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Steffen Oelsner: Fühlendes Erkennen

Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 08.05.2023

Cover Steffen Oelsner: Fühlendes Erkennen ISBN 978-3-7329-0880-6

Steffen Oelsner: Fühlendes Erkennen. Theorie und Praxis emotionaler Heilung. Frank & Timme (Berlin) 2022. 304 Seiten. ISBN 978-3-7329-0880-6. D: 35,00 EUR, A: 35,00 EUR, CH: 52,50 sFr.
Reihe: Psychologie - 1.

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Thema und Zielgruppe

Das Buch entwickelt ein eigenes integratives theoretisches Modell aus unterschiedlichen psychotherapeutischen „Schulen“ und richtet sich – laut Buchrückentext – sowohl an Therapeut*innen als auch an „alle, die begreifen wollen, wie wir prägende emotionale Verletzungen verstehen und heilen können und wie wir durch sie zu seelischer Gesundheit und innerem Wachstum gelangen.“ Im letzten Abschnitt beschäftigt sich der Autor darüber hinaus mit Visionen einer emotional kompetenteren Gesellschaft.

Autor

Steffen Oelsner, geb. 1963, war zunächst Werkzeugmacher und studierte dann Psychologie. Nach Promotion und akademischer Tätigkeit an der Humboldt Universität in Berlin ist er nun seit über 25 Jahren als Psychotherapeut tätig. Er bildet Verhaltenstherapeut*innen aus und ist ebenso als Dozent und Supervisor tätig.

Aufbau 

Das Buch umfasst nach einem Prolog und einem persönlichen Einstieg 4 Abschnitte, einen Epilog und das Literaturverzeichnis. Die Abschnitte lauten:

  • I Die Entstehung emotionaler Inkompetenz
  • II Die Architektur der menschlichen Seele
  • III Emotional heilsame Psychotherapie
  • IV Skizze einer emotional kompetenteren Gesellschaft

Inhalt

Zu Beginn schildert der Autor die seelischen Wunden seines Bruders, die entstanden, als er im 2. Lebensjahr wegen einer vermeintlichen Infektion durch unbekannte Erreger in insgesamt zweijähriger Behandlung in einem Spezialkrankenhaus immer wieder völlig von seinen Eltern isoliert wurde. Er hebt hervor, wie häufig in unserer Kultur Kinder aufgrund von seelischer Inkompetenz der Elterngeneration und des medizinischen Hilfesystems mit seelischen Verletzungen alleingelassen wurden und werden. Viele Menschen könnten ihre Emotionen nicht als das erleben, was sie seien: Ein stammesgeschichtlicher Kompass, der dazu dient, die eigenen Bedürfnisse im Einklang mit der sozialen und natürlichen Umwelt zu befriedigen. Emotionen, die nicht richtig wahrgenommen und beantwortet würden, seien möglicherweise die stärkste Ursache für menschliches Leiden. Die so entstehende Entfremdung von der Wahrnehmung eigener Bedürfnisse führe zur – unter Umständen süchtigen – Suche nach Ersatzbefriedigungen und bei Symptomen zur Nachfrage medizinischer Hilfe in einem zum Teil emotional wenig kompetenten Hilfesystem. Die Emotionen, die in der Kindheit nicht beantwortet oder zurückgewiesen wurden, zeigten sich im Erwachsenenalter entweder unterreguliert in heftigen Ausbrüchen oder überreguliert und unterdrückt.

Zur Fundierung der psychotherapeutischen Interventionen entwickelt der Autor ein sehr interessantes Modell von 3 Gehirnbereichen: Bei gut ausgeprägter Liebesfähigkeit und emotionaler Kompetenz der Eltern könne sich das „konstruktiv-kooperative“ Gehirn zur vollen Blüte entfalten, das den Menschen in die Lage versetzt, sowohl die eigenen Primärbedürfnisse zu befriedigen als auch zu lernen, dass andere ebenfalls berechtigte Interessen haben, sodass es möglich werde, bei Konflikten gemeinsam zu einem nachhaltigen Ergebnis zu kommen. Bei unbewältigten, oft bereits in der Kindheit erlebten Gefahren und Mangelsituationen würde jedoch das EGO-Gehirn aktiv, das quasi in Sekundenbruchteilen abgespeicherte Bedrohungsmuster erkenne, um dann mit Hilfe reduktionistischer Polaritäten zum Selbstschutz anzusetzen. Als 3. Gehirnbereich arbeitet er das EMO-Gehirn heraus, das auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse abziele und den Stoffwechsel organisiere.

Durch die bei Geburt bestehende menschliche Unreife hätten wir die Chance, in die (Frontal-)hirnentwicklung wesentliche soziale Erfahrungen zu integrieren. Bei in der Gegenwart bestehenden emotionalen Problemen helfe eine biografische Betrachtung der unbewältigten, als Kind ohnmächtig erlebten Urprobleme, die einer Bedürfnisbefriedigung im Wege standen. Über eine kathartische Lösung dieser Urprobleme sei es im therapeutischen Prozess möglich, auch Lösungen für hartnäckige emotionale Gegenwartsprobleme zu finden, was letztlich zu einer gesteigerten Selbstliebe und Weisheit führe.

