Stephan Rixen, Eva Maria Welskop-Deffaa (Hrsg.): Klimasozialpolitik
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 13.06.2023
Stephan Rixen, Eva Maria Welskop-Deffaa (Hrsg.): Klimasozialpolitik. Der Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts und seine Folgen. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2023. 180 Seiten. ISBN 978-3-7841-3569-4. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
Der sog. „Klimaschutz-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24.03.2021 wirkte wie ein Paukenschlag: Die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland aus dem Pariser Übereinkommen wurde in das bundesdeutsche Verfassungsrecht integriert. Der Staatsauftrag zur Erreichung der Klimaneutralität beinhaltet für den Gesetzgeber, die Emissionen pariskonform zu reduzieren. Große Aufmerksamkeit galt der Begründung der Richter:innen, weil über das Klimaschutzrecht hinausgehende Implikationen angedeutet wurden. Der Band beinhaltet das Ergebnis der „Denkwerkstatt“ am 1. April 2022 in Berlin. Initiiert wurde die Tagung von den herausgebenden Personen anlässlich der Jahreskampagne 2023 des Deutschen Caritasverbandes (DCV). Vertreter:innen des DCV und Expert:innen der Umweltrechts- und der Sozialrechtswissenschaft sowie der Sozialpolitikforschung führten einen Dialog miteinander.
Herausgeber und Herausgeberin
Prof. Dr. Stephan Rixen ist seit 2022 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Staatsrecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht und Leiter der Forschungsstelle für das Recht des Gesundheitswesens an der Universität zu Köln. Davor hatte er Professuren an den Universitäten Bayreuth und Kassel inne. Er ist seit 2020 Mitglied im Deutschen Ethikrat.
Eva Welskop-Deffaa ist seit 2021 Präsidentin des DCV; davor war sie im Vorstand Sozial- und Fachpolitik des DCV. Neben ihren Schwerpunktthemen (Digitalisierung, soziales Europa und junges Engagement) begleitet sie zahlreiche Ämter mit Bezug zu energie-, umwelt- und gesellschaftspolitischen Fragen.
Aufbau und Inhalt
Eingeleitet wird der Band von einem Vorwort der herausgebenden Personen (S. 8). Es folgen 13 Einzelbeiträge zum Klimaschutz-Beschluss. Angaben zu den Autor:innen (S. 175–176) sowie Materialien zur Caritas-Jahreskampagne 2023 „Klimaschutz, der allen nutzt“ runden die Publikation ab. Folgende Einzelbeiträge sind enthalten:
Stephan Rixen & Eva M. Welskop-Deffaa: Sozialpolitische Implikationen des Klimaschutz-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (S. 9–19)
Rixen und Welskop-Deffaa bewerten die Veröffentlichung des Klimaschutz-Beschlusses als „hymnisch positiv“ (S. 9) rezipiert. Von der Rechtsfigur der „intertemporalen Freiheitssicherung“ sei eine Art „sozialpolitischer Erweckungsbewegung“ (S. 10) ausgegangen, die in „sozialpolitische Sehnsüchte“ (S. 11) von intergenerationeller Verteilungsgerechtigkeit (z.B. in der Sozialversicherung) gemündet habe. Die Klimasozialpolitik könne tatsächlich als Resultat gesehen werden, weil „Sozialpolitik ohne ihre klimapolitischen Veränderungstreiber“ (S. 13) nicht mehr zu denken sei. Die Beiträge des Bandes münden in drei Erkenntniszielen:
- Sie ordnen die Aussagen des BVerfG juristisch ein,
- sie prüfen, ob aus dem Beschluss juristisch wie nicht-juristisch sozialpolitische Implikationen abzuleiten sind und
- sie klären mit umwelt- bzw. umweltverfassungsrechtlicher sowie sozial- und sozialverfassungs- sowie zivilrechtlicher Expertise juristisch nüchtern auf und tauschen sich mit der soziologischen Sozialpolitikforschung aus.
