Stefan Gillich, Gabriele Kraft et al.: Würde, Haltung, Beteiligung
Rezensiert von Moritz Niklas Frietzsche, 28.12.2023
Stefan Gillich, Gabriele Kraft, Heike Moerland, Wolfgang Sartorius: Würde, Haltung, Beteiligung. Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen ohne Wohnung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2022. 186 Seiten. ISBN 978-3-7841-3502-1. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Thema
Die drei großen Schlagworte fallen ins Auge: Würde, Haltung und Beteiligung. Die Herausgeber_Innen wollen mit dem vorliegenden Band Impulse für ein zeitgemäßes Update der Wohnungslosenhilfe setzen: „Eine zukunftsorientierte Wohnungsnotfallhilfe ist an den Bedarfen wohnungsloser Menschen ausgerichtet und nachhaltig ausgestattet, ist der Menschenwürde verpflichtet, fördert eine Haltung, die Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung Raum gibt und entwickelt Partizipationsstrukturen, die Nutzer*innen der Dienste und Einrichtungen an Entscheidungen beteiligt.“ (Gillich et al. 2022: 9)
Entstehungshintergrund
Die in dem Sammelband veröffentlichten Aufsätze sind zum großen Teil verschriftlichte Beiträge zum Bundeskongress des „Evangelischen Bundesfachverbandes der Existenzsicherung und Teilhabe e.V.“ (EBET) aus dem Dezember 2021.
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei thematische Abschnitte: „Würde,Haltung und Beteiligung“, „Rechte, Würde Wohnen“ und „Weiterentwicklung der Wohnungsnotfallhilfe“. Im Folgenden wird je ein Beitrag pro Abschnitt vorgestellt.
Inhalt
Heike Moerland und Jan Orlt stellen in ihrem Beitrag „Das Recht auf Teilnehmen, Mitgestalten und Mitbestimmen in der Wohnungslosenhilfe“ (Moerland/Orlt 2022) die vom Fachausschuss für Beteiligung und Mitwirkung des Ev. Fachverbandes Rheinland-Westfalen-Lippe erarbeitete Arbeitshilfe in einer überarbeiteten Fassung vor. Dem Fachausschuss ist daran gelegen, in der Arbeitshilfe aus der Praxis heraus Positionen und Handlungsleitlinien zu entwickeln, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen (ebd.: 41). Für diese Überlegungen wird zunächst theoretisch das Verhältnis von Menschenwürde und Teilhabe in der Wohnungsnotfallhilfe ausgelotet. Die Autor_Innen argumentieren hier sowohl diakonisch als auch rechtlich. Diese ethisch-juristische Argumentation begründet diverse Facetten der Menschenwürde und betont neben der materiellen Versorgung das Recht darauf, Subjekt des eigenen Lebens sein zu können. Dies führt die Autor_Innen zur Teilhabe als den leitenden Gesichtspunkt für die Garantie menschenwürdiger Arbeitsbeziehungen in der Wohnungslosenhilfe. Der Artikel betont die Bedeutung von realen Partizipationsmöglichkeiten, wie der Abbau von Ausgrenzung, Schaffung materieller Handlungsspielräume und der strukturell vorgesehene Einbezug von Adressat_Innen, z.B. in Form von klar definierten Teilhaberechten. Vor diesem Hintergrund wird eine fachliche Grundhaltung definiert, die dann in Praxisleitlinien differenziert wird. Ein eigenes Unterkapitel wird der politischen Teilhabe gewidmet. Ging es zuvor darum, Partizipationsmöglichkeiten im Hilfeprozess zu gewährleisten, fordern die Autor_Innen nun die Fachkräfte auf materielle und immaterielle Ressourcen zur politischen Teilhabe zur Verfügung zu stellen. Hier werden auch zahlreiche Vorschläge für die Praxis unterbreitet. Zum Schluss ihres Artikels weisen die Autor_Innen darauf hin, dass bei aller Hilfe zur politischen Selbsthilfe der anwaltschaftliche Charakter Sozialer Arbeit nicht vergessen werden darf, da Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten oft trotz aller Unterstützung durch Institutionen Sozialer Arbeit nicht gehört werden, eine politische Positionierung mit den Adressat_innen zusammen erscheine so weiterhin notwendig.