In Anlehnung an Albert Pesso legt Steffen Oelsner dann ein 4 Quadrantenmodell zur emotionalen Veränderung dar:

  • Gegenwartsproblem und Behandlungsanlass: Die Perspektive der Verhaltenstherapie sei vornehmlich auf gegenwärtige Lösungen ausgerichtet.
  • Lösung des Gegenwartsproblems, in Oelsners integrativem Ansatz mit dem Ergebnis von Selbstresonanz und Selbstempathie, nach dem Durcharbeiten des vergangenen Problems.
  • Unbewältigtes Problem aus der Vergangenheit mit Berücksichtigung transgenerationeller Traumata. Die Perspektive der Tiefenpsychologie sei überwiegend auf das vergangene Problem ausgerichtet.
  • Lösung des frühen Problems. Neue emotionale Erfahrung: Wie es gut gewesen wäre. In Oelsners integrativem Ansatz: Rehabilitation der vernachlässigten Bedürfnisse und Entmachtung der Täter.

Im Abschnitt zur emotional heilsamen Psychotherapie stellt der Autor dann mit eindrucksvollen Fallbeispielen untermauert seinen Behandlungsansatz dar, der zunächst das unbewältigte Problem aus der Vergangenheit durch Überwindung der Erinnerungsbarriere adressiert und mit Hilfe von imaginativen Emotionsaktivierungen, Aufstellungen und Trialogen bearbeitet. Diese kathartischen Erfahrungen nutzt er dann, um einen Transfer zum Gegenwartsproblem zu ermöglichen.

Im letzten Abschnitt finden sich Überlegungen zu einer auf Liebe und Selbstliebe gegründeten Gesellschaftsentwicklung. Selbstliebe gründe sich hierbei auf in der frühen Kindheit entwickeltes Urvertrauen, auf die dann erworbene Frustrationstoleranz gepaart mit der Fähigkeit, sich konstruktiv durchsetzen zu können. Von hoher Bedeutung sei es, dass es gelinge, reife und emotional kompetente Menschen an die Spitze der Gesellschaft zu setzen und Narrative, der Mensch sei von Natur aus böse und kontrollbedürftig zu Gunsten eines „Resonanzhumanismus“ zurückzuweisen.

Diskussion

Das Buch spannt einen weiten Bogen und entwickelt – fußend auf einem eigenen Gehirn-Modell – einen integrativen Ansatz emotionsfokussierter Psychotherapie. Meiner Auffassung nach stellt die Betonung des „konstruktiv-kooperativen“ Gehirns eine gute Hintergrundfolie dar, um gesellschaftliche Einflüsse und zwischenmenschliche Beziehungen angemessen zu berücksichtigen, mit biologischen Betrachtungen zu verschränken und dabei zugleich ein ausgesprochen positives Menschenbild zu entfalten. Hierdurch wird deutlich, dass engagierte Psychotherapeut*innen sowohl die Gehirnforschung als auch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung maßgeblich befruchten können und sich politisch stärker zu Wort melden könnten, um der technokratischen Entwicklung im Gesundheitssystem echte Alternativen aufzuzeigen.

Die Patientenbeispiele im Buch sind eindrucksvoll und zeigen, dass eine Überwindung enger Psychotherapieschulen und ein integrativer Ansatz in den Händen erfahrener Therapeut*innen große Erfolge erzielen kann. Es freut mich zu lesen, dass eine derartige Offenheit in der Ausbildung von Verhaltenstherapeut*innen Einzug hält. Etwas stärker hätte noch die Stabilisierungsphase bei traumatisierten Patient*innen betont werden können, um ein zu forsches Vorgehen weniger erfahrener Therapeut*innen zu vermeiden.

Das Buch ist insgesamt sehr gut und verständlich geschrieben. Gelegentlich ist die Wortwahl etwas gewöhnungsbedürftig, wie z.B.: „Emotionen sind die stammesgeschichtlich bewährtesten Algorithmen …“; hier entsteht eine Anlehnung an technokratische Narrative, die eher im Gegensatz zu der am Ende des Buches vorgeschlagenen Besinnungspause gegenüber der rasch fortschreitenden Digitalisierung steht. Auch für das sehr gelungene Modell des „konstruktiv-kooperative“ Gehirnes hätte man vielleicht auch noch ein schöneres Wort als „KoKo“ Gehirn finden können.

Fazit

Es lohnt, sich auf die Überlegungen dieses Buches einzulassen, hierbei sowohl über Modellierungen des Gehirns als auch über Chancen emotionaler Nachreifung nachzudenken und sich als Therapeut*in vom Autor inspirieren zu lassen, mit unterschiedlichen Methoden emotionsfokussiert zu arbeiten. Zugleich ermutigt das Buch Therapeut*innen dazu, sich gesellschaftlich mehr Gehör zu verschaffen.

Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 139 Rezensionen von Annemarie Jost.

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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 08.05.2023 zu: Steffen Oelsner: Fühlendes Erkennen. Theorie und Praxis emotionaler Heilung. Frank & Timme (Berlin) 2022. ISBN 978-3-7329-0880-6. Reihe: Psychologie - 1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30396.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.


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