Zusammenfassend konstatieren Rixen und Welskop-Deffaa eine „Zurückhaltung“ (S. 17) im Expert:innenurteil, dass sich aus dem Klimaschutz-Beschluss verfassungsrechtliche Gründe zur Gestaltung zukünftiger Sozialpolitik ableiten ließen. Die Wohlfahrtsverbände werden in ihrer internationalen Arbeit aber mit Auswirkungen der Klimakatastrophen konfrontiert. Deshalb hoffen Rixen und Welskopp-Deffaa auf ein zukunftsoffenes Denken der Rechtsexpert:innen.
Claudio Franzius: Der Klimaschutz-Beschluss – EU- und verfassungsrechtliche Einordnung (S. 20–39)
Der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Verwaltungs- und Umweltrecht an der Universität Bremen ordnet die Begründung unionsrechtlich ein: Den Nationalstaaten blieben Spielräume für eigene Wege, ohne einer kohärenten Ordnung (etwa eines Klimaschutzrechts) folgen zu müssen, weswegen das europäische Unionsrecht fast vollständig ausgeblendet werden könne. Nach Claudio Franzius habe das BVerfG mit der „intertemporalen Freiheitssicherung“ in der Argumentation einen Sprung von der Nicht-Nachweisbarkeit eines Schutzpflichtenverstoßes in die Abwehrrechte gemacht. Damit werde die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen sowie Abwehr und Schutz unterlaufen und eine neue intertemporale Grundrechtsfunktion kreiert. Die Brücke von den Schutzpflichten zur unspezifischen Eingriffsabwehr werde geschaffen, indem „die Freiheitsrechte durch Art. 20a GG intertemporalisiert“ (S. 27) würden. Die Verschärfung der Klimaschutzziele ab 2030 lasse sich nur über den völkerrechtlichen Vertrag (Pariser Abkommen) legitimieren, wobei die beteiligten Staaten aber lediglich einer Selbstbindung verpflichtet sind. Auf die Figur der eingriffsähnlichen Vorwirkungen könne
- nur rekurriert werden, wenn eine Regelung des Gesetzgebers existiere (z.B. ein Treibhausgas-(THG)-budget).
- Die abwehrrechtliche Grundrechtswirkung bedeute, dass sich die Rüge gegen die Gesamtheit der Emissionen richte, also eine „Bewirtschaftung in der Zeit“ (S. 31) angelegt sein müsse.
Franzius deutet die mit der Rechtsfigur ausgelösten Freiheitsrechte eher als Gleichheitsrechte im Sinne einer „Gleichheit in der generationengerechten Lastenverteilung“ (S. 31). Nur der Verweis auf den Verstoß des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eröffne einen subjektiven Anspruch auf intertemporale Freiheitssicherung. Eine „Überkonstitutionalisierung“ (S. 32) sieht der Autor nicht, denn unter Beachtung der Eigengesetzlichkeit der Dritten Gewalt dürfte das Recht durchaus Impulse zur Reflexion des staatlichen Handelns aussenden. Die intertemporale Dimension sei auf den Budget-Ansatz beschränkt und nicht unbedacht auf andere Bereiche (z.B. die Sozialpolitik) zu übertragen.
Ekkehard Hofmann: Der Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – EU- und verfassungsrechtliche Einordnung (S. 40–49)
Der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Umweltrecht an der Universität Trier, Prof. Dr. Ekkehard Hofmann, sieht im Klimaschutz-Beschluss eine Reaktion des BVerG, an die Dringlichkeit internationaler Bemühungen zur Abwendung schlimmster Szenarien von Erderwärmung anzuknüpfen, das THG-Restbudget zur verfassungsrechtlichen Pflicht nach Art. 20a GG zu erheben, um den Gesetzgeber zum Handeln zu bringen. Objektiv-rechtlich sei das Klimaschutzgebot in das Verfassungsrecht transferiert, die subjektiv-rechtliche Herleitung stütze sich auf einen auf die „Eingriffsdogmatik gestützten Ansatz“ (S. 43), der die Freiheitschancen über die Zeit als gleich verteilt begründet sehe und einen Aufschub von CO₂-Reduktion als zukünftige Freiheitseinschränkung deute. Die Rezeption der Begründungsfigur der „intertemporalen Freiheitssicherung“ habe großes „Rätselraten“ (S. 43) ausgelöst. Der Verfasser beteilige sich mit einem eigenen Deutungsversuch, indem er die Begründung des Gerichts als generalisierte Warnung verstehe, verpflichtend jetzt CO₂ zu sparen. Als Konsequenz ergebe sich die Verpflichtung des Staates im Klimaschutzgesetz (KSG), 2045 die Klimaneutralität zu erreichen. Für das übrige Umweltrecht sieht Hofmann – trotz ebenso drängender planetarer Belastungsgrenzen – noch keine quantifizierte Begrenzung, die einen einklagbaren Anspruch auf staatliches Handeln ableiten würde. Ebenso wenig sieht er eine dem Art 20a GG vergleichbare sachbereichsspezifische Regelung für das Sozialrecht.
