Leon Arlt, Nora Becker u.a. (Hrsg.): Einsam in Gesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert, 10.05.2023

Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz (Hrsg.): Einsam in Gesellschaft. Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung.
transcript
(Bielefeld) 2023.
365 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6350-1.
D: 39,00 EUR,
A: 39,00 EUR,
CH: 47,60 sFr.
Reihe: Kulturen der Gesellschaft - Band 57.
Thema
„Einsam“ – das Schlagwort in schlanken, nach oben hin dunkel verschatteten Lettern auf einem anthrazit-grünen, sehr dunklen, fast schwarzen Cover. Insgesamt 365 eng bedruckte Seiten. Titel und Erscheinungsbild prädisponieren das Buch zum sozialwissenschaftlichen Standardwerk über das Einsamkeits-Thema. Inhaltlich geht es allerdings in eine andere Richtung.
Entstehungshintergrund
Ausgangspunkt waren im Wintersemester 2020/21 online unter Corona-Bedingungen „an der Professur für Philosophie und Politikwissenschaften von Prof. Dr. Christoph Schuck der Technischen Universität Dortmund“ gehaltene „Lonely Lectures“.
Herausgeber:innen
Die Initiatoren und Organisatoren dieser Lectures, Mitarbeiter:innen und Studierende des Lehrstuhls, gaben anschließend das vorliegende Buch heraus. Dazu wurden einzelne Beiträge inhaltlich weiter ausgeführt und ergänzt. Die Gegenüberstellung von Experten- und Betroffenen-Perspektiven verspricht, so die Herausgebenden, „einen ungeheuren Mehrwert“ an „wertvollen und eindrücklichen Erkenntnissen“. Der Anspruch der Herausgebenden, die zudem ein längeres einleitendes und ein kurzes abschließendes Kapitel beisteuerten, geht allerdings noch weit darüber hinaus. Neben Wissenschaftlern soll ein breites Publikum angesprochen werden: „Unter Einsamkeit leidende Menschen“ … sollen durch die Lektüre ermutigt werden, „offen über ihre Einsamkeit zu sprechen oder sich Unterstützung zu suchen.“
Aufbau und Inhalt
Im ersten Teil des Buches finden sich in das Thema einführende Beiträge. So legt der Philosoph Axel Seemann auf 17 Seiten subtil-reflexiv dar, dass Einsamkeitserleben aus der (negativen) Diskrepanz sozialer Erwartungen und erlebter Realität eines Menschen resultiert. Die Psychologinnen Helene Landmann und Susanne Buecker nehmen dann eine ausführliche Kategorisierung unterschiedlicher Einsamkeits-Formen vor (situativ, chronisch, emotional, physisch, sozial, romantisch, community-Einsamkeit u.a.), zeigen auf Persönlichkeits- und sozialer Ebene liegende Risikofaktoren auf (u.a. Armut), benennen gesundheitliche Folgen, stellen Interventionen gegen Einsamkeit vor und enden mit der offenen Frage „wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, damit Menschen in alle Lebensphasen zufriedenstellende soziale Beziehungen führen können und nicht vereinsamen“.
Im zweiten Teil geht es um Einsamkeit und Gesellschaft, wo u.a. Janosch Schobin und Denis Newiak der Frage nachgehen, ob Einsamkeit ein Phänomen der Moderne ist bzw. ob der in der aktuellen Postmoderne eskalierende Individualismus ein ideal-fataler Nährboden für Einsamkeits-Konstellation sein könnte. Mit dem methodisch seriösen Hinweis darauf, dass man diesbezügliche, als Referenzwerte nötige Erhebungen in früheren Epochen nicht gemacht hat, entziehen sie sich elegant weitergehender Schlussfolgerungen. Ihre Idee, die Hypothese anhand transkultureller Daten zu prüfen, verfolgen sie nicht weiter. Timo Renz zeigt Parallelen und Unterschiede der „eng verwoben erscheinenden“ Paradigmen „Einsamkeit“ und „Lebens(un)zufriedenheit“ (eine Zunahme von Einsamkeit senkt die Lebensqualität) sowie (eher moderat-negative) Entwicklungen unter Corona-Bedingungen auf. Raphael Rauh und Dominik Koeseling reflektieren, ausgehend von Hartmut Rosa „Achsen der Weltbeziehung“, die ambivalenten Qualitäten von Einsamkeit, die in bestimmten Konstellationen dann keineswegs nur negativ wären.
