Guido Graf (Hrsg.): Rezensiv - Online-Rezensionen und kulturelle Bildung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.02.2023

Guido Graf (Hrsg.): Rezensiv - Online-Rezensionen und kulturelle Bildung.
transcript
(Bielefeld) 2021.
444 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5443-1.
D: 45,00 EUR,
A: 45,00 EUR,
CH: 54,90 sFr.
Reihe: Digital humanities - Band 2.
Rez@Kultur-Projekt
„Rezensive Texte“ sind kulturelle, digitale Artefakte; was heißt das? Es sind wissenschaftliche, interdisziplinäre Reaktionen auf Veränderungsprozesse; es sind Chancen für die Produktion und Rezeption kultureller Bildungsprozesse; es sind Möglichkeiten und Systematisierungen zur Wahrnehmung, Be- und Verwertung in der wissenschaftlichen Kommunikation und Kooperation.
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Online-Rezensionsportale, wie z.B. auch www.socialnet.de, und Nachrichtendienste, wie www.sozial.de, bieten beim Wissensprozess vielfältige Impulse, wie „Steigerung von Diversität und Reflexion…, wie das Verfassen rezensiver Texte als kulturelle Praxis aufgefasst und durch die Kombination qualitativer und quantitativer Forschungsansätze analysiert werden kann“- An der Universität Hildesheim wurde das interdisziplinäre, hochschulübergreifende, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsprojekt „Rez@Kult“ durchgeführt. Die wissenschaftliche Fragestellung, wie die „Digitalisierung kultureller Rezensionsprozesse“ verläuft, wird mit der multimethodischen, empirischen Analyse thematisiert (https://www.uni-hildesheim.de/rezkultur/). Für Innovation, Themenführung und Koordination zeichnet das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft verantwortlich. Der Literaturwissenschaftler Guido Graf, der Wirtschaftsinformatiker Ralf Knackstedt und die Medienwissenschaftlerin Kristina Petzold geben die Abschlussarbeit heraus.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort wird der Band in sieben Kapitel gegliedert. Im ersten referiert das Herausgeberteam über Forschungsdesign und Verlauf des interdisziplinären Forschungsprojektes: „Literaturwissenschaft, Bildungswissenschaft, Wirtschaftsinformatik und Computerlinguistik haben dafür Methoden der einzelnen Disziplinen kombiniert, also auf quantitativen und qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden beruhend Massendaten erhoben und auch gezielt Einzelfalluntersuchungen zu Rezensionsprozessen durchgeführt“. Die Vielfalt und Heterogenität der im Internet publizierten Buchbesprechungen, -vorstellungen und Literaturempfehlungen macht es notwendig, die rezensiven Texte im digitalen Raum von traditionellen, text- und literaturkritischen Rezensionen abzugrenzen – und somit eine neue Form von Rezensionsforschung und Kulturtechnik anzugehen. Das Forschungsinteresse in der Literaturwissenschaft richtet sich dabei auf drei Aspekte: Zum einen ist es die mediale Verfasstheit und Publizierung; zum zweiten sind es die literatur- und kunstkritischen Aspekte; und drittens sind es die Zusammenhänge von Lesen, Wissen, Kombinieren, Konsumieren und Handeln, die rezensive Texte interessant machen. Der definitorische Zugang ergibt sich erst einmal in Bestimmung, dass eine Rezension eine „meinungsäußernde Darstellungsform der Literatur-und Kunstkritik“ ist (Walter von La Roche, 2013). Im Forschungsprojekt werden sie definiert als „Äußerungen, die sprachliche Handlungen umfassen, die sich auf ein zuvor rezipiertes Kunst- oder Sprachwerk beziehen“.
Im zweiten Kapitel werden rezensive Texte in ihren Erscheinungsformen und Ausdrucksweisen dargestellt. Die Hildesheimer Kulturwissenschaftlerin Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss und die Kasseler Kulturanthropologin Claudia Roßkopf setzen sich mit der „Anwendung der Grounded Theory Methodology“ (GTM) auseinander. Es sind Iterationen, wie sie in den ausgewählten Plattformen – Amazon, BücherTreff und Tripadvisor – analysiert werden. Die Fundstellen und Quellen zeigen auf, „dass durch die Beschäftigung mit digitalen rezensiven Texten über literarische Werke und Artefakte Bildender Kunst spezifische kulturelle Bildungsprozesse möglich werden, die sich von ähnlichen analogen Praktiken unterscheiden“. Die Wirtschaftsinformatikerin Kristin Kutzner, Kristine Petzold und Rolf Knackstedt entwickeln mit dem Beitrag „Komponenten rezensiver Texte zu kulturellen Artefakten“ ein Mehr-Ebenen-Kategoriensystem. Damit ist es möglich, dass rezensive Texte identifiziert und analysiert werden können. Die verschiedenen, differenzierten Ebenen bieten an, die qualitativen und quantitativen Inhalte sach- und wahrheitsgemäß zu skizzieren.