Elisabeth Kaupp & Jens Kersten: Die Klima-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Initialzündung für ein zukunftsoffenes Grundgesetz (S. 50–71)
Für Prof. Dr. Jens Kersten, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Elisabeth Kaupp gleicht die Klima-Entscheidung einem „Paradigmenwechsel“ (S. 50). Bisher habe die Verfassungspraxis im Umwelt- und Finanzverfassungsrecht auf die objektiv-rechtlichen Gewährleistungen gesetzt. Dazu gehören a) die Schutzpflichtendogmatik, b) das Staatsziel Umwelt- und Tierschutz (Art. 20a GG) und c) das Staatsziel gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und „Schuldenbremse“ (Art. 109 Abs. 2 und 3 GG). Mit der Begründung der Klimaschutz-Entscheidung adressiere das BVerfG jedoch die Abwehrfunktion der Grundrechte und habe eine subjektiv-rechtliche „Dynamisierung des Rechts und damit auch der Gesellschaft“ (S. 55) angestoßen. Neu sei das Recht auf „intertemporale Freiheitssicherung“: Mit dem Verweis auf die rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit (größere Belastung im Einsparen von CO₂) habe das BVerfG die „objektiv-rechtliche Regelung des Art. 20a GG subjektiv-rechtlich dynamisiert“ (S. 58) und auf die Formel „Freiheitsrecht + Staatsziel oder Verfassungsgut = intertemporale Freiheitssicherung“ (S. 58f) gebracht. Zwei Aspekte seien dabei besonders bedeutend: Alle gegenwärtigen Altersgruppen können als Rechtsträger:innen von prospektiven Freiheitschancen (Intertemporalität) gesehen werden, während die Sicherung von Intergenerationalität nur objektiv-rechtlich zu verstehen sei. Ein Budget sei nach Ansicht von Kaupp und Kersten nicht erforderlich, um die intertemporale Freiheitssicherung auch auf andere Lebensbereiche zu übertragen, wenn eine Entwicklung als unumkehrbar identifiziert sei und ein Staatsziel oder Verfassungsgut existiere, das ein unbegrenztes „Weiter so“ nicht zulasse. Die grundrechtliche Intertemporalität könne, basierend auf der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), neben der Freiheitssicherung (als individuelles Abwehrrecht) ebenso auf die Gleichheitssicherung (z.B. Verbrauch von Brennstoffen, Erden und Metallen) und die Teilhabesicherung (z.B. Leben in einer biodiversen Welt) übertragen werden. Mit der intertemporalen Freiheitssicherung habe das BVerG das Grundgesetz als „Verfassung einer prospektiven Gesellschaft“ (S. 68) entfaltet. Jetzt gelte es, die Intergenerationalität in Angriff zu nehmen, mit dem Ziel eines „intertemporalen Gegenseitigkeits- und Gegenstromprinzip[s]“ (S. 68).
Sabine Schlacke: Der Klimaschutz-Beschluss – ein Konzept für intergenerationelle Krisenvorsorge? (S. 72–82)
Prof. Dr. Sabine Schlacke, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungs- und Umweltrecht und Leiterin des Instituts für Umwelt-, Energie- und Seerecht (IfEUS) an der Universität Greifswald, fokussiert die Frage, ob die vom BVerfG postulierte „intertemporale Freiheitssicherung“ ein generalisierbares Konzept der intergenerationellen Krisenvorsorge beinhalte. Zwar seien im Anthropozän „mehrere globale Umweltgüter stark gefährdet“ (S. 73) (z.B. Biodiversität, Böden, Meere), die intertemporale Freiheitssicherung sei – so Schlackes These – aber kein Konzept für eine intergenerationelle Krisenvorsorge, sondern eine auf die Klimakrise „zugeschnittene Sonderdogmatik“ (S. 76) auf Basis des THG-Budgetansatzes. Das BVerfG leite das THG-Budget klimawissenschaftlich her (Irreversibilität der Schädigungen, Kipppunkte usw.). Völkerrechtlich verpflichtend sei das THG-Budget mit dem Pariser Klimaschutzübereinkommen. Die Intertemporalität der Freiheitsrechte könne, so schlussfolgert die Autorin, nur aktiviert werden, wenn der Gesetzgeber Vorwirkungen auf die künftige Freiheit nicht ausreichend gestalte. Schlacke hält fest, dass der Klimabeschluss die intertemporale Freiheitssicherung als staatliche Pflicht festlege, ohne zugleich die intergenerationelle Gerechtigkeit zu regeln. Die Freiheitsrechte würden aber für alle Generationen gelten, weswegen sie eher ein Gleichheitsproblem adressiert sieht. Deshalb sei der Klimaschutzbeschluss eine nicht generalisierbare Sonderdogmatik und kein allgemeines Krisenvorsorgekonzept.
Charlotte Kreuter-Kirchhof: Der Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – die internationale Dimension (S. 83–96)
Der Klimawandel sei global, deswegen müssten die Antworten im Klimaschutz-Beschluss international ausgerichtet seien, so Prof. Dr. Charlotte Kreuter-Kirchhof, Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsches und Ausländisches Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Nur mit europäischen und internationalen Anstrengungen (z.B. Pariser Abkommen) könne die verfassungsrechtliche Pflicht zur intergenerationellen Vorwirkung der Freiheitsrechte gelingen. Das verfassungsrechtliche Klimaschutzgebot (Art. 20a GG) sei Aufgabe des Gesetzgebers (nicht der Gerichte). Globaler Klimaschutz sei umso wichtiger, je weiter der menschengemachte Klimawandel voranschreite. In der Begründung sei der Budgetansatz der „Dreh- und Angelpunkt“ (S. 87). Der Summationseffekt verlange, dass die heutige Generation ihre Bedürfnisse nur so weit befriedigen dürfe, wie sie der morgigen Generation die Chancen nicht verwehre, dies auch zu tun (Nachhaltigkeit und intra- wie intergenerationelle Gerechtigkeit). Kreuter-Kirchhof erläutert die europa- und völkerrechtliche Einbindung des Budget-Ansatzes und seiner Grenzen. Die Naturwissenschaften modellieren die Einsparmengen für das 1,5 oder 2,0 Grad Ziel. Im Pariser Abkommen hat die Staatengemeinschaft das Emissionsbudget quantifiziert. Daraus leitete der Sachverständigenrat der Bundesregierung (SRU) ein nationales Restbudget als freiwillige Selbstverpflichtung ab. Der Umsetzung der Klimaschutzziele in der EU liege eine gemeinsame und regelmäßig zu überprüfende sektorbezogene Vorgehensweise (z.B. Energie, Industrie, Verkehr, Landwirtschaft) zugrunde. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihren Klimaschutzpfad bis 2050 festgelegt, erlaubt aber eine Anpassung an die EU. Dieser nationale Budgetansatz fordert den Staat auf, völkerrechtlich vereinbarte und international abgestimmte Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Schon für die heute lebenden Menschen stelle der Klimawandel eine Herausforderung dar (z.B. Energiepreise). Vulnerable Gruppen, die in der Regel am wenigstens zum Ausstoß von CO₂ beitragen, seien mit am stärksten von den Auswirkungen betroffen. Darin zeige sich die ethische Dimension.