Im dritten Teil („Tabus überwinden: Betroffenenperspektiven auf Einsamkeit“) wird es konkreter und praktischer. In historischer Rückschau widmet sich Leo Ryczko der Situation und dem Schicksal „queerer Menschen“ in der Weimarer Republik, die über vorsichtig formulierte Anzeigen in der Zeitschrift „Die Freundschaft“ versuchten, Partner zu finden. Thomas Wagner befragte aktuell akutpsychiatrische Patienten, die eindringlich über ihre komplexen sozialen Situationen und über Einsamkeitserleben berichten, wobei sie letzteres, laut Einschätzung des Autoren, eher „bagatellisieren“. Gemeindenahe psychiatrische Ansätze werden als Lösung vorgeschlagen. Leon Arlt und Nora Becker interviewten im nächsten Beitrag den „Betroffenen“ Dieter Kußmann, dem es nicht schwerfällt, offen über seine Haftstrafe zu reden, aber Probleme hat über Einsamkeit zu reden: „weil es ein Gefühl ist“.
Im vierten Teil ist dem „Tod als einsam(st)es Thema“, also einer in unserer dem Diesseits zugetanen Gesellschaft ohnehin schon marginalisierten Thematik gewidmet. Susanne Loke referiert über „Einsames Sterben und unentdeckte Tode“, wobei unschwer ein sozialer Gradient ausgemacht werden kann und einsame, eher jüngere Männer statistisch überrepräsentiert sind. Silke Mahlzahn, in der Palliativpflege tätig, berichtet über Einsamkeit und einsames Sterben auf Palliativ-Stationen, und dabei auch über die Situation der Pflegenden, die nur bedingt das Innenleben der Betroffenen verstehen, aber mitfühlend „einen schützenden und tröstenden Mantel“ um ihre KlientInnen legen.
Im fünften Teil soll es dann um Lösungsmöglichkeiten gehen. Noemi Seewer und Tobias Krieger geben zunächst einen Überblick über Methoden zur Erfassung von Einsamkeit, deuten eine Zunahme von Einsamkeitskonstellationen in den vergangenen Jahrzehnten (zumal unter Corona-Bedingungen) zumindest an und referieren dann Hilfsangebote bzw. Interventionen auf individueller, gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Dazu werden die eher spärlich vorliegenden, schon mit Blick auf die jeweiligen Gruppen und Gruppengrößen schwer generalisierbaren empirischen Studien, aufgeführt. Soziale Isolation zu verringern erweist sich demnach als relativ einfach, subjektives Einsamkeitserleben zu reduzieren als erheblich komplexer. Ruth Belzner, selber engagiert in der Telefonseelsorge tätig, berichtet ausgehend von Fallberichten über die Möglichkeiten und Grenzens dieses „Schmerzmittel gegen Einsamkeit“.
Der folgende sechste Teil, der inhaltlich plausibler vor dem Interventions-Teil gestanden hätte, widmet sich Einsamkeitserleben in unterschiedlichen Lebensabschnitten. Alina Käfer, tätig für das „Zuhörtelefon für Studierende“ fokussiert entsprechend auf Studierende, berichtet ausgehend von eigenen Erfahrungen über die schwierige Situation zumindest einiger Studierender unter Corona-Bedingungen und über die Funktion und Ausbildung ihrer Institution. Christian Kloß, als Mitarbeiter einer Studienberatung, kommt aus seiner Perspektive zu ähnlichen Ergebnissen. Amira Mahli und Elke Schilling vom „Silbernetz e.V.“ offerieren Gesprächsangebote für ältere Menschen („Einfach mal reden“) und weisen darauf hin, dass Einsamkeit viele Gesichter hat und es unmöglich sei, eine „Typologie der klassisch einsamen Person zu zeichnen“.
