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Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Trauma und Bindung zwischen den Generationen

Rezensiert von Dr. Marlen Eisfeld, 22.08.2023

Cover Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Trauma und Bindung zwischen den Generationen ISBN 978-3-608-96588-9

Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Trauma und Bindung zwischen den Generationen. Vererbte Wunden und Resilienz in Therapie, Beratung und Prävention. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. 256 Seiten. ISBN 978-3-608-96588-9. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR.
Reihe: Fachbuch.

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Thema

Mit dem Zusammenhang von Trauma und Bindung wird ein weiterer Aspekt der Bindungstheorie nach Bowlby beleuchtet. Aktuelle Erkenntnisse der Forschung geben Einsichten in die Auswirkungen von traumatischen Ereignissen über mehrere Generationen. Stresserfahrungen durch Traumata zeigen sich generationsübergreifend, dies wird in den therapeutischen und auch politischen Kontexten deutlich. Besonders die biomolekularen Veränderungen durch Stress heben die Relevanz von bindungsgeleiteten Interventionen und Präventionen hervor. Ein Durchbrechen der Weitergabe von unsicheren Bindungsstrategien ist möglich mit Hilfe von Therapie, die den Zusammenhang von Trauma und Bindung erkennt und bearbeitet.

Herausgeber und Autor:innen

Alle Artikel des Buches wurden von den Referent:innen der internationalen Konferenz mit dem Titel „Trauma und Bindung zwischen den Generationen. Vererbte Wunden und Resilienz in Therapie, Beratung und Prävention“ verfasst.

Prof. Dr. med. habil. Karl Heinz Brisch als Herausgeber des Buches hat die Konferenz im September 2021 in München geleitet. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie; Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) in Salzburg. Er hat eine Ausbildung in spezieller Psychotraumatologie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Seine klinische Tätigkeit und sein Forschungsschwerpunkt umfassen die Bereiche der frühkindlichen Entwicklung und der Psychotherapie von bindungstraumatisierten Menschen in allen Altersgruppen. In diesem Zusammenhang hat er zahlreiche Bücher herausgegeben, Konferenzen geleitet, Präventionsprogramme entwickelt und publiziert.

Entstehungshintergrund

Vom 10.-12. September 2021 fand die digitale Webkonferenz mit dem Titel „Trauma und Bindung zwischen den Generationen. Vererbte Wunden und Resilienz in Therapie, Beratung und Prävention“ statt. International bekannte Experten aus Forschung, Klinik und Praxis haben ihre Vorträge für diesen Herausgeberband verschriftlicht.

Aufbau und Inhalt

Dieser Herausgeberband gliedert sich in Vorwort, Einleitung und dreizehn Beiträge zur Thematik. Das Buch endet mit Kurzvorstellungen der Autoren und Autorinnen der Beiträge.

Inhalte des Vorwortes sind die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Werkes und die Zielgruppen für dieses Buch. So werden alle Personengruppen angesprochen, die mit Menschen im Kontext von Trauma in den Bereichen Begleitung, Beratung und Therapie arbeiten. In der Einleitung werden die Beiträge in der Reihenfolge des Inhaltsverzeichnisses vorgestellt. Alle Beiträge sind inhaltlich gegliedert und enden mit Quellenangaben.

Transgenerationale Vermächtnisse

Die Folgen des nationalsozialistischen Terror- und Mordsystems für meine deutsch-jüdische Familie

Wolf Ritscher beschreibt aus persönlicher Perspektive den Umgang mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges als deutsch-jüdische Familie. Dazu entwickelt er ein Drei-Ebenen-Modell über transgenerationale Vermächtnisse, Geheimnisse und Tabus. Über fünf Generationen wird deutlich, wie diese Ebenen wirksam waren und unterschiedlich stark die Bindungsentwicklungen beeinflusst haben. Zum Abschluss zeigt er auf, dass seine Familienbiographie eine große Herausforderung dargestellt hat aber auch, dass sie transgenerational verwandelt, aufgelöst und korrigiert werden kann.

Ererbte Wunden erkennen und heilen

Therapie der transgenerationalen Traumatisierung

In diesem ebenfalls autobiographischen Beitrag von Katharina Drexler wird eine besondere psychotherapeutische Behandlungsmethode dargestellt. Unverarbeitete Trauma-Erfahrungen erhöhen die Vulnerabilität in den nächsten Generationen. So wird zwischen selbst erfahrenen Traumatisierungen und transgenerationalen Traumata unterschieden. An einem Fallbeispiel wird die Therapie der ererbten Wunden nachvollziehbar beschrieben.