Gerhard Wagner: Klimaschutz durch das BVerfG – Die richtige Reaktion auf ein internationales Problem? (S. 97–114)
Auch der Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik an der Humboldt-Universität zu Berlin prüft die vom BVerG entwickelte Rechtsfigur der intertemporalen Freiheitssicherung. Das Ausgangsproblem sieht Prof. Dr. Gerhard Wagner in der „Tragödie der Allmende“ (S. 98): Das Weltklima sei ein unteilbares öffentliches Gut und könne nur über globale vertragliche Vereinbarungen wie dem Pariser Abkommen geschützt werden. Das BVerG setze auf die Abwehrdimension der Grundrechte in Form der Rechtsfigur des „Grundrechts auf zukünftige Freiheit“ (S. 101) und verpflichte den Staat, der zukünftigen Generation keine größeren Einbußen abzuverlangen, wenn die jetzige zu viel konsumiere. Die naturwissenschaftliche Expertise des Budget-Ansatzes habe, so Wagner, dem Urteil des BVerG hohe Akzeptanz eingebracht, es übersehe aber dessen normativen Charakter, denn niemand könne vorhersehen, wie sich die CO₂-Ausstöße in der internationalen Gemeinschaft entwickeln. Das BVerfG setze auf das Modell des „Mit-gutem-Beispiel-Vorangehens“ (S. 104). Weil das Budget normativ gesetzt sei, weist der Autor den Anspruch auf eine intergenerationelle Gerechtigkeit auch in anderen Belangen vorsichtig zurück. Und auch eine Verallgemeinerung auf andere staatliche Akteure (z.B. die Länder) sei nicht möglich. Klimaschützendes Vorgehen fordere ein koordinierendes Verwaltungshandeln, das am besten der Nationalstaat regulieren könne. Wagner führt Beispiele an, wie im Nachgang zur Entscheidung des BVerG auch Unternehmen (z.B. Autohersteller) angeklagt wurden, z.B. nach 2023 keine Verbrennermotoren mehr herzustellen. Eine Operationalisierung von Emmissionsreduktionswerten auf einzelne Unternehmen könne nicht abgeleitet werden, da eine Globalsteuerung nur über den Gesetzgeber möglich sei. Schadensersatzklagen gegen einzelne Firmen würden nur Verlagerungseffekte erzeugen, Androhungen von Schadenersatzansprüchen dagegen könnten zu Präventionseffekten führen. Der Verfasser sieht im Instrument des Emissionszertifikatehandels den passenden Anreiz zu einer globalgesteuerten Reduktion. Ein weiteres, aber bisher international, EU-weit und auf nationaler Ebene gescheitertes Instrument sei die CO₂-Steuer. Im BVerfG sieht Wagner einen Impulsgeber für Politik und Gesellschaft, die Anstrengungen zum Klimaschutz zu intensivieren.
Ulrich Becker: Der Klimaschutz-Beschluss – Folgen für die Altersvorsorge? (S. 115–123)
Prof. Dr. Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, fasst als Ausgangspunkt den grundrechtsdogmatischen Ansatz zusammen: Das BVerfG betont die Verpflichtung des Staates, alles zu tun, um eine künftige Grundrechtsbeeinträchtigung zu vermeiden. Unklar sei, ob die mit dem Klimaschutz verbundene Grundrechtsgefährdungslage auf andere Bereiche übertragbar sei und sich ein zukünftiger Grundrechtsschutz ableiten lasse. Den Zusammenhang von Grundrechtsschutz und Alterssicherung analysiert der Autor, indem er zunächst die „Altersvorsorge in Deutschland im Lichte aktueller Herausforderungen“ (S. 117) untersucht. Die Finanzierung des zersplitterten Altersvorsorgesystems sei sehr unterschiedlich, weswegen sich Becker auf das Umlageverfahren der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) beschränke. Unter Beibehaltung der aktuellen Regelaltersgrenze und des Beitragssatzes wird es infolge der demografischen Veränderungen zu einer erheblichen Zufuhr an Steuermitteln in die Rentenversicherung kommen (müssen). Einen Grundrechtsschutz im Zusammenhang mit der Alterssicherung sieht Becker rechtsdogmatisch in einzelnen Facetten enthalten, aber nicht umgesetzt. Als rechtspolitische Folgerungen, um eine Überlastung des Bundeshaushalts zu vermeiden, wäre eine Anhebung des Renteneintrittsalters möglich. Da dies zurzeit politisch nicht favorisiert werde, könne allenfalls eine Diskussion in Gang gesetzt werden, wann eine Freiheitsentfaltung aufgrund der Überinanspruchnahme von Steuermitteln des Bundes gegeben sei.