Corinna Müncho, Karen Holzinger und Ingo Bullermann beantworten in ihrem Beitrag „Housing First for all“ (Müncho et al. 2022) die Frage, wie das Housing First Konzept mit den §§ 67 und 68 SGB XII vereinbar ist. Die Autor_Innen sind selbst im Modellprojekt „Housing First Berlin“ tätig. Dies zeigt sich in ihrer prägnanten, kenntnisreichen und praxisnahen Darstellung. Housing First stellt die Versorgung mit einer Wohnung und die tatsächlichen Bedarfe der Adressatin in den Mittelpunkt. So gibt es keine festgelegten Hilfeziele und durch die Orientierung am Willen der Adressatin müssen Housing First Konzepte hochflexibel sein. Im folgenden Artikel erörtern die Autor_Innen bereits bestehende Möglichkeiten Housing First umzusetzen, weisen auf Änderungsbedarfe im Hilfesystem hin und stellen Finanzierungsoptionen vor. In dem Unterkapitel „Wie kann Housing First fachlich umgesetzt werden?“ (ebd.: 106 f.) geben die Autor_innen interessante Inputs hinsichtlich einer neuen Fachlichkeit, die Housing First erfordert. Die geforderte Flexibilität und das hohe Maß an Mitbestimmung erfordert von Fachkräften ein Umdenken und methodische Fortbildung. Housing First bedeutet also eine Neuaufstellung der Wohnungslosenhilfe, zu der die Autor_Innen die Kolleg_innen aufrufen: „Lasst es uns gemeinsam angehen“ (Müncho et al. 2022: 108).
Einen Bedarf zur fachlichen Weiterentwicklung sehen auch Robert Frietsch, Dirk Holbach und Corinna Leißling in ihrem Beitrag „Neue Fachlichkeit für junge Wohnungslose“ (Frietsch et al. 2022). Vor dem Hintergrund empirischer Befunde identifizieren sie einen neuen Entwicklungsförderungsbedarf für die Gruppe der Care Leaver. Dieser ergibt sich aus den vielschichtigen und komplexen Biografien von Care Leavern ohne Wohnung. Signifikant ist auch der ansteigende Teil der weiblichen* Care Leaver unter jungen Wohnungslosen. Die Autor_Innen stellen Forschungsergebnisse des Modellprojekts „Schnittstellenmanagement Wohnungslosenhilfe in der Redion Koblenz“ (Frietsch/​Holbach 2017) und Evaluationsergebnisse des Praxisforschungs-Projekts „Gesundheits- und Lebensorientierung für Care Leaver“ (Hochschule Koblenz 2022) vor. Das zentrale Anliegen der Autor_Innen ist es, die Bedeutung von guter Kooperation und Vernetzung der verschiedenen Hilfeeinrichtungen und -systeme hervorzuheben. Die Multiproblemlagen und damit verknüpften komplexen und hochgradig individuellen Biografien von jungen Wohnungslosen Care Leavern verweist immer wieder auf strukturelle Mängel im allgemeinen Hilfesystem. So endet auch der Beitrag mit einem Plädoyer für eine neue Fachlichkeit auf Basis verbindlicher Kooperationsvereinbarungen, das seine Entsprechung in einer konzeptionellen Skizze für eine nachhaltige Kooperation und Vernetzung der Akteure im Wohnungsnotfallsystem kulminiert (Frietsch et al. 2022: 153).
Diskussion
„Würde, Haltung, Beteiligung“ richtet sich zuvorderst an Fachkräfte in der Sozialen Arbeit. Umfassende theoretische Reflexionen werden hier vergeblich gesucht – und zurecht. Als erweiterte Tagungsdokumentation mit den Anspruch Impulse für die Zukunft (diakonischer) Wohnungsnotfallhilfe zu setzen, handeln die Beiträge von der Praxis, Modellprojekten und Vorschlägen für ein zeitgemäßes fachliches Update.
Kenntnisreich, verständlich und übersichtlich können Kolleg_Innen aus der Wohnungslosenhilfe die hier versammelten Beiträge als Vorschläge und Reflexionsfolie für ihre eigenen Alltagspraxen nutzen. Auch Einrichtungs- oder Trägerleitungen können von den Beiträgen profitieren.
Es geht den Herausgeber_Innen explizit um die Zukunft der Wohnungsnotfallhilfe. Entsprechend fokussieren die Beiträge auf die Identifikation von Schranken von Partizipation, um sodann Vorschläge für eine gelingendere Partizipation unter Beachtung der Menschenwürde zu machen. Durch diesen Fokus kommt es zu dem Eindruck eines tendenziell realistischen Pragmatismus zu Ungunsten freierer und offenerer grundsätzlicher Überlegungen. Der Gesichtspunkt der Anwendbarkeit wird so in der Tendenz zu einer Reduktion kritischer Überlegungen z.B. auch in Bezug auf die eigene Rolle in Fragen von Teilhabe und Würde. Dies würde in der Sache eine Kritik der eigenen Haltungen einschließen. Die Beiträge jedoch unterstellen einen Willen der Fachkräfte zu einer entschieden parteilichen Haltung. Ob dies jedoch immer in den Arbeitsfeldern gegeben und gewollt ist, kann bezweifelt werden. Gerade auch diakonische Arbeitsfelder sind oft nicht frei von einem gutwillig begründeten Paternalismus, der Partizipation konterkariert. Fast scheint es so, als würden Moerland und Orlt in dem Schlusspunkt ihres Kapitels eine Art theoretischer Öffnungsklausel in Beuzg auf diesen Standpunkt vertreten, wenn Sie an ihr, gut begründetes, Postulat einer materiell unterfütterten Partizipation die Betonung setzen, dass advokatorische Soziale Arbeit weiter nötig bleibt.
