Daniel Illy, Michael Frey: Praxishandbuch Psychische Gesundheit in der Adoleszenz
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Warnke, 10.03.2023
Daniel Illy, Michael Frey: Praxishandbuch Psychische Gesundheit in der Adoleszenz. Transition im Fokus. Urban & Fischer in Elsevier (München, Jena) 2023. 234 Seiten. ISBN 978-3-437-21382-3. D: 46,00 EUR, A: 47,30 EUR, CH: 62,00 sFr.
Thema
Das Buch stellt verschiedene psychische Erkrankungen über die Lebensspanne vom Kindes- und Jugendalter bis zum jungen Erwachsenenalter dar. Dargestellt wird, was im Rahmen der kinder- bzw. jugendzentrierten psychiatrischen Versorgung zu beachten ist und wie die Transition (der Übergang) gut geplant durchgeführt werden kann.
Autoren
Dr. med. Daniel Illy ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2021 arbeitet er als Leitender Oberarzt im Asklepios Fachklinikum in Königs Wusterhausen bei Berlin.
Prof. Dr. med. Michael Frey ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Diplom-Sozialpädagoge (FH) sowie Supervisor. Er war Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU München. Seit 2021 lehrt er an der Technischen Hochschule Deggendorf als Professor für Biopsychosoziale Medizin.
Aufbau
Das rund 220-seitige Buch gliedert sich in vier Teile mit insgesamt 35 Kapitel.
Das Buch beginnt mit einem Allgemeinen Teil (Teil I), der folgende Inhalte fokussiert: Defizite und Chancen der Transitionspsychiatrie; neurobiologische Grundlagen der Adoleszenz; psychosoziale Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz und Entwicklung psychischer Erkrankungen über die Lebenszeit. Dieser Abschnitt schließt mit einem Einblick in die Neuerungen in der ICD-11.
Der zweite Abschnitt „Störungsbilder im transitorischen Fokus“ (Teil II) ist der umfänglichste Teil mit 17 Kapiteln, die sich u.a. mit folgenden Themen beschäftigen: Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen; Schizophrenie; Autismus-Spektrum-Störung; Depression; Bipolare Störungen; Essstörungen; Posttraumatische Belastungsstörung; Stoffgebundene Abhängigkeiten; Computerspiel- und Internetnutzungsstörung; Geschlechtsinkongruenz.
Der dritte Abschnitt „Symptome im transitorischen Fokus“ (Teil III) umfasst neun Kapitel, die sich u.a. folgenden Themen widmen: Stimmungsschwankungen; Selbstverletzung; Aggressivität; Suizidalität; Schulabstinenz.
Der vierte Abschnitt „Therapie unter Berücksichtigung der Transition“ (Teil IV) inkludiert vier Kapitel: Psychotherapie; Eltern- und Angehörigenarbeit; rechtliche Aspekte sowie medikamentöse Therapie.
Die Kapitel (entsprechend die Störungsbilder) beginnen mit einem Fallbeispiel, das jeweils am Ende des Kapitels „aufgelöst“ wird. Nach dem einführenden Fallbeispiel wird die Symptomatik – unter Berücksichtigung der Transition – vorgestellt. Grundlage ist die ICD 11, die demnächst die ICD 10 ablösen wird in Deutschland. Relevante Informationen zu Epidemiologie, Ätiologie, Komorbiditäten, Diagnostik und Therapie werden gegeben; dies erfolgt stets unter Berücksichtigung der Transition. Weitere Strukturmerkmal der Kapitel sind Infoboxen, Merksätze sowie „Bewertungen“, die die Meinung der Autoren darstellen.
Inhalt
Der Allgemeine Teil (I) führt im Kapitel 1 in die Defizite und Chancen der Transitionspsychiatrie ein. Transitionspsychiatrie wird verstanden als die psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung junger Menschen im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter. Die Autoren bewerten hier wie folgt: „Eine verletzliche Gruppe kann also (…) nicht adäquat psychiatrisch betreut werden, was sie nur noch kränker macht. Der 20-jährige Drehtürpatient ist längst Realität in den Erwachsenenpsychiatrien, und die Kinder- und Jugendpsychiatrien heben die Hände und verweisen auf das Alter und darauf, dass man ja auch an die Minderjährigen auf der Station denke müsse, wenn, ja wenn die Krankenkassen überhaupt die gegenüber der Erwachsenenpsychiatrie so teure Behandlung bezahlen ('Drei Monate Behandlungsdauer? Erziehungsdienst? Jeden Tag Ergotherapie? Sporttherapie?').“ (S. 4)
Als Chancen und Ziele der Transitionspsychiatrie werden gemäß Leitfaden für die Etablierung einer Transitionspsychiatrie (DGPPN 2016) benannt:
- Förderung der Entwicklung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
- Vermeidung von Chronifizierung und Hospitalisierung
- Früherkennung psychischer Erkrankungen
- Strukturierte Begleitung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in das erwachsenenpsychiatrische Versorgungssystem (vgl. S. 4f)
Kapitel 2 führt in die neurobiologischen Grundlagen der Adoleszenz ein (Entwicklungstypische Eigenschaften, Pubertät, neurobiologische Veränderungen), Kapitel 3 in die psychosozialen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz (u.a. Autonomie, Identität, Sexualität, Emotionsregulation). Kapitel 4 gibt einen Überblick zum Thema „Entwicklung psychischer Erkrankungen über die Lebenszeit“. Der Allgemeine Teil schließt mit Kapitel 5 und den Neuerungen der ICD-11 (11. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten). Beispielhafte relevante Neuerung ist die Aufgabe der Kategorie „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend“; an ihre Stelle tritt „Neuro-Entwicklungsstörungen“ in der neu ausgewiesenen Entwicklungsperiode „in Kindheit und Jugend“.