Claudia Maria Hofmann: Der Klimaschutz-Beschluss – Folgen für die Pflege im Alter (S. 124–141)
Prof. Dr. Claudia Maria Hofmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europäisches Sozialrecht an der Viadrina Frankfurt (Oder) prüft, ob die „intertemporale Freiheitssicherung“ auf das Risiko Pflegeversicherung übertragen werden könne. Dazu fasst sie die Kernaussagen zusammen: Der objektivrechtliche Schutzauftrag sei im Klimaschutzgesetz (KSG) mit Blick auf das Restbudget zu wenig konkretisiert und beinhalte eine „eingriffsähnliche Vorwirkung“ zuungunsten später lebender Generationen. Hofmann erläutert die „Risikodimensionen der Pflege im Alter“ (S. 126): a) die individuelle und kollektive Finanzierung, basierend auf der Umlagefinanzierung wird aus demografischen Gründen vorhersehbar schwieriger, b) die Dienstleistung Pflege durch Dritte oder in der Familie ist, multifaktoriell verursacht, in Umfang und Ausmaß gefährdet, den Bedarf zu decken und c) die Qualität (menschenwürdig, bedürfnisgerecht und teilhabefördernd) der Pflege leidet infolge von Überlastung, Zeitdruck, Unterbesetzung u.a. m. Die Aspekte sind miteinander verwoben, beeinflussen sich und hängen von Umgebungsbedingungen (wie z.B. Beschäftigungspolitik) ab. Die vielen vorfindbaren Gefährdungsfaktoren beschreiben die Fragilität des Systems. Der Gesetzgeber habe mit sozialpolitischen Maßnahmen z.B. mit dem erhöhten Bundeszuschuss zur Deckung des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils reagiert, dennoch bleibe Handlungsbedarf in den Risikodimensionen. Die Autorin schlussfolgert, dass insgesamt gesehen aufgrund fortbestehender Handlungsoptionen die Freiheitsbeschränkung künftiger Generationen nicht so gravierend sei, um von einer „eingriffsähnlichen Vorwirkung“ auszugehen. Dies ändere aber nichts daran, in der Sozialpolitik (Pflegeversicherung) resilienzfördernd zu denken und zu handeln.
Berthold Vogel: Klima- und Energiekrise: 3-G für eine soziale Klimapolitik (S. 142–147)
Der geschäftsführende Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI), Prof. Dr. Berthold Vogel, benennt unmissverständlich die wunden Punkte bei der ökologischen Transformation. Dabei beruft er sich auf die Streitschrift von Jonathan Franzen (2020) „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen“, der postuliert, dass „jeder Beitrag zu einer fairen und zivilen Gesellschaft ein Beitrag für den Klima- und Artenschutz ist“ (S. 144). Vogel fordert deshalb, die Energiewende nicht vom Windrad her zu denken, sondern vom gesellschaftlichen Zusammenhang ausgehend – nur so könne die Umsetzung der Erkenntnisse gelingen. Demokratie sei die Voraussetzung einer sozialen Klimapolitik; in der „Daseinsvorsorge vor Ort“ (S. 143) werde sich entscheiden, ob die sozialökologische Transformation gelinge. Zur Herstellung des sozialen Zusammenhalts brauche es: Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Gleichwertigkeit. Als gerecht werden den Alltag für alle verbessernde Angebote verstanden, Gemeinwohl entsteht an sozialen Orten und Gleichwertigkeit entstehe, wenn Lebensräume nicht abgehängt würden. Multi-Krisen erfordern Multi-Disziplinarität, schlussfolgert der Autor. Dazu brauche es grenzüberschreitendes Denken und Handeln in die gesellschaftliche Praxis hinein.