Deutsche Kriegsenkel durchbrechen die Mauer des Schweigens

Über den Zusammenhang zwischen politischer Einflussnahme und kollektiven Schweigen schreibt Sabine Bode im dritten Beitrag. Sie ist Journalistin und verfasst den teilweise autobiografischen Beitrag aus der Ich-Perspektive. Sie zeigt auf, wie weitreichend die Folgen des Krieges für eine Gesellschaft sind und wie essentiell die emotionale Aufarbeitung dieser sind. Exemplarische Familiengeschichten zeigen die unterschiedlichen Wege der Verarbeitung und die Notwendigkeit das hartnäckige Schweigen zu durchbrechen.

Trauma-Narrative zwischen politischer Einflussnahme und transgenerativen Effekten

DDR/BRD-Vereinigung und Ein-Kind-Politik in China

Mit unterschiedlichen Trauma-Narrativen befasst sich der Artikel von Jiajia Wu und Alexander Korittko. Beispielhaft werden die politischen Systeme der deutschen Wiedervereinigung und die Ein-Kind-Politik Chinas vorgestellt. Die politischen Entscheidungen führten bei beiden Beispielen zu psychischen Reaktionen, die auch traumatische Aspekte beinhalteten. Drei Hypothesen befassen sich mit dem Vergleich der beiden Beispiele und deren kollektiven Auswirkungen. In einem Ausblick wird ein langer Weg der Verarbeitung prognostiziert.

Biomolekulare Spuren von traumatischem Stress

Eine intergenerationale Perspektive und innovative therapeutische Ansätze

Auch auf physiologischer Ebene zeigen sich Stresserfahrungen, die genrationsübergreifend sind. Folgen von traumatischen Stress sind Veränderungen in der Funktionsweise des Oxytocinsystems, der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse (HPA-Achse) und von epigenetischen Veränderungen. Für die Autorinnen Suchithra Varadarajan, Anja M. Gumpp und Iris-Tatjana Kolassa stellt die Ernährung einen innovativen Einflussfaktor auf die Stress-Resilienz im gesamten Lebenslauf dar.

Frühe Stresserfahrungen und Programmierung von Gesundheit und Krankheit

Bereits in der Schwangerschaft hinterlässt Stress physiologische Spuren im heranwachsendem Fetus. Sonja Entringer weist auf die sensiblen Phasen der Entwicklung hin und die somit frühe lebenslange Programmierung der Vulnerabilität. Demzufolge braucht es frühe vorgeburtliche Risikoscreenings, die individuelle Konstellationen berücksichtigen.

Entwicklungstraumata und das Durchbrechen des Zyklus

Langfristige Folgen von Entwicklungstraumata sind psychische und physische Probleme. Teresa W. Ngigi bezeichnet das Entwicklungstrauma als ein Beziehungstrauma, welches nur dann Heilung erfahren kann, wenn es in Verbindung mit sich selbst und mit anderen verbunden ist. Es geht um eine Abkehr der Pathologisierung des Kindes hin zu einer ganzheitlichen Heilung von Körper, Seele und Geist mit gesunden Beziehungen zu verlässlichen, vertrauenswürdigen Erwachsenen.

Generationsübergreifende Auswirkungen von Traumata

Implikationen für Individuen und Gesellschaft

Ali Jawaid und Isabelle M. Mansuy geben einen Forschungsüberblick zur inter- und transgenerationalen Weitergabe bei Menschen und Tieren zu Auswirkungen von Traumaexpositionen. Eine kurze Definition zur Epigenetik und den Mechanismen führt in den Beitrag ein. Forschungen zur Epigentik bei männlichen Keimzellen von Tieren weisen auf die Weitergabe von traumatischen Erfahrungen über mehrere Generationen hin. Auch bei den Humanstudien wird eine epigenetische Vererbung diskutiert.

Transgenerative Weitergabe der Traumatisierung und des Zornes

Zentrales Thema des Beitrages von Egon Garstik ist die Rolle des Vaters bei einer konstruktiven Vaterschaftsentwicklung. Ausgewählte Fallbeispiele illustrieren die therapeutische Arbeit mit den Vätern, die den Umgang mit heftigen Affekten bei der Elternschaft beschreiben.

Kann ein extremes Trauma weitergegeben werden?

