben. Sie gehen von der Frage aus, was das Unlebbare ist, das sich in Ereignissen oder Umständen zeigt, mit denen Menschen nicht oder nicht mehr leben können und ob sich eine Grenze zwischen lebbaren und unlebbaren Lebensbedingungen bestimmen lässt. Das Gespräch wird gerahmt von einer kurzen Einleitung in das Thema und einem Nachwort, das die beiden Positionen im jeweiligen Werkkontext verortet.
Inhalt
Die Eingangsfrage, wie sich das Unlebbare genau fassen lässt, beantworten die beiden Respondent*innen zunächst gesondert in kurzen Vorträgen. Frédéric Worms versucht, die Grenze zwischen dem Lebbaren und Unlebbaren anhand von drei Ansätzen zu bestimmen. Erstens könne man das Unlebbare phänomenologisch über solche Situationen bestimmen, in denen Menschen ihr Leben für nicht mehr erträglich halten. Der Zugang wäre also einer über die Erzählung der Personen selbst. Worms hält diesen Ansatz für nicht restlos überzeugend, denn eine unlebbare Situation sei gerade dadurch gekennzeichnet, dass nicht mehr von ihr berichtet werden kann: „Wenn eine Sache unlebbar ist, dann kann man sie nicht leben oder erleben und somit erst recht nicht beschreiben“ (19). Daher führt er zweitens eine Möglichkeit ein, das Unlebbare transzendental zu verstehen, also bezogen auf die Bedingungen der Subjektivität. Ein unlebbares Leben wäre dann eines, dass gewissermaßen die Strukturen des Selbst zerstört, die es uns für gewöhnlich erlauben, unser Leben eigenständig zu führen, uns dieses Leben zu erzählen und auch anerkennen zu lassen. So gesehen wäre ein unlebbares Leben ein solches, dass zwar gelebt wird, aber es gibt niemanden mehr, der*die es selbst leben könnte. Jemand wird also der Bedingungen dafür beraubt, sein*ihr Leben zu leben – aber, und dies unterscheide das Unlebbare vom Tod: das Leben geht weiter. Zugespitzt formuliert Worms das Unlebbare als eine Form des Todes im Leben selbst: „Das ist nicht ‚der‘ Tod, aber es ist ‚sein‘ Tod“ (26). Drittens führt er aus, dass man das Unlebbare intersubjektiv bestimmen kann. Demnach gäbe es ein relationales, geteiltes Unlebbares. Aus ökologischen oder politischen Gründen sei etwa ein Weltzustand denkbar, unter dem diese Welt überhaupt kein lebbares Leben mehr ermöglichen kann.
Judith Butler antwortet in ihrem Vortrag auf die Ausführungen von Worms, indem sie zunächst einmal die Frage aufwirft, wer überhaupt darüber entscheiden solle, dass ein Leben unlebbar ist. Es sei wichtig, dieses Urteil immer zu situieren, also zu fragen, wer unter welchen Bedingungen dieses Urteil ausspricht, ob es etwa Geflüchtete selbst sind oder Politiker*innen, die signalisieren wollen, die Lage von Geflüchteten im Griff zu haben. Außerdem hält Butler es für möglich, dass Menschen das Unlebbare ihrer Situation artikulieren können. Auschwitz-Zeug*innen würden eindrücklich vor Augen führen, dass man über das Unlebbare sprechen kann – und sei es, indem man es über den Zusammenbruch der Sprache, über Schweigen oder nicht-narrative Strukturen zum Ausdruck bringt. Auch wenn das Unlebbare einen Bruch der Sprache und des Subjekts bedeute, würden Menschen mit dem Unlebbaren leben und irgendwann davon sprechen können, auch wenn das Unlebbare womöglich mit und in ihnen weiterlebt: „Das Unlebbare ist wie ein unerträglicher Weggefährte, den sie nicht loswerden kann“ (37 f.). Abschließend zeigt Butler Grundlinien eines eigenen Verständnisses des Unlebbaren auf, indem sie es auf die Bedingungen der Intersubjektivität bezieht: Menschen würden von Sorge und Versorgung abhängen und damit von einer „Gesamtheit der sozialen und institutionellen Maßnahmen, die eine Existenz lebbar machen“ (45). Das Unlebbare wäre damit vor allem ein soziales, ökonomisches und politisches Phänomen. Das Unlebbare gehe in dieser Perspektive einher mit einer gegenseitigen Verpflichtung und einer Dezentrierung von Ansprüchen, bis dahin, dass das Leben der einen Person nicht mehr lebbare wäre, wenn das Leben der anderen Person unlebbar wird. Dies würde das Unlebbare nah an einen Begriff der Gewaltlosigkeit führen, der eine gegenseitige ethische Verpflichtung genauso umfasst wie die Pflicht zur Stützung eines institutionellen Systems, das die Bedingungen der Lebbarkeit gewährleistet.
Die anschließende Diskussion dreht sich insbesondere um die ethischen Folgen der Möglichkeit unlebbarer Situationen. Butler und Worms streiten hier über den Begriff der Sorge, den Butler aus feministischer Perspektive kritisch sieht und in relationale und institutionelle Verpflichtungen überführen will. Worms hingegen führt den in seinem Werk eingeführten Sorgebegriff an, der nicht frei von Machtverhältnissen gedacht wird. Die Diskussion schließt mit der Beobachtung, dass die Sorge auf die kritischsten Momente menschlicher Existenz, nämlich auf eine grundlegende Bedürftigkeit und Verwundbarkeit, verweist, und damit auf die Möglichkeit des Unlebbaren. Die Diskussion um Sorge ermöglicht es also, philosophisch und politisch genau von dieser Möglichkeit auszugehen.