Stephan Rixen: Das Sozialstaatsprinzip und der Klimaschutz-Beschluss – alles wird anders? (S. 148–158)
Angesichts der „problematischen Vagheit des Sozialstaatsprinzips“ (S. 149) werde Rixen zufolge oft vom Vorverständnis der Kommentatoren ausgegangen. Dies treffe auch beim Versuch zu, aus dem Klimaschutz-Beschluss eine intergenerationelle Gerechtigkeit für das Sozialstaatsprinzip abzuleiten. Letzteres ziele darauf ab, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und ihre Ungleichheit evozierenden Folgen abzumildern. Insbesondere müsse der Gesetzgeber die Freiheitsausübung stärken, wo sie durch ökonomisch bedingte Defizite eingeschränkt werde. Hinsichtlich des Klimaschutz-Beschlusses seien zwei Aspekte zu analysieren: 1) Das Existenzminimum ist als „ökologisches“ definiert und es schützt nur das, „was im sozialrechtlichen Kontext als soziokulturelles, auf Teilhabe abzielendes“ (S. 152) bekannt ist. 2) Intertemporalität ist wegen eines kaum beschreibbaren zu verteilenden Lastenumfangs nicht zu sichern und eine intergenerationale Gerechtigkeit ist im Sozialstaatsprinzip juristisch nicht profiliert. Intertemporalität könnte, so Rixen, aber als individuelle und intergenerationelle Äquivalenz neu verstanden werden: Die individuelle Äquivalenz von Sozialversicherungsansprüchen (zumeist Rente) sei aufgrund des undifferenzierten Eigentumsbegriff schwach geschützt. Die intergenerationelle Äquivalenz könne nur über eine Erhöhung der Staatszuschüsse geschützt werden, sie sei im Sozialstaatsprinzip nicht enthalten und der sog. Generationenvertrag sei nur ein politisches Bekenntnis ohne rechtliche Aussagekraft. Resümierend verneint Rixen die im Titel gestellte Frage: Die verfassungsrechtlichen Aussagen des Klimaschutz-Beschlusses seien nicht auf das Sozialrecht übertragbar.
Ole Hengelbrock: Klimasozialpolitik: Schlussfolgerungen für die internationale Arbeit der verbandlichen Caritas (S. 159–168)
Der Referent für Grundsatzfragen beim DCV/Caritas International Ole Hengelbrock greift den Zusammenhang von ökologischen und sozialen Aspekten auf, verweist auf die Schutzfunktion des Staates und demonstriert an Beispielen, welche Zusammenhänge zwischen prekären Lebenslagen und Betroffenheit durch Unwetterereignisse, aber auch zwischen staatlichen Schutzvorkehrungen und einer Risikominimierung bestehen. Er präsentiert sechs Schlussfolgerungen, welche die internationale Arbeit des DCV nachhaltig beeinflussen können:
- Schutz vor Katastrophen (z.B. Extremwetterereignisse) muss in der nationalen und internationalen Rechtsprechung verankert sein und Regierungen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.
- Die soziale Dimension ist ein zentrales Element im Verständnis von Katastrophen: Konflikte entstehen um Ressourcen, Menschen ohne Zukunftsperspektiven radikalisieren sich, wegbrechende Lebensgrundlagen verursachen Migration.
- Frieden kehrt ein, wenn technische Veränderungen unter Einbezug der Menschen in lokal geführten Initiativen vonstattengehen.
- Im Rollenverständnis der Akteure braucht es ein Umdenken: Die Menschen wissen, was sie benötigen; Soforthilfe kann schon vor dem Eintritt einer Katastrophe z.B. bei Überschreitung von Schwellenwerten einsetzen.