Eine Drei-Generationen-Studie mit Holocaust-Überlebenden und ihren Nachkommen

Forschungen verdeutlichen, dass die Folgen des Holocausts sich über Generationen hinweg zeigen. In diesem Artikel von Abraham Sagi-Schwartz wird eine Studie (mitwirkend sind internationale, einschlägige Forschende) vorgestellt, die sich mit dem kleinsten Intervall von Betroffenen auseinandersetzt, denn es werden Erkenntnisse von drei Generationen, die gleichzeitig präsent sind, vorgestellt. Zum einen geht es um die Spuren und die Weitergabe der Traumatisierungen bei Holocaust-Überlebenden und zum anderen um mögliche Resilienzfaktoren.

Patho- und Therapieepigenetik psychischer Erkrankungen

Mit den offenen Fragen zur genetischen Disposition von psychischen Erkrankungen befasst sich der Beitrag von Christiane Ziegler, Miriam A. Schiele und Katharina Domschke. Auf dem Gebiet der Epigenetik werden wichtige Basisbegriffe benannt und definiert. Mechanismen der Entstehung von Risiko und Resilienz werden auf dem aktuellen Forschungsstand vorgestellt. Dass Kenntnisse der Epigenetik zukünftig für therapeutische Interventionen genutzt werden können, sehen die Autor:innen als vielversprechenden Weg.

Prävention bringt’s

Der gesellschaftliche und ökonomische Mehrwert von Programmen mit Präventivcharakter anhand von drei Fallbeispielen

Im Kontext von „Frühen Hilfen“ stellen Flavia-Elvira Bogorin und Christian Grünhaus zunächst das Konzept der „Frühen Hilfen“ vor. Als Methode zur Einschätzung von gesellschaftlichen Wirkungsanalysen wird das „Social Return on Investment (SROI)“ definiert. Drei Fallbeispiele aus dem Bereich der bindungsorientierten Präventionsprogramme mit SROI Analysen zeigen die Bedeutsamkeit von Präventionsprojekten für die Gesellschaft auf. Dabei sind die Wirkungen langanhaltend und auf mehreren Ebenen wie der ökonomischen, gesundheitlichen und sozialen Ebene feststellbar.

Trauma-Resilienz zwischen den Generationen

Die Beiträge enden mit der Thematik Resilienz und dem Zusammenhang zum Trauma. Karl Heinz Brisch geht auf die Geschichte der Resilienz, die individuelle Resilienz und die kollektive Resilienz ein. Trauma-Resilienz bezeichnet der Autor als Schutzfaktor, welcher auch an nächste Generationen weitergegeben werden kann. Basis dafür sind sichere Bindungserfahrungen von Anfang an.

Diskussion

Ein besonderer Wert dieses Werkes liegt in der Vielfalt der Beiträge. Nicht nur wissenschaftlich ansprechend, sondern auch persönlich berührend sind die geschilderten Erfahrungsberichte aus der therapeutischen Praxis. Überzeugend sind auch die bahnbrechenden Erkenntnisse der Forschung im Bereich der Epigenetik. Folgen von Traumata auf individueller, familiärer und kollektiver Ebene zeigen sich in der Entwicklung von Bindungsbeziehungen. Für das tiefe Verständnis der Inhalte sind grundlegende Kenntnisse der Bindungstheorie nach Bowlby und Wissen über Konzepte von Traumafolgestörungen notwendig. Mit diesem Vorwissen gibt das Buch einen vielfältigen Überblick über den Einfluss von traumatischen Erfahrungen auf die Bindungsentwicklung aus intergenerationaler Perspektive. Eine Weitergabe von traumatischen Stress zu verhindern, ist die höchste Zielvorstellung dieses Buches und dient damit einer gesunden Entwicklung des Menschen.

Fazit

Eindrückliche Beiträge über den Zusammenhang von Trauma und Bindung aus transgenerationaler Perspektive erweitern das Wissensspektrum von Fachleuten, die bindungstheoretisch arbeiten. Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und persönlich berührende Erfahrungsberichte machen dieses Buch besonders lesenswert.

Rezension von
Dr. Marlen Eisfeld
Universität Rostock
Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation
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Es gibt 1 Rezension von Marlen Eisfeld.

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Zitiervorschlag
Marlen Eisfeld. Rezension vom 22.08.2023 zu: Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Trauma und Bindung zwischen den Generationen. Vererbte Wunden und Resilienz in Therapie, Beratung und Prävention. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. ISBN 978-3-608-96588-9. Reihe: Fachbuch. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30413.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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