In diesem Zusammenhang irritiert es zudem, dass Selbsthilfeorganisationen und politische Zusammenschlüsse von Wohnungslosen wie z.B. MOMO – the voice of the disconnected youth (https://www.momo-voice.de/) nicht zu Wort kommen. Es entsteht leider, trotz zahlreicher sehr guter Beiträge, der Eindruck, dass hier Partizipation doch nicht praktiziert wurde.
Dies schmälert auf der anderen Seite sicherlich nicht den Nutzen der vielen Beiträge als Impulse für eine neue Fachlichkeit der Wohnungsnotfallhilfe in Bezug auf Würde, Haltung und Beteiligung.
Niedrigschwellig vermittelt das Buch Einblicke in die Wohnungsnotfallhilfe des EBET und ist mit seinen prägnant formulierten Beiträgen eine Einladung für eine Fachdiskussion um die Zukunft der Wohnungslosenhilfe, die sich an alle Fachkräfte richtet. Denn, wie es Müncho et al. ausdrücken: „Lasst es uns gemeinsam angehen.“ (Müncho et al. 2022: 108).
Fazit
„Würde, Haltung, Beteiligung“ richtet sich zuvorderst an Fachkräfte in der Sozialen Arbeit. In vielfältigen und praxisnahen Beiträgen wird ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe geleistet. Der Sammelband versammelt Berichte, Tipps und Methoden. Viele Beiträge laden zum Nachdenken zu neuen Wegen in der Wohnungslosenhilfe ein. Allen Kolleg_Innen in der Praxis der Wohnungsnotfallhilfe, die sich neue Ideen mit einem Blick über den Tellerrand ihres Alltags verschaffen wollen, sei dieses Buch herzlichst empfohlen.
Literatur
Frietsch, Robert; Holbach, Dierk (2017): Perspektiven für junge Wohnungslose – Ergebnisse zum Modellprojekt: Schnittstellenmanagement in der Wohnungslosenhilfe. Koblenz: HS-Koblenz.
Frietsch, Robert; Holbach, Direk; Leißling, Corinna (2022): Neue Fachlichkeit für junge Wohnungslose. In: Gillich, Kraft, Moerland, Sartorius (Hg.): Würde, Haltung, Beteiligung. Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen ohne Wohnung. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag. S. 143 – 156.
Gillich, Stefan; Kraft, Gabriele; Moerland, Heike; Sartorius, Wolfang (2022): Einführung. In: dies. (Hg.): Würde, Haltung, Beteiligung. Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen ohne Wohnung. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag. S. 8 – 9.
Hochschule Koblenz (2022): Gesundheits- und Lebensorientierung für Care Leaver. https://www.hs-koblenz.de/sozialwissenschaften/​institute-des-fachbereichs/​institut-fuer-sozialwissenschaftliche-forschung-und-weiterbildung-ifw/​forschung/​aktuelle-forschungsprojekte/​gesundheits-und-lebensorientierung-fuer-care-leaver [18.12.2023]
Moerland, Heike; Orlt, Jan (2022): Das Recht auf Teilnehmen, Mitgestalten und Mitbestimmen in der Wohnungslosenhilfe. In: Gillich, Kraft, Moerland, Sartorius (Hg.): Würde, Haltung, Beteiligung. Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen ohne Wohnung. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag. S. 40 – 50.
Müncho, Corinna; Holzinger, Karen; Bullermann, Ingo (2022): Housing First for all. Wie können die Grundprinzipien von Housing First im Rahmen derHilfen nach §§ 67, 68 SGB XII umgesetzt werden? In: Gillich, Kraft, Moerland, Sartorius (Hg.): Würde, Haltung, Beteiligung. Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen ohne Wohnung. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag. S. 97 – 109.
Rezension von
Moritz Niklas Frietzsche
M.A. Soziale Arbeit. Integrativer Lerntherapeut für Dyskalkulie. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Arbeitsbereich Sozialpädagogik. Freier Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen in Deutschland
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Zitiervorschlag
Moritz Niklas Frietzsche. Rezension vom 28.12.2023 zu:
Stefan Gillich, Gabriele Kraft, Heike Moerland, Wolfgang Sartorius: Würde, Haltung, Beteiligung. Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen ohne Wohnung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2022.
ISBN 978-3-7841-3502-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30421.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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