Peter Widmer: "Jeder geht auf den Tod des Anderen"
Rezensiert von Dr. Ulrich Kobbé, 24.04.2023
Peter Widmer: "Jeder geht auf den Tod des Anderen". Ein Kurs mit Materialien. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2022. 398 Seiten. ISBN 978-3-8260-7678-7. D: 39,80 EUR, A: 41,00 EUR.
Thema
Das Werkbuch erfasst psychoanalytische Konzepte Sigmund Freuds in deren Bearbeitung, Erweiterung und Diskussion durch Jacques Lacan. Inhaltlich betrifft die Stichwortauswahl in alphabetischer Auflistung: Aggression, Destruktivität, Gewalt (und symbolischen/​realen Mord), Hilflosigkeit (und deren Abwehr), Identifizierung, Narzissmus (und Abwehrformen), Privation, Selbst, Selbstbewusstsein, Selbsterhaltung, Signifikant (und Schrift), Sprache/​Sprechen (und Aus-/Sagen bzw. Aus-/Gesagtes), Sublimierung…
Die Welt ist voller Konflikte, sogar Kriege, und die Psychoanalyse hat dazu wenig gesagt, weil sie sich auf Probleme der Sexualität und des Geschlechtlichen konzentriert hat. Aggression, Destruktivität, Zerstörungen thematisiert sie nur soweit, als es um Liebe und Sexualität und deren Störungen geht. Bei vielen Konflikten geht es jedoch um Machtansprüche, die zu Hass und Zerstörungen führen. Das Buch beabsichtigt, die Psychoanalyse zu erweitern und die Ursachen von Hass und Destruktion zu ergründen. Damit nimmt sie eine Absicht Freuds auf, der in seinen letzten Werken die menschliche Zerstörungslust thematisierte.
Der Titel des Buches »Jeder geht auf den Tod des Anderen«, der von Hegel stammt, weist darauf hin, dass jeder Mensch in seinem Werden sein eigenes Selbstbewusstsein entdeckt, das ihn von allen anderen Menschen unterscheidet. Jeder glaubt, in einer Ausnahmeposition zu sein. Damit ist die Konfrontation mit anderen Menschen, die sich ebenfalls als Ausnahme sehen wollen, unvermeidlich. Das Zusammenleben erfordert jedoch einen Verzicht auf Absolutheitsansprüche. Die Frage stellt sich jedoch, ob diese Überwindung gelingen kann, und was die Bedingungen dafür sind. Wie Freud und andere gezeigt haben, ist der Mensch eigentlich ein hilfloses Wesen, angewiesen auf die Zuwendung von »Nebenmenschen«. Wie kommt es, dass er sich so schwer tut, dies anzuerkennen und immer wieder den Versuchungen nachgibt, Idolen, sogar Tyrannen nachzuhängen oder sich sogar als Prothesengott zu wähnen? Das Buch zeigt darüber hinaus, dass Destruktion auch eine produktive Seite hat, denn das Sprechen beruht darauf, Sinnliches in Laute zu verwandeln.
Autor/​Herausgeber
Peter Widmer, Dr. phil., Psychoanalytiker in Zürich; Initiant der Zeitschrift RISS und des ›Lacan Seminar Zürich‹; Gastprofessuren und Lehraufträge u.a. in Japan, New York und an Universitäten und psychoanalytischen Institutionen in Europa, im Iran, und in Südamerika (Verlagsangaben).
Entstehungshintergrund
Zwischen 2020 und 2022 fand im ›Lacan Seminar Zürich‹ ein dreisemestriger Kurs statt, der die oben skizzierten Konzepte/​Modelle und Begriffe zum Inhalt hatte. Coronabedingt erfolgte dies größtenteils online, im 3. Semester hybrid. Das daraus entstandene Arbeitsbuch solle, so der Autor, eben nicht nur den Teilnehmern des Kurses, sondern auch anderen Interessierten die Möglichkeit geben, den in Sitzungen geliederten Ausführungen zu folgen und die zur Verfügung gestellten Materialien zu nutzen. Widmer versteht dieses Arbeitsbuch als Option: „Man kann damit arbeiten, nach eigenem Gusto. Die Materialien, die nicht alle im Kurs einbezogen wurden, lassen sich studieren und weiter ausbauen, die Kommentare erweitern, kritisieren, berichtigen“ (S. 14).