Der siebte Teil ist „Besonderen Lebenslagen, besonderer Einsamkeit“ gewidmet, worunter die Herausgebenden soziale Ängste, Wohnungslosigkeit und Armut subsummieren, wobei die Abgrenzung zur anscheinend weniger besonderen Einsamkeit im vorangehenden Teil nicht zwingend erscheint. Hier legt Julian Kurzidim für einen Selbsthilfeverband bei sozialen Ängsten dar, dass soziale Ängste nicht zuletzt zu Einsamkeitserleben disponieren, u.a. weil die Betroffenen viel Rücksicht auf andere, leider nicht auf sich selber nehmen, dem man durch Therapie und Unterstützung von außen Abhilfe schaffen kann, wobei erwähnenswert ist, dass viele Betroffene – aus unbekannten Gründen – bereits nach wenigen Treffen nicht mehr in die Selbsthilfegruppen gehen. Anke Voigt, die in einer Bahnhofsmission tätig ist, betreut ebendort Wohnungslose und weist darauf hin, dass es mit dem Dach über dem Kopf zumal bezüglich der Einsamkeitsproblematik nicht getan ist. Vielmehr gilt es ein „positives Für-sich-Sein“ anzustreben. Heike Goebel berät im Rahmen eines Vereins Menschen im Armut und sozialer Not. Sie skizziert den Teufelskreis aus Armut, Einsamkeit und Krankheit und ein darauf Bezug nehmendes Drei-Säulen-Modell (Ganzheitlich, Auffangend, Stärkend), wie mit entsprechendem karitativem Einsatz Betroffenen geholfen werden kann.
Abschließend versuchen sich die Herausgebenden an einer Zusammenfassung und einem Ausblick. Dabei konstatieren sie, dass Einsamkeit ein Tabu und eine soziale Herausforderung ist und „deshalb auch eine gemeinsame Aufgabe darstellt.“
Diskussion
Einerseits kann alldem, was durchgehend für alle Beiträge des Buches gilt, nicht widersprochen werden. Alle Herausgebenden wie Autor:innen sind zweifellos engagiert und wohlmeinend. Andererseits wird das Buch dem hohen, selbst gesteckten Anspruch nicht gerecht und lässt den Leser mit der Frage zurück, wie er die vielen im Buch angesprochenen Facetten zu einem Bild zusammenfügen soll. Nun könnte man dem entgegenhalten, dass ebendies angemessen die Komplexität des Themas abbildet – womit es sich die Herausgebenden dann aber recht einfach machen würden. Der unbefriedigende Eindruck resultiert nicht zuletzt aus notorischen Redundanzen. Fast in jedem Beitrag bemühen sich die Autor:innen um Definitionsfragen. Selbstverständlich! Einsamkeit ist die subjektive, soziale Isolation der Versuch einer objektiv-sozialwissenschaftlichen Perspektive. Zwischen beiden gibt es Schnittmengen etc. Muss das wirklich so häufig und teils sehr ausführlich widerholt werden? Zudem sind viele zumal der eher konzeptuellen Beiträge sehr lang, sehr theoretisierenden, sicher formal korrekt aber inhaltlich nicht weiterführend. Hier werden Themen und Perspektiven umkreist um schließlich festzustellen, dass alles noch viel komplizierter und/oder methodisch schwierig ist. Dass ist wissenschaftlich sicher korrekt, ließe sich aber gleichwohl ein Stück weit konkretisieren, etwa wenn die Autor:innen sich bemühen würden, ihre eigenen (zwangsläufig) relativen Perspektiven als solche zu reflektieren. Inhaltlich und methodisch fällt zudem auf, dass viele neuere, zumal jenseits der sozialwissenschaftlichen Community liegende Beiträge zum Thema, selbst dann, wenn sie im Rahmen der jeweiligen Kapitel zentral wären, mitunter eher oberflächlich reflektiert werden. So sind die mehrfach zitierten Befunde der Arbeitsgruppe um John T. Cacioppo deutlich differenzierter und konkreter, etwa was die teils recht bescheidene Wirksamkeit diverser Interventionsarten anbelangt, als die daraus abgeleiteten Aussagen. Nachdem dezidiert ein breiter Ansatz angestrebt wurde, ist das weitgehende Fehlen u.a. auch der neuropsychologischen Studien zum Thema ebenso unverständlich wie der Umstand, dass das auflagenstarke Buch von Manfred Spitzer (Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Droemer, München 2018), das das Thema in der deutschen Öffentlichkeit nachdrücklich in die Diskussion gebrachte und damit ein Stück weit enttabuisierende hat, weitgehend ignoriert und nur an einer peripheren Stelle zitiert wurde (um auf vermeintliche Widersprüche hinzuweisen). Sicher ist das Einsamkeit-Buch von Manfred Spitzer nicht die Bibel. Gleichwohl hätte es vielen Autor:innen des vorliegenden Buches gutgetan es zu rezipieren.