Im dritten Kapitel werden „kulturelle Bildungs- und Teilhabeprozesse“ diskutiert. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss und Claudia Roßkopf machen sich mit ihrem Beitrag „Erkenntnisse aus bildungstheoretischer Sicht“ auf die Suche danach, welche digitalen Bildungsprozesse beim Rezensieren von künstlerischen Artefakten stattfinden, und welche Implikationen sich als Teilhabe an der Kulturellen Bildung ereignen. Es sind Fragen zum Ich- und Weltverhältnis, der Selbst- und Fremdwahrnehmung, und nicht zuletzt zur öffentlichen Meinungsbildung: „Das Sprechen bzw. Schreiben über die Kunst bzw. das ästhetische Erlebnis… beinhaltet komplexe Prozesse der Transformation“. Die beiden Autorinnen reflektieren auch „Erkenntnisse im Hinblick auf kulturelle Teilhabe“. Sie fragen nach den Möglichkeiten und dem Sinnverhalten, Einfluss zu nehmen. Die digitale Teilhabe bietet die Chance „nicht nur (von) digitaler im Sinne technischer Souveränität, sondern (auch) der Kombination mit kultureller sowie sozialer Souveränität“. Der nicht direkt beim Forschungsprojekt beteiligte österreichische Medienexperte und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Florian Wiencek, steuert mit seinem Beitrag „Rezensionen: Eine mediale Form für Kunstvermittlung?“ zum Sammelband bei. Er fokussiert seine Aufmerksamkeit auf drei Blickrichtungen: „Rezension als Linse für die Kunstwahrnehmung“ – „als Tool für co-kreative Wissensgenerierung“ – „als Vernetzungs-Hub“.
Das vierte Kapitel „Datenanalysen zu ausgewählten Themenfeldern“ beginnt mit dem Überblick über Schlüsselkategorien der Theoriebildung (Rolf Knackstedt/Guido Graf/Kristina Petzold und Computerlinguist Ulrich Heid). Es sind die Themenfelder „Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis“, die sich als Tugenden „Gemeinschaftlichkeit, Themenvielfalt, Sprachgebrauch, Selbstthematisierung“ darstellen. Sie werden in den Beiträgen „Themenfeld Gemeinschaftlichkeit“ von David Walter, Kristin Kutzner, Anna Moskvina, Ulrich Heid, Kristina Petzold und Ralf Knackstedt: „Themenfeld Themenvielfalt“ von Kristin Kutzner, Anna Moskvina, Ralf Knackstedt und Ulrich Heid; in „Themenfeld Sprachgebrauch“ von Anna Moskvina, Ulrich Heid; und zum „Themenfeld Selbstthematisierung“ von Anna Moskvina, Ulrich Heid, empirisch ausgewiesen. Der Baseler Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer, nimmt mit seinem Gastbeitrag „Wer sind die Rezensent_innen?“ eine ungeklärte, undifferenzierte Frage auf. Es sind die intellektuellen, ideellen und professionellen Ansprüche zum Mitsprechen, der Selbstermächtigung und des Wertungswillens, die in der Rezensionsforschung Beachtung finden sollten.
Mit dem fünften Kapitel werden die Ergebnisse des Forschungsprojektes „rez@Kultur“ dargestellt. Kristina Petzold und Guido Graf diskutieren die Analysen und zeigen mit den Schwerpunkten – „Online-Rezensionen als rezensive Texte“, „rezensive Gemeinschaften“, „Subjektkonstitution als Online-Rezensent_in“, „ökonomische Dimension rezensiver Texte“, „Wertungsprozesse und kritische Kompetenz als Desiterate“ und „Rezensivität als ein eigenständiges Forschungs- und Praxisfeld“ – Perspektiven für die Literaturwissenschaft auf. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss und Claudia Roßkopf formulieren mit dem Beitrag „‘Möglichkeitsraum‘ gestalten“ Denkanregungen für die Praxis. Sie plädieren für eine solide, kritische, wissenschaftliche Auseinandersetzung, Anerkennung von rezensiven Texten und Förderung von gesellschaftlichen Teilhabepotenzialen. Der Düsseldorfer Bildungswissenschaftler Fabian Hofmann stellt mit dem Gastbeitrag „Perspektiven des digitalen und informellen Raums für die kulturelle Bildung“ vor. Er plädiert für „entgrenzte und hybride analog-digitale Erfahrungsräume“.