Aufbau und Inhalt
Struktur des Arbeitsbuches und Arbeitsprogramms sind dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen. Im Folgenden werden je Seminar punktuell eine, hier die 5., 12., 18. Sitzung exemplarisch ausführlicher vorgestellt:
5. Sitzung: Das Selbstbewusstsein und seine Folgen. Das Selbst und die Zeitlichkeit/Das Wesen des Selbstbewusstseins/Ein erweitertes Spiegelstadium/​Materialien IV (S. 65–80)
Widmer beginnt diese Sitzung mit einem für die Sitzungen charakteristischen didaktischen Schritt, mit einer kurzen Rückschau auf bisherige Inhalte, zugleich mit Referenzen auf Freud, Lacan und Winnicott, zugleich Descartes, Husserl und Heidegger. Ausgehend von der Unterscheidung von wahrem und falschem Selbst führt er das Konzept der Als-ob-Persönlichkeit von Helene Deutsch ein, um das Dasein als Ausgangspunkt von Selbstreflexion (und Selbstbewusstsein) zu definieren.
Wenn von den Registern Lacans die Vergangenheit dem Imaginären (I) und die Zukunft dem Symbolischen (S), die Gegenwart dem Realen (R) zuzuordnen ist, geht es darum, das Selbst zeitlich/​zeithistorisch zu denken und dessen entwicklungspsychologische Innenperspektive zu entwickeln, um das Zusammenspiel von Körper und Signifikant, das Selbst „als Nullpunkt der räumlichen und zeitlichen Bezüge des Ichs“ (S. 68) zu verdeutlichen.
Die Bildung (s)eines Selbstbewusstseins über (s)ein Erkennen der Illusionen des Spiegelstadiums thematisiert „die Signifikanten als Medium des Erkennens“ (S. 69), die Gespaltenheit des Subjekts, die Differenz von Bewusstsein und Unbewusstem trotz/in der subjektiv möglichen Unterscheidung von Schein und Sein.
Zu diesen Facetten liefert Widmer umfassende Auszüge (9 Seiten) aus Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Hegels ‚Nürnberger Schriften‘ sowie ‚Phänomenologie des Geistes‘ und von Kleists ‚Amphitryon‘. Sein Hinweis darauf lautet, es gäbe eben auch ein nicht vom Imaginären, sondern vom Symbolischen getragenes Spieglstadium, das „sowohl bei Hegel als auch bei Kleist auf je besondere Weise thematisiert“ werde (S. 71).
12. Sitzung: Sprechen und Töten. Zwei Formen von Gewalt/​Schrift und Gewalt/​Materialien XI (S. 167–178)
Mit diesem Seminar „nähern [wir] uns einem Verständnis davon, in welchem Zusammenhang die Signifikanten zu Destruktion und Gewalt stehen“. Es geht ihm zunächst um das, „was Lacan »symbolischen Mord« nennt, was gewiss hegelianisch klingt“ und bspw. das Fort-Da-Spiel Freuds „als Ausgang aus dem Spiegelstadium“, als Übergang vom Visuellen zum Symbolisch-Akustischen betrifft und gleichbedeutend sei „mit dem Mord der Sinnlichkeit und der Entdeckung des durch die Signifikanten gestützten Selbstbewusstseins“ (S. 167). Nicht nur um den Mord an der Sache durch dessen Benennung geht es dabei, sondern auch um ein homophones Beispiel, einen lacanschen Klassiker: Wenn im Französischen die Anrede »tu es« [Aussprache: tʊɛ] = „Du bist“ sich anhört wie »tuer« [Aussprache: tɥe] = „töten“, dann wird deutlich, wie nicht nur repräsentierte Laute „mit Vorstellungen“, sondern auch Kommunikation mit etwas Destruktivem ausgestattet sei(en).