- Ökologisch wertvolle Praktiken des Globalen Nordens wie z.B. E-Mobilität und der Verbrauch von Rohstoffen aus dem Globalen Süden können dazu führen, dass Staaten in der nördlichen Hemisphäre ihre eigene Entwicklung zulasten der Staaten in der südlichen Hemisphäre betreiben.
- Der Schutz von ärmeren Bevölkerungsteilen in der Welt ist nur mit fairen Handelsbeziehungen möglich.
Für die Arbeit von Caritas International fordert der Autor, die national „tragfähige Klimasozialpolitik“ um eine „internationale Weltklimapolitik“ (S. 167) zu ergänzen.
Eva M. Welskop-Deffaa: Klimaschutz, der allen nutzt – Klimasozialpolitik als Anliegen der Jahreskampagne 2023 des Deutschen Caritasverbandes (S. 169–174)
Das Klimaschutz-Urteil mache das BVerG „zum natürlichen Partner“ (S. 169) des DCV und dessen Nähe zur Lebenswelt vor allem derjenigen Menschen, die am meisten unter den Folgen des vom Menschen gemachten Klimawandels leiden. Die politische Agenda der Wohlfahrtsverbände beinhalte, wieder stärker das „Wir“ in den Blick zu nehmen und sich des Gemeinsinns und der Allmende bewusst zu werden. Die Kampagne des DCV „Klimaschutz, der uns allen nutzt“ knüpfe an die Gemeingüter-Idee an und mache sich mit allen Gliederungen und innovativen Aktionen eines großen Verbandes daran, Klima und Sozialpolitik zu verbinden – im Glauben daran, dass eine gemeinsame Problemlösung zur intertemporalen Freiheitssicherung möglich sei.
Diskussion
Das vorliegende Resultat der Denkwerkstatt beweist, wie ertragreich es ist, Expert:innen mit ihrer jeweiligen Perspektive auf den Klimaschutz-Beschluss in eine intra- wie interdisziplinäre Diskussion eintreten zu lassen, statt einem normativen Impuls, einem einseitigen Aktionismus oder auch einem von der eigenen Perspektive gefärbtem Idealismus nachzugehen und letztlich auch Ressourcen wirkungslos zu verschwenden. Die in den Einzelbeiträgen enthaltenen Kommentierungen der Begründungsfigur einer „intertemporalen Freiheitssicherung“ unterscheiden sich in Nuancen hinsichtlich einer Übertragbarkeit auf andere Gefährdungslagen – insbesondere im sozialrechtlichen Bereich. Eher pessimistische Auffassungen („Sonderdogmatik“) einerseits und vom BVerfG ausgehende Impulse für einen gesetzgeberischen Anpassungszwang an gesellschaftliche Herausforderungen andererseits, sind vertreten. Die Beiträge eint unmissverständlich die gemeinsam geteilte Sorge um den wirkungsvollen Schutz der planetaren Grenzen: Nationalstaatlich, EU-weit und international. Was das Instrument eines Restbudgets in ökologischer Hinsicht bedeutet, kann in naher Zukunft ein anderes – noch zu schaffendes – Instrument für soziale Dimensionen sein. Der Band wird den eingangs genannten Zielsetzungen (erster Beitrag) absolut gerecht. Dass uns die Aspekte einer Klimasozialpolitik und zukünftig noch mehr einer globalen Weltklimapolitik weiter beschäftigen werden, liegt auf der Hand.
Fazit
Der (umwelt)verfassungsrechtlich sachorientierte Gehalt ist für die klimasozialpolitische Debatte von hoher Relevanz. Für Nicht-Juristen ist die Lektüre angesichts der rechtsdogmatischen Ausführungen eine Herausforderung. Der Band ist eine spannende Lektüre für alle, die sich mit dem vom Menschen gemachten Klimawandel und den Folgen beschäftigen.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
Website
Mailformular
Es gibt 77 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.
Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 13.06.2023 zu:
Stephan Rixen, Eva Maria Welskop-Deffaa (Hrsg.): Klimasozialpolitik. Der Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts und seine Folgen. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2023.
ISBN 978-3-7841-3569-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30406.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.