Carmen Teixeira (Hrsg.): Geschichte der Zuwanderung in Nordrhein-Westfalen - Flucht, Vertreibung, Aussiedlung, Arbeitsmigration
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 02.05.2023

Carmen Teixeira (Hrsg.): Geschichte der Zuwanderung in Nordrhein-Westfalen - Flucht, Vertreibung, Aussiedlung, Arbeitsmigration. Herausforderungen an Integration, Teilhabe und Zusammenhalt im Wandel. Verlag J.H.W.Dietz (Bonn) 2022. 472 Seiten. ISBN 978-3-8012-0645-1. 29,90 EUR.
Thema
Integration von Zugewanderten.
Herausgeberin
Carmen Texeira ist Referatsleiterin in der Landeszentrale für politische Bildung in Nordrhein-Westfalen, zuständig für Integration und politische Teilhabe von Zugewanderten.
Das Buch enthält insgesamt 37 Beiträge von 33 Autor:innen.
Entstehungshintergrund
Die aktuellen Herausforderungen an Integration und Teilhabe von Einwanderern in Deutschland.
Aufbau
Nach einem Vorwort (Guido Hitze) und einer Einleitung (Carmen Texeira) folgen die Kapitel: 1. Zuwanderung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart: Historische Perspektive, 2. Zur Dynamik des Fußfassens, 3. Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft, 4. Von der Integrationspolitik zur modernen Einwanderungspolitik, 5. Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft.
Inhalt
Guido Hitze: Vorwort. (3 Seiten)
Landeskunde umfasst in Nordrhein-Westfalen nicht nur Rheinländer, Westfalen und Lipper, sondern auch die Millionen Zugewanderten und ihre Nachkommen, an die im Jubiläumsjahr des 75-jährigen Bestehens des Landes erinnert werden soll.
Carmen Texeira: Einleitung. (16 Seiten)
Die Autorin gibt einen Überblick über die Zuwanderung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, beschäftigt sich dann mit der ‚Dynamik das Fußfassens‘ und der Geschichte und des Gedächtnisses der Einwanderungsgesellschaft, der Integrationspolitik und dem Einfluss der politischen Bildung.
1. Zuwanderung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart: Historische Perspektive. (216 Seiten)
Dieses umfangreiche Kapitel enthält die Beiträge von David Skrabania: »Ruhrpolen« – Zuwanderung aus den preußischen Ostprovinzen ab 1870: Bewusstseinsprozesse und Partizipationsstrategien zwischen der Reichsgründung und den Anfängen der Weimarer Republik (19 Seiten); Patrick Barteit: Remigration oder Rückkehr? Als Ruhrpole zurück in die alte Heimat (10 Seiten); Bartlomiej Ondera: Eine Migrationsgeschichte – Von Oberschlesien nach NRW: Ein sehr persönliches Gespräch mit Natalie Pielok über die Gründe ihrer Eltern zur Einwanderung und die gemischten Gefühle der Kinder (9 Seiten); Arno Barth: Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg aus Mittel- und Osteuropa. Vertriebene in Landespolitik und Selbstorganisation des frühen Nordrhein-Westfalen: Zunächst ein Gegen-, dann ein Miteinander, aus dem gemeinsam etwas Neues entstand (15 Seiten); Winfried Halder: Der weite Weg gen Westen: Deutsche Flüchtlinge, Vertriebene und (Spät-)Aussiedler an Rhein und Ruhr seit 1945: Ein junges Land mit großem Zuzug, das Zwangsmigration als Zugewinn verarbeitet (11 Seiten); Cordula Lissner: Jüdische Geschichte in Nordrhein-Westfalen – Vielfalt als Gegenwart und Zukunft: Nach 1945 und vor 1933 (Bibliotheken, Sportclubs, Gymnasien, liberale und reformierte Gemeinden und neue Sichtbarkeiten) (12 Seiten); Julia Smilga: Mein halbes Leben in Deutschland – Geschichte einer jüdischen Zuwanderung (9 Seiten); Norbert Reichel: Nach Hause kommen: Ein Gespräch von Norbert Reichel und Olga Rosow, Leiterin der Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. über Kulturschock, Armut, Einsamkeit im Alter und Erinnerungen (10 Seiten); Edwin Warkentin: Zuwanderung ab 1945. Russlanddeutsche: Die unsichtbare Gruppe: Ethno-konfessionelle Migration, Aussiedlerzuwanderung im bundesweiten Kontext, Zwangsmigration zwischen Stalinismus und NS-Ideologie, Aktualität der russlanddeutschen Migrationsgeschichte (11 Seiten); Frank Hoffmann: Flucht aus der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR: Tabellen und Übersichten nach: Antragszahlen 1950–1961, genehmigten Ausreisen 1961–1988, offiziell registrierten Übersiedlern bis Juni 1990, Aufgenommenen und Abgelehnten im Notaufnahmeverfahren 1950–1961, DDR-Zugewanderten und Anteil der Jugendlichen 1952–1960, Anteil der Länder bei der Verteilung nach dem Bundesnotaufnahmeverfahren 1945–1961, der zugewanderten Bildungselite (Studierende, Studienbewerber, Abiturienten) nach Ländern 1955–1960 (13 Seiten); Jürgen Krahn: Irgendwann gehen wir in den Westen! – Ein Zeitzeugenbericht: In der DDR 1972 als ‚Staatsfeind‘ verhaftet und nach Freikauf zwei Jahre später in Freiheit (10 Seiten); Christoph Nonn: Gastarbeiter wurden gerufen – Menschen sind gekommen (10 Seiten); Özlem Özgül Dündar: Literarischer Beitrag – » an grenzen« (6 Seiten); Norbert Reichel: Die Fremde in mir: Ein Gespräch von Norbert Reichel mit Haci-Halil Uslucan über interkulturelle Varianz, heimatliche Werte, doppelte Standards, enttäuschte Liebe und religiöse Weihen (11 Seiten); Jochen Oltmer: »Geduldet«: Schutzsuchende aus den postjugoslawischen Kriegen der 1990er Jahre in Deutschland und Nordrhein-Westfalen: Übersichten nach Bundesländern von Kriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina 1995 und 1996, davon anteilig in Nordrhein-Westfalen, weitere in EU-Ländern und insgesamt in Deutschland 1996–2000 (12 Seiten); Elisabeth Klesse & Doris Schmitz: Suche nach »Heimat« – der lange Weg der Rom:nja: Interviews und Lebensgeschichten (11 Seiten); Birgit Zoerner & Christiane Certa: Zuwanderung aus Südosteuropa: Rahmenbedingungen der EU2-Beitrittsprozesse, Effekte und Handlungspotenziale vor Ort: Tabellarische Übersichten, Regelungsdefizite, Gesamtstrategie, Handlungsbedarf aus kommunaler Perspektive (17 Seiten); Martina Sauer: Syrische Geflüchtete in Nordrhein-Westfalen: Lebenslagen und Perspektiven am Beispiel der syrischen Community in Essen. Befragungen zur Lebenssituation in Essen, zu Perspektiven und Zielen, gesellschaftlichen Einbindung, sozialem Umfeld, Inanspruchnahme von Beratungseinrichtungen, Sprachkenntnisse und Nutzung von Weiterbildungsangeboten und Einbindung in den Arbeitsmarkt (mit Tabellen)(18 Seiten).
2. Zur Dynamik des Fußfassens. (48 Seiten)
Roman Franz: Meine Geschichte als deutscher Sinto in Düsseldorf: Deutschland ist unsere Heimat, aber die Menschen in unserem Land sind nicht alle gleich (6 Seiten); Peter Rummel: Roma als Gastarbeiter – Lebensleistungen in Deutschland: Herkunftsorte, und Porträts von vier Roma (11 Seiten); Sara-Marie Demirez: Migration im Ruhrgebiet – Bildung und Wissen als Instrument betrieblicher und gesellschaftlicher Teilhabe 1961 bis 1990 (16 Seiten); Haci-Halil Uslucan: Noch Zaungast oder schon Mitglied? Politische Partizipation türkischstämmiger Zugewanderter in NRW von 1999–2019: Politische Präferenzen, nationales und transnationales Engagement (grösseres Interesse an türkischer Politik), Parteienpräferenz in Deutschland und der Türkei (Übersicht), insgesamt geringes politisches Interesse (13 Seiten).
3. Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. (46 Seiten)
Kathrin Schaumburg: Das »Wir« im »Haus der Einwanderungsgesellschaft« – multiperspektivische Erinnerungskultur und ihre Musealisierung: Gründung und Motivation von DOMID (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland) multiperspektivische Sammlung und Praxis (12 Seiten); Norbert Reichel: DOMID – ein Museum neuen Typs: Ein Gespräch von Norbert Reichel mit Robert Fuchs: Über Heiratsmärkte, Heimigkeiten, Migrationshierarchien, Shared Values und Repräsentanz (12 Seiten); Özlem Özgül Dündar: Literarischer Beitrag: »türken, feuer« (Auszug) (7 Seiten); Norbert Reichel: Essay: Umstrittene Erinnerung – Analogien, Kontinuitäten und Konkurrenzen in der Erinnerungskultur: Über Erinnerungsmanagment, binäre Konstrukte, »Geschichtsgeschichten« und ein Plädoyer für Diversität der historischen Forschung und in der Bildung (13 Seiten).
4. Von der Integrationspolitik zur modernen Einwanderungspolitik. (109 Seiten)
Anton Rütten: Anfänge staatlicher Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen: Auf dem Weg zu einer selbstbewussten Einwanderungspolitik: Hinweis auf den Solinger Brandanschlag und seine Bedeutung für eine Neuaufstellung der Integrationspolitik (11 Seiten); Norbert Reichel: Feministisch – türkisch – deutsch: Ein Gespräch von Norbert Reichel mit der Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulacatan über Enttäuschungen, Gleichwertigkeitsproblemen, Bildung, Feminismus (Wege in die Freiheit), weibliche politische Partizipation, Lobby für frauenpolitische Themen (11 Seiten); Wolfgang Barth: Von der Sozialbetreuung zur interkulturellen Sozialarbeit im Einwanderungsland: Nach dem Anwerbestopp eine politisch-moralische Wende, die Grundsätze der Sozialberatung (Tiedt-Studie), der Mauerfall, der Bürgerkrieg in Jugoslawien, Migrationsdynamik (Grundsätze und Beratung als Regeldienst) (17 Seiten); Christiane Bainski: Von den Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwanderungsfamilien zu Kommunalen Integrationszentren: Konzept der RAA (Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Ausländerfamilien) Pilotprojekt 1980–1985, Förderstruktur, Entwicklungsschritte, Koordinierung, kommunale Integrationszentren, zivilgesellschaftliche Beteiligung (10 Seiten); Norbert Reichel: Heimlicher Lehrplan Diskriminierung: Ein Gespräch von Norbert Reichel mit Haci-Halil Uslucan: Über Potenziale, Selbst- und Fremdbilder, eindimensionales Denken, selffulfilling prophecy, Ethnisierung und Selbstsegregation (10 Seiten); Dietrich Thränhardt: Migrantenorganisationen als Akteure der Integration: Exemplarische Belege und Perspektiven für herkunftshomogene Vereine (12 Seiten); Kenan Kücük: Multikullturelles Forum – Eine Migrantenorganisation stellt sich vor: Bildung für alle, Stärken von Migranten, Mitsprache und Partnerschaft (13 Seiten); Vicente Riesgo Alonso: AEF -Spanische Weiterbildungsakademie – Teilhabe stärken durch Weiterbildung: Kooperationen, Unterstützung von Aktivitäten, Perspektiven für die Zukunft, Nutzung der Kompetenzen und Potenziale (IMPULSO), Arbeit mit den Eltern und im ländlichen Raum (11 Seiten); Friederike Müller: Die IFAK: Von der Initiative zur Förderung Ausländischer Kinder zum modernen transkulturellen Träger der Kinder- und Jugendhilfe und Migrationsarbeit: Gründung des Vereins IFAK (Förderung Ausländischer Kinder) 1974, ehrenamtliche Hilfe und Professionalisierung, Präventionsarbeit im Themenfeld Islamismus, die Chancen der Herausforderung und Demokratieförderung (12 Seiten).
5. Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft. (16 Seiten)
David Stein: »Und woher kommst Du?!« Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft: Perspektiven, Narrative und gerechte Repräsentation. Ein Gespräch mit Maria Alexopoulou/Zentrum für Antisemitismusforschung TU Berlin (7 Seiten); Alisha M.B. Heinemann: Von der Ausländerpädagogik zur involvierten Professionalisierung? (Vortragsskript 2020): Die Verantwortung von Bildungsinstitutionen, Ausländerpädagogik und Ausrichtung des pädagogischen Blicks, Konkretisierung in der Praxis (7 Seiten).
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (8 Seiten).
Diskussion
Dies ist ein wichtiges und notwendiges Buch. Der Herausgeberin ist zu danken, dass sie es geschafft hat, in einer Veröffentlichung sowohl Wissenschaftler, Politiker, Sozialarbeiter und Eingewanderte zu Wort kommen zu lassen. Beeindruckend sind schon die Zahlen der Einwanderer, die größtenteils aus wirtschaftlichen Gründen nicht nur in Deutschland eine Arbeit, sondern durch den Nachzug von Familien auch eine Heimat gefunden haben. Sie zeigen, dass Deutschland längst vor 2015 und dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine seit über hundert Jahren ein Einwanderungsland gewesen ist und dass die Integration über Arbeitsplätze und Familiennachzug auch unter noch schwierigeren Bedingungen als heute möglich war.
Viel zu wenig wird in Deutschland auch mit einem gesunden Stolz anerkannt, welche Leistungen das von beiden Seiten verlangt hat. Ohne die Migranten wäre ein wirtschaftlicher Aufschwung im Ruhrgebiet nicht möglich gewesen.
Neben den beeindruckenden historischen Dokumenten und Zahlen sind aber die vielfältigen sozialen Projekte, die vor allem in der Nachkriegszeit und in der letzten Generation entstanden sind, beeindruckend, da diese nicht von oben diktiert, sondern gemeinsam auf Augenhöhe entwickelt wurden. Dass Integration ein langer und auch konfliktreicher Prozess ist, wird nicht unterschlagen, auch dass viele Aufgaben noch nicht gelöst, aber doch bereits auf den Weg gebracht worden sind.
Dieses Buch gehört in jede Universitäts- und Fachhochschulbibliothek für Studenten, die sich mit aktuellen und zukünftigen Problemen unserer Einwanderungsgesellschaft beschäftigen. Die gelungene Mischung von engagierten tatkräftigen Initiativen, Forschung und interessanten Interviews macht das Buch auch für den Leser, trotz seiner über 400 Seiten, lesbar, wobei die den Beiträgen angehängten Literaturhinweise zusätzlich eine Bereicherung sind. Ganz gleich ob die Schwerpunkte der Eingliederung auf Flucht, Vertreibung, Aussiedlung und Arbeitsmigration liegen, es ist ein langer und nicht leichter Weg bis zum Ankommen in einer zunächst fremden Kultur, zur gleichberechtigten Teilhabe und einem gemeinsam zu erarbeitenden Zusammengehörigkeitsgefühl, wie ich es selbst als Ärztin im Ruhrgebiert erlebt habe. Solche guten Erfahrungen machen Hoffnung, dass es in Deutschland auch in Zukunft gelingen kann, ein Klima von Offenheit, Aufnahmebereitschaft und Integration herzustellen. Eine ähnliche Veröffentlichung auch in den anderen Bundesländern wäre mit Sicherheit eine Bereicherung unseres sozialen Klimas.
Fazit
Lesens- und nachdenkenswert.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Mailformular
Es gibt 108 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 02.05.2023 zu:
Carmen Teixeira (Hrsg.): Geschichte der Zuwanderung in Nordrhein-Westfalen - Flucht, Vertreibung, Aussiedlung, Arbeitsmigration. Herausforderungen an Integration, Teilhabe und Zusammenhalt im Wandel. Verlag J.H.W.Dietz
(Bonn) 2022.
ISBN 978-3-8012-0645-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30433.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.