Diskussion
Das vorliegende Buch besticht schon durch seinen Ausgang: die Erfahrung, ein Leben zu führen, das so nicht gelebt werden sollte, wird in dem klaren und facettenreichen Gespräch zwischen Judith Butler und Frédéric Worms zum Ausgangspunkt der philosophischen Reflexionen über Bedingungen der Subjektivität einerseits sowie des politischen Nachdenkens über institutionelle Verpflichtungen andererseits. Damit wird die Erfahrung der Unlebbarkeit eines Lebens überhaupt als ein Thema der philosophischen und politischen Arbeit eingebracht. Dabei wird spürbar, wie Worms und Butler in ihrem Gespräch mit den Fragen ringen, die diese Erfahrung des Widerspruchs eines unlebbaren Lebens bedeuten: wer entscheidet über die Unlebbarkeit eines Lebens? Kann eine Erfahrung der Unlebbarkeit erzählt werden? Und falls ja, welcher Art sind Erzählungen des Unlebbaren? Schließlich: welche ethischen und politischen Folgen ergeben sich daraus, dass ein unlebbares Leben überhaupt möglich ist? Natürlich können von einem einzelnen Gespräch keine eindeutigen Antworten auf all diese Fragen erwartet werden, aber Butler und Worms schaffen es in ihrem Gespräch, in zentrale Fragen um den Begriff des Unlebbaren einzuführen, Fluchtlinien des philosophischen und politischen Nachdenkens ausgehend von diesem Begriff aufzuzeigen und Verbindungen zu bestehenden Theorien etwa der Verwundbarkeit oder der care-Ethik aufzuzeigen, sowie ihn von anderen Konzepten wie der Resilienz abzugrenzen.
Dabei wird das Thema in seiner sehr kontroversen Bedeutung diskutiert. Wo etwa Worms das Unlebbare versucht, über eine Erfahrung der Sprachlosigkeit zu fassen, weist Butler auf die Gefahr hin, Menschen in ihrer Verwundbarkeit damit die Möglichkeit zu nehmen, für sich zu sprechen. Will man die Entscheidung über die Unlebbarkeit des Lebens wirklich Dritten überlassen, also konkret: sollten Politiker*innen darüber entscheiden, ob die Lage für Geflüchtete in Flüchtlingslagern noch ein lebbares Leben ermöglicht? Andererseits scheint es naheliegend, dass eine unlebbare Situation ähnlich wie ein Trauma zunächst nicht integriert und damit nicht unmittelbar erzählt werden kann. Es greift also Grundbedingungen der Existenz an und es mit Worms als einen Tod im Leben zu beschreiben, hilft, um es von anderen Leiderfahrungen abzugrenzen. Weitere solcher Spannungen werden im Laufe des Gesprächs nicht aufgelöst, sondern als konstitutiv für das Unlebbare herausgestellt. Dafür aber wird der Fokus auf institutionelle Bedingungen des Unlebbaren gelenkt. So zeigt Butler eindrücklich, dass aus der Möglichkeit des Unlebbaren nicht nur eine wechselseitige ethische Verpflichtung resultiert, sondern auch eine staatliche, institutionelle Pflicht, Strukturen zu schaffen, unter denen möglichst kein Leben unlebbar werden kann. Vom Unlebbaren aus wird also ein unbedingter egalitärer Anspruch aus ableitbar, den Butler hier einbringt und bereits in anderen Werken ausformuliert hat, etwa in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“.
Insgesamt bringt dieses Buch zwei sehr unterschiedliche methodische Zugänge auf das Thema der Unlebbarkeit zusammen: einen vitalistischen Ansatz von Worms, und die diskursive Perspektive Butlers, die sich aber letztlich in einem gemeinsamen ethischen Impetus treffen: nämlich der Konklusion, dass die Möglichkeit des Unlebbaren innerhalb einer Gemeinschaft ethische Verpflichtungen und institutionelle Mechanismen notwendig macht, die diese Unlebbarkeiten vermeiden und abfedern können. Insgesamt führt dieses Buch auf kontroverse und verständliche Weise in ein Thema ein, dessen philosophische und politische Relevanz deutlich wird und dass in den weiteren Werken der beiden Autor*innen tiefer ausgearbeitet wird. Weiterführende Hinweise finden sich in dem prägnanten und äußerst hilfreichen Nachwort der Herausgeber*innen. Dies rundet die beeindruckende Analyse über die theoretisch wie politisch höchst bedeutsame (Nicht-)Erfahrung des Unlebbaren ab.
Fazit
In dem hier abgedruckten Gespräch zwischen Judith Butler und Frédéric Worms wird die Möglichkeit eines Lebens, das nicht mehr lebbar ist, aus philosophischer und politischer Perspektive diskutiert. Das Buch besticht dadurch, dass es dieses Thema in seinen kontroversen Implikationen aufgreift und dabei wichtige Fragen aufwirft, die aus den teils sehr unterschiedlichen Zugängen der beiden Respondent*innen beantwortet werden. Am Ende werden insbesondere die ethischen und politischen Implikationen des Unlebbaren diskutiert, was das Buch auch für Leser*innen aus der sozialarbeiterischen Praxis interessant machen kann.
Rezension von
Marvin Bucka
B.A. "Soziale Arbeit im Gesundheitswesen" an der HAWK Göttingen, M.A. "Philosophie" an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, B.Sc. "Psychologie" an der Goethe-Universität Frankfurt
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Zitiervorschlag
Marvin Bucka. Rezension vom 02.06.2023 zu:
Judith Butler, Frédéric Worms: Unmögliches Leben. Passagen Verlag
(Wien) 2023.
ISBN 978-3-7092-0541-9.
Reihe: Passagen forum.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30395.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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