Im sechsten Beitrag werden „Anschlussperspektiven“ aufgezeigt. Die Erziehungs- und Musikwissenschaftlerin Lisa Unterberg und der Bildungs- und Medienwissenschaftler Benjamin Jörissen beobachten und bewerten „Online-Rezensionen als Beispiel relationaler Prozesse der Subjektivation in der post-digitalen Kulturellen Bildung“. Der Journalist Thierry Chervel richtet mit dem Beitrag „Die Kritik und ihre Päpste“ einen Rückblick auf das Genre „Buchkritiken“ in den großen Zeitungen. Das Kulturmagazin und die literarische Institution „Perlentaucher“ kann als anerkannter und akzeptierter Wächter der Medienkritik bezeichnet werden. Die Kunstwissenschaftlerin Ellen Wagner fragt „Introspektive als kritische Form“, indem sie sich mit dem diaristischen Schreiben über Kunst in Zeiten der Pandemie auseinandersetzt. Sind es (prekäre) Lebenszeichen von Kritikern oder funzelnde Leuchtlampen im Literaturbetrieb? „Mit drei Klicks zur Kunst“, das ist die Auseinandersetzung der Kunsthistorikerin Fiona McGovern über digitale Informations-, Vermittlungs- und Präsentationsangebote. Es sind die (positiven) Potenziale und die (negativen) Tücken und Gefahren. Das Museum als digitaler Ort, als konsumtive Verlockung und Werbestrategie. Es sollte gelingen, die Auseinandersetzung mit Kunst in „ihrem Verhältnis zu Macht, Kolonialismus und Vorstellungen von Geschlecht“ kritisch und rezensiv zu gestalten.
Im siebten Kapitel – „Ausblick“ – schauen Kristina Petzold und Ulrich Heid auf „Forschungsdatenmanagement und Nachnutzung der Daten“. Wissenschaftstheoretisch und empirisch ermittelte Daten sind einerseits Forschungsgrundlage, andererseits kooperative Mittel zum nationalen und internationalen Forschungsdiskurs und Netzwerkanalysen. Guido Graf, Ralf Knackstedt und Kristine Petzold diskutieren „Nutzungspotenziale und Forschungsdesiderate“. Es sind Handlungsfelder für Unterricht und Lehre, für den inter- und transdisziplinären und interkulturellen Online-Diskurs.
Ein 24-seitiges Literaturverzeichnis verdeutlicht Forschungsumfang und -aufwand. Die tabellarische, 27seitige Darstellung des „Rez@Kultur-Kategoriensystems“ bietet Überblick und Ordnungssystematik. Der Aufweis des qualitativen und quantitativen Korpus dient als Nachschlagewerk; und die 14seitige Auflistung der zitierten Rezensionen vermittelt den Forschungsaufwand und Auswahl der Quellen.
Diskussion
Das interuniversitäre, interdisziplinäre und interkulturelle Forschungsprojekt „Rez@Kultur“ ist eine innovative Initiative und öffnet neue Wissens-, Lehre- und Forschungsaktivitäten. Es geht dabei sowohl ein auf die medialen, digitalen Transformationsprozesse, als auch auf die Sach-, Fach- und fächerübergreifende Bedeutung von Buch- und Kunstkritik. Der Rezensent vermisst die intensivere Auseinandersetzung damit, wie die ForscherInnen ihren Zugriff zu den ausgewählten Rezensionen und Rezensionsdiensten begründen; es scheint, dass dabei zu sehr populäre und zu wenig fachliche Erzeugnisse berücksichtigt wurden. Könnte es sein, dass die Hereinnahme von fachbezogenen Rezensionen andere, fachliche, sachliche und personelle Antworten und Ergebnisse bringen? So wäre z.B. darauf hinzuweisen, dass der Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de Tausende Rezensionen zu den sozialwissenschaftlichen Fach- und interdisziplinären Publikationen vorlegt. Wer sind die Rezensenten? Welche Motive bestimmen ihre nicht-monetäre Mitarbeit? Welche Motivationen? Welche Aufmerksamkeiten und Wirkungen auf den Fach- und fächerübergreifenden, wissenschaftlichen Diskurs lassen sich analysieren? Welche Kritik daran formulieren? Die wissenschaftliche, disziplinäre und interdisziplinäre Auseinander über den „Sinn“ von Literaturkritik ist notwendig (vgl. z.B. dazu auch: Matthias Preis, Die Sinne im Text. Literarische Sinneswahrnehmungen im didaktischen Diskurs, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23887.php).
Fazit
Fakt oder Furor? Die o.a. Einwände jedoch beeinträchtigen und schmälern nicht die Verdienste des Forschungsteams und der dazu geholten Fachleute, rezensive Texte auf einen neuen, aktualisierten und weiterführenden Prüfstand zu stellen; weil sie Motive, Gelegenheiten und Orte der Bildung sein können und die mittlerweile weitgehend alltäglich sich vollziehenden digitalen Kommunikationskontexte ein intellektuelles „Hab-Acht“ benötigen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 24.02.2023 zu:
Guido Graf (Hrsg.): Rezensiv - Online-Rezensionen und kulturelle Bildung. transcript
(Bielefeld) 2021.
ISBN 978-3-8376-5443-1.
Reihe: Digital humanities - Band 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30418.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.
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