In dieser Sitzung geht es Widmer um zwei unterschiedliche Formen von Gewalt und Destruktion: Wenn es zunächst „um den Mord an der Sinnlichkeit“, um die Effekte von Versprachlichung und Benennung geht, ging es hernach „um Rivalität, um Mehr-Sein durch Mehr-Haben“,.d.h. um zum Teil geschlechtertypische, unterschiedliche Formen von Gewalt (S. 171), im Folgenden dann sowohl um Geschlechterdifferenz als auch um die Beziehung verschiedener Formen von Destruktion und Gewalt zueinander.
Zum Kontext von Schrift und Gewalt fasst das Seminar dann zusammen, auch Schrift habe eine mörderische Funktion, „was sich schon an den schwarzen Buchstaben zeig[e]“. mit ihr als totem Material sei nicht nur die Sinnlichkeit des Dings durch verschriftlichte Namensgebung „abgetötet“, sondern erweise sich auch die Stimme als objektiviert. Wenn es denn noch handschriftliche Zeichen gäbe, die Schrift also nicht gänzlich maschinell ersetzt/​gesetzt worden sei, verrieten eben sie noch etwas „vom schreibenden Subjekt, d.h. von seiner Singularität“ (S. 173).
Mit den Materialien zur Sitzung stellt der Autor „Freud-Zitate“ aus ‚Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (Rattenmann)‘, aus ‚Psychopathologie des Alltagslebens‘ und aus ‚Das Unbewusste‘ zur Verfügung.
18. Sitzung: Signifikant und Schrift.
Exkurs/Der einzige Zug und die Identifizierung/Die Striche (traits unaires/einzelne Züge) kantianisch gesehen/Die Striche und der Schematismus der Einbildungskraft/​Materialien XVII (S. 291–305)
Zusammenfassend rekapituliert Widmer, „dass das Tödliche zwei entgegengesetzte Dimensionen hat:
- als Ende des Lebens (Zerstörung durch Zeit, durch Menschen, durch Katastrophen)
- als Baustein des Lebens (der Tod, der das Leben bringt; Schrift, Engramm, Strich)“ (S. 291).
Mit Verweis „auf das vorzügliche und in dieser Hinsicht informative Buch“ von Antoine Mooji (2018) steigt der Autor in die zuerst präödipal, dann ödipal angelegte Identifizierung ein, um das darin enthaltene freudsche Konzept des „einzigen Zugs“ – bei Lacan »trait unaire« – einzuführen, Lacans anderes Verständnis einzuführen, das Konzept dann mit Kant zu lesen, auf dessen kategorische, hypothetische und disjunktive Formen des Urteils zu beziehen, dabei problematische, assertorische und apodiktische Modalitäten zu unterscheiden und zu beachten, „in welcher Weise das Prädikat dem Subjekt zukomme, ob es möglich, wirklich oder notwendig sei“ (S. 295).
Mit Bezug auf „die bekannten Sätze Kants: »Gedanken ohne sinnlich Vorgegebenes sind leer« und »Anschauungen ohne Begriffe sind blind«“ (S. 295) mäandert das Programm der Sitzung über eine kantianische Sichtweise nun zu „einzelnen“ – statt einzigen – Zügen mutierten Strichen, über deren markierende, unterscheidende, verneinende, verknüpfende, nachträgliche, additive, historisierende, handlungsbedingte, rückbezügliche, fiktionale, irreale, nachgeahmte, wieder gelöschte, einzelne, kollektive, dauerhafte, repräsentierende, erzählende, mathematische Eigenschaften bzw. Funktionen hin zu Schemata der Einbildungskraft. Zusammengefasst bedeute dies, dass die Striche werden, „sofern ihre Synthetisierung erfolgt“, als Einheit wahrgenommen ein Körperbild repräsentierten, das sich damit als Schrift der Vergänglichkeit entziehe. Zugleich beinhalte jeder Strich „eine Erzählung“, wodurch die Striche nicht nur quantitative, sondern auf unterschiedlichen Ebenen auch qualitative Eigenschaften inne hätten: Sie verwirklichten die „Bejahung ihrer tatsächlichen Geschichte“, könnten demzufolge auch »fake news« als vermeintlich wahr ausgeben. Striche bedürften mithin eines Urteils darüber, „ob sie auf etwas Tatsächliches, auf etwas Mögliches oder auf etwas Unmögliches verweisen“ (S. 289–299).