Teil II umfasst Störungsbilder im transitorischen Fokus. Insgesamt werden 17 Störungsbilder beschrieben.
Als Erstes werden in Kapitel 6 Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen bearbeitet. Das Fallbeispiel beschreibt den 17-jährigen Timo und seine alleinerziehende Mutter. Mit sieben Jahren wurde erstmalig die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyeraktivitätsstörung (ADHS) gestellt, nachdem im Rahmen der Einschulung Ablenkbarkeit im Klassenverband und massive motorische Unruhe beobachtet wurde. Es erfolgte eine Medikation und flankierend Familienhilfe zur Unterstützung der mütterlichen Erziehungskompetenz. Im Alter von 14 Jahren beschlossen Timo und Mutter, die Medikamente ohne ärztliche Rücksprache abzusetzen. Nach dem ausführlichen Fallbeispiel erfolgt die Darstellung der Symptomatik ADHS nach ICD-11 sowie in der Transition. In der Epidemiologie wird die Prävalenz (Anteil erkrankter Personen an Gesamtpopulation) mit 5 % angegeben.
Als Krankheitsursachen (Ätiologie) wird konstatiert, dass viele bedingende Faktoren bislang nicht geklärt sind. Angenommen werden insbesondere genetische Prädispositionen sowie prä- und postnatale Umwelteinflüsse. Die Diagnostik erfolgt mittels Anamnese inkl. Intelligenztestung (zum Ausschluss einer schulischen Überforderung) sowie Selbst- und Fremdbeurteilsbögen.
Als Therapieoptionen werden neben flankierenden nicht-medikamentösen Maßnahmen (z.B. Psychoedukation, Elterntrainings, Veränderungen der schulischen Gegebenheiten) die Psychopharmakotherapie als zentrale Säule der Behandlung konstatiert. Das Kapitel schließt mit der Auflösung des Fallbeispiels. „Timos Verhalten sollte den Behandelnden dazu bewegen, die Vordiagnose ADHS unter Berücksichtigung der neuen Lebenssituation zu überprüfen. (…) In einem offenen und vertraulichen Gespräch sollte allein mit dem Patienten gesprochen werden, um eine Substanzmittelanamnese (mit viel Verständnis für die Selbstmedikation), aber auch die Ursachen der impulsiven Durchbrüche zu erurieren. (…) Timo sollte klargemacht werden, dass nun, vor dem Erreichen der Volljährigkeit, die beste Möglichkeit besteht, ihm noch störungsspezifisch zu helfen ('Auf der Erwachsenentherapiestation bist du dann der Jüngste und stehst mit deinem Problem vielleicht alleine dar.'). (…) So lässt sich der Verlauf eine bei weiterer Eskalation drohende zwangsweise Vorstellung in der Erwachsenenpsychiatrie aufgrund von Fremdgefährdung vermeiden.“ (S. 38)
Die weiteren 16 Störungsbilder (z.B. Autismus-Spektrums-Störung, Essstörungen, stoffgebundene Abhängigkeiten, Geschlechtsinkongruenz) werden in gleicher Weise aufgearbeitet.
Teil III Symptome im transitorischen Fokus beginnt mit Kapitel 23 Stimmungsschwankungen, einem häufigen Begleiter der Pubertät. Eine der Entwicklungsaufgaben in der Pubertät ist die Findung der eigenen Identität. Identitäre Vorstellungen wechseln in dieser Zeit, gleichzeitig möglicherweise die Stimmung. Stress wird als weiterer Einflussfaktor auf die Stimmung benannt. Die weiteren Kapitel dieses Teils beschäftigen sich mit folgenden Themen: Selbstverletzung, Aggressivität, Suizidalität, Trebegänge (Weglaufen, das im Extremfall bis zur Obdachlosigkeit führt), Sexualität und Schwangerschaft, Substanzkonsum, Medienkonsum sowie Schulabstinenz.
Teil IV widmet sich der Therapie unter Berücksichtigung der Transition. Dieser Teil umfasst die Kapitel 32 Psychotherapie, 33 Von der Eltern- zur Angehörigenarbeit, 34 Rechtliche Aspekte (u.a. Anspruch auf Jugendhilfemaßnahmen, Schweigepflicht, Behandlungseinwilligungen bei Minderjährigen, Betreuungsrecht) sowie 35 Medikamentöse Therapie.
Diskussion
Das Praxishandbuch wird seiner Zielsetzung, den Übergang vom Jugendalter in das Erwachsenenleben im Kontext psychischer Gesundheit darzustellen vollkommen gerecht. Das Buch beschreibt das Thema umfassend und stellt stets den Bezug zu Besonderheiten der Adoleszenz dar. Die Fallbeispiele sind wunderbar ausführlich und nachvollziehbar. Besonders – und sehr positiv zu vermerken – ist die jeweