Michael Girkinger: Alles.Immer.Besser
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 13.04.2023

Michael Girkinger: Alles.Immer.Besser. Licht und Schatten der Selbstoptimierung. Promedia Verlagsgesellschaft (Wien) 2023. 200 Seiten. ISBN 978-3-85371-517-8. D: 20,00 EUR, A: 20,00 EUR.
Werden, was man (noch) nicht ist
Es ist eines der natürlichsten, gleichzeitig eines der intelligentesten Vorhaben, sich individuell und kollektiv zu vergewissern: „Wer bin ich“ und „Wie bin ich geworden, wer und was ich bin?“. Es sind die verschiedenen Lebenssituationen und –orte, die ermöglichen, herausfordern und anbieten, sich über sich selbst bewusst zu werden. Das kann im „stillen Kämmerlein“, allein und einsam, wie auch – und vor allem – als Kommunikations- und philosophischer Prozess gelingen. Es ist das Werden und Wachsen des anthrôpos, das als Evolution und Entwicklung verstanden wird, Fortschritt, Verbesserung, Vervollkommnung sein, aber auch Selbstüberschätzung werden kann (Otto Hansmann, Transhumanismus – Vision und Wirklichkeit, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19338.php). Der französische Philosoph Michel Foucault (1926 – 1984) hat die ambivalente Suche nach sich selbst so ausgedrückt: „Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, was man am Anfang nicht war“ (Daniel Hechler / Alex Philipps, Hrsg., Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/8131.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Der anthropologische, ethische Anspruch, sich bewusst zu werden, dass man als Individuum nicht alleine auf der Welt lebt, sondern als Menschheit existiert, ist eine Tautologie, weil real. Und doch muss diese Erkenntnis in Bildungs- und Erziehungsprozessen erworben und erfahren werden. Als „globale Ethik“ ist sie eingeschrieben in der allgemeinverbindlichen, nicht relativierbaren Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Es ist die Sehnsucht und Hoffnung auf ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben, wie dies seit dem antiken Denken (Aristoteles) immer wieder in Fragen zum Ausdruck kommt, wie: „Was macht für mich ein gelingendes Leben aus?“ – „Welches Leben passt zu mir?“ – „Wozu bin ich fähig?“ – „Womit tue ich mich schwer?“ – „Wie gehe ich damit um?“.
Solche Fragen stellt sich Michael Girkinger in seinem Buch über Positives und Negatives der Selbstoptimierung, über Erwartungshaltungen und Enttäuschungen, über Versprechen und Drohung, über Glück und Unglück, über Wollen und Sollen.
Aufbau und Inhalt
In den Zeiten der sich immer interdependenter, entgrenzender entwickelnden Welt strömen auf die Menschen Illusionen ein, wie: „Ich weiß und kann alles, sofort!“. Gleichzeitig entstehen Situationen, Ereignisse und Krisen, die Ohnmacht, Unvollkommenheit, Begrenztheit und Abhängigkeit verdeutlichen, und –wenn es gut läuft – die Erkenntnis bewirken: Der Mensch darf nicht alles wollen und machen, was er kann oder zu können meint! Damit sind wir bei der Gliederung des Buches. Neben dem Vorwort und dem Resümee gliedert der Autor seine Studie in die Kapitel: „Selbstoptimierung als ambivalentes gesellschaftliches Leitbild“ – „Was Selbstoptimierung heute antreibt?“ – „Selbstoptimierung im Spiegel der drei großen Ängste unserer Zeit“ – „Licht und Schatten der Selbstoptimierung“.
Es ist das Missverständnis, dass der Mensch aufgefordert sei, sich die Erde untertan zu machen. Die Einsicht, dass der Mensch ein Glied in der planetarischen Ganzheit ist, angewiesen auf Anpassung und Widerstand und auf die Fähigkeit, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, ist schwergängig – aber machbar (David Graeber <+> / David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29159.php). „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“ – diese Erkenntnis lässt sich nur verwirklichen, wenn es gelingt, im Anderen ein Teil von sich selbst zu erkennen. Wenn Selbsterkenntnis hin zur Selbstoptimierung führen soll, ist es hilfreich, im geistigen, philosophischen und kulturellen Diskurs zu schauen und zu erkunden, was DenkerInnen über die Zeiten hinweg gedacht haben und Antworten anbieten; z. B. der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han, der sich mit dem zwiespältigen Begriff „Transparenz“ auseinandersetzt Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12799.php); und der Neurologe Joachim Bauer, der „Resonanz“ als Grundlage der Selbstfindung erkennt (Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29229.php).
Tendenzen zur Selbstoptimierung versprechen Fähigkeiten, über den eigenen Gartenzaun (richtig) schauen zu können. „Enhancement“ als faktisches und emotionales Gut- und Besserwerden; also eine „Weltreichweitenvergrößerung“ (Hartmut Rosa). Sie können aber auch Druck und Bedrohung sein, und zwar sowohl selbstherbeigerufene, als auch individuell und gesellschaftlich gemachte. Angst oder Mut, Kraft oder Schwäche, Erfolg oder Desaster, das sind die Balanceakte, wenn es darum geht, Selbstbewusstsein zu gewinnen. Da sind wir bei der „Resilienz“ als Lebensanker und Halteseil. „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu verändern ist?“, oder „Hoffnung ist des Glückes Schmied?“; es sind die marktgängigen, wohlfeilen und/oder Warn-Signale, die Fragen und Hoffnungen auf ein gutes, glückliches Dasein erzeugen, oder verhindern.
Diskussion
Die Philosophin Judith Schildt plädiert für einen konkreten Perspektivismus, indem sie danach Ausschau hält, wie es gelingen kann, dass sich der Mensch selbst vergegenwärtigt, um sein Leben und die Welt um es herum habhaft zu werden. Auch sie, wie Michael Girkinger, macht sich auf den Weg, um beispielhaft gute Geschichten aus der Literatur und intellektuellen Menschheitsgeschichte zu suchen (Judith Schildt, Konkreter Perspektivismus. Selbstverhältnisse, Beziehungen zum Anderen und die Frage nach dem Verstehen im interkulturellen Kontext, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12021.php).
Fazit
Die erst einmal als wohlfeiler Ratgeber erscheinende Studie über das Pro und Contra der Selbstoptimierung und des Persönlichkeitsbildungsmarktes wird erweitert durch den Rundblick auf den intellektuellen, literarischen und anthropologischen Diskurs zu Fragen: Wie wollen wir als Menschen leben? Wie lässt sich die Conditio Humana gestalten? Es sind keine Rezepte und Handlungsanweisungen, sondern (Nach-)Denkprozesse, die im Alltag bedacht werden sollten!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 13.04.2023 zu:
Michael Girkinger: Alles.Immer.Besser. Licht und Schatten der Selbstoptimierung. Promedia Verlagsgesellschaft
(Wien) 2023.
ISBN 978-3-85371-517-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30419.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.
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