An vielen Stellen des Buches wird konstatiert, dass Einsamkeit ein komplexes, allen Menschen bekanntes Phänomen sei. Als Betroffene werden dann aber vorzugsweise sozial schlecht gestellte Menschen bzw. solche aus „besonderen Gruppen“ ausgemacht, um die sich die Gesellschaft zu kümmern habe. Der Anspruch der Autor:innen das Thema „zu enttabuisieren“ und Betroffenen Anregungen zu geben ist ehrenwert. Nachdem sie selbst Einsamkeit als persönliches Erleben kaum zu kennen scheinen, bekommt ihr Anliegen einen merkwürdigen Beigeschmack. Dass es schwer ist, in der Öffentlichkeit über Gefühle zu reden, kommt in einigen der Interviews zum Ausdruck. Steht man als Expert:in zum Thema so weit über den Dingen, dass man es beim professionellen Enttabuisierungs-Apell belassen kann? Die Gesellschaft soll helfen. Wen oder was meinen die Autor:innen eigentlich mit „der Gesellschaft“? Und wie stellen sie sich – zunächst einmal rein theoretisch – jenseits der exemplarisch referierten karitativer Angebote engagierter Menschen längerfristig tragfähige Lösungen vor? Gerade von Sozialwissenschaftlern hätte sich ein aus dem psychotherapeutischen Bereich kommender Leser ein diesbezüglich erheblich differenzierteres Bild gewünscht. Sicher, die Gesellschaft muss auf Betroffene zugehen. Bereits die Studien von John Cacioppo zeigen, dass wohlwollende Unterstützung allein nicht ausreichen wird, um Betroffenen zu helfen. Neben sozialen Kompetenzen und einer Überwindung der für viele Einsamkeits-Konstellationen charakteristischen Dynamik (Rückzug und übersensibel als Ablehnung interpretierte neutrale Gesten der Mitmenschen) stellt sich die Frage, wie und auf welcher Basis sich „Betroffene“ in die Gesellschaft bzw. konkret in ihre jeweiligen Bezugsgruppen integrieren können (und wollen). Zumindest an dieser Stelle wäre dann Individualismus und eine bezüglich gemeinsamer Werte und Ziele derangierte Postmoderne ein das Einsamkeits-Thema relevant mit bedingender Faktor. Ohne gemeinsame Interessen und einen Austausch aus Geben und Nehmen werden „Betroffene“ in einer Art Patientenrolle stecken bleiben … Wenn tatsächlich mit Betroffenen als Lesenden gerechnet worden wäre, wäre eben dies ein substanziell-umfangreiches Kapitel wert gewesen! Wenn man Redundanzen herausgekürzt bzw. durch klare Vorgaben vermieden hätte, dann wäre das im gegebenen Umfang problemlos unterzubringen gewesen. In der vorliegenden Form kann das Buch somit leider nur jedem empfohlen werden, der einen Eindruck davon erhalten möchte, wie Sozialwissenschaft funktioniert, wenn sie sich mit viel Energie und hohen Ansprüchen eigendynamisch entfaltet.
Fazit
Im umfangreichen Buch werden Probleme aufgezeigt, viele Fragen gestellt und dargelegt, warum sich diese nicht beantworten lassen bzw. dass die Gesellschaft aufgerufen ist, die Probleme zu lösen. Der Anspruch, damit Betroffene (über den Kreis akademisch Interessierter hinaus) anzusprechen und ihnen Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wird durch intensiv-selbstreferierende Zirkularität vieler Beiträge und des Buches selbst konterkariert. Das Buch kreist, wie im Untertitel konstatiert, „zwischen Tabu und sozialer Herausforderung“, wobei bedauerlicherweise weder das eine noch das andere so weit konkretisiert wird, dass sich daraus weitergehende Perspektiven ergeben könnten, weder für Fachleute noch für Betroffene.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert
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Zitiervorschlag
Andreas Hillert. Rezension vom 10.05.2023 zu:
Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz (Hrsg.): Einsam in Gesellschaft. Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung. transcript
(Bielefeld) 2023.
ISBN 978-3-8376-6350-1.
Reihe: Kulturen der Gesellschaft - Band 57.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30431.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
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