Die Materialien präsentieren den ca. 20.000 Jahre alten Ishango-Knochen mit vorhistorischen Strichzeichen aus Lacans Arbeit zum trait unaire (einzigen Zug), einen Brief Freuds vom 6. Dez. 1896 sowie „Zitate zum Signifikanten“ (S. 303).
Diskussion
Das Buch ist ein Arbeits-, ein Werkbuch mit einer beachtlichen Sammlung an Materialien aus unterschiedlichen psychoanalytischen und philosophischen Quellen. Einerseits dokumentiert und wiederholt es, durchaus im O-Ton der Online-Veranstaltung, das geführte Durcharbeiten der Inhalte, andererseits sind diese auch für lacanianisch geschulte Leser weder ad hoc noch ohne Erinnern/Zurückblättern, Wiederholen, Durcharbeiten in ihren Bedeutungsvarianten und Implikationen verständlich. Insofern Lacan (1953, S. 299) mit der lakonischen Feststellung provoziert, „die Funktion von Sprache besteh[e] nicht darin zu informieren, sondern zu evozieren“, verwirklicht – und präsentiert – das verschriftlichte Sprachprogramm (wie anhand der oben kursorisch referierten Sitzungsinhalte zu erahnen) eben diese, mitunter irritierende, Funktion, Wirkung, Heraus-/​Forderung.
Dabei hat Widmer sowohl durch die Vorauswahl, Zusammenstellung, Gliederung der Freud-Lacan-Lektüren und die Ergänzungen via andere Autoren und Referenzen, durch Übersetzungsvorarbeit, Einordnungen und Kommentierungen, durch Exkurse sowie tabellarische Schemata, Originalabbildungen und -zitatstellen wesentliche Vorarbeiten geleistet. Dies ermöglicht ein systematisches Durcharbeiten der vorstrukturierten Inhalte, erspart aber die – u.U. ja auch lustvolle – intellektuelle Mühe eigenen Denkens keineswegs. Kurz: Keine leichte, durchaus aber anregende und nährende Kost i. S. des hegelianischen Buchtitels »Jeder geht auf den Tod des Anderen«: So wie Sprache immer die eigene als auch die vorgegebene Sprache ist, ist Selbstbewusstsein ein autonomes und doch von der Existenz Anderer abhängiges Phänomen, bedarf das eigene Sein der Mit-/Teilung, um wirksam, erfüllt, kultiviert werden zu können.
Fazit
Diese Veröffentlichung ist ein Arbeitsbuch lacanianisch verstandener Psychoanalyse, das ein dreisemestriges Online- bzw. Hybrid-Seminar am ›Lacan Seminar Zürich‹ zu Themen der Gewalt und Destruktion dokumentiert. In 24 Sitzungen werden subjektkonstituierende Aspekte dieses Themenspektrums entfaltet, wird in lacanianisches Psy-Verständnis und Psychoanalyse als ›konjekturale‹ (sich annähernde, Verfälschung korrigierende) Wissenschaft eingeführt, werden ergänzende psychoanalytische wie philosophische Materialien im Original zur Verfügung gestellt. Als Werkbuch ist dieser Reader ein gut vorstrukturiertes, didaktisch geleitetes Arbeitsprogramm, das zugleich – wie in Lacan-Exegesen zu erwarten – ein eigenständiges, aktives Durcharbeiten und eine ambivalenztolerante Haltung voraussetzt.
Literatur
Lacan J. 1953. Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse. In: Lacan, J. 1966. Écrits (S. 237–322). Paris: Seuil.
Mooji, A. 2018. Lacan and Cassirer. An essay on symbolisation. Leiden, Boston: Brill/​Rodopi.
Rezension von
Dr. Ulrich Kobbé
Klinischer und
Rechtspsychologe, forensischer Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter
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Zitiervorschlag
Ulrich Kobbé. Rezension vom 24.04.2023 zu:
Peter Widmer: "Jeder geht auf den Tod des Anderen". Ein Kurs mit Materialien. Verlag Königshausen & Neumann
(Würzburg) 2022.
ISBN 978-3-8260-7678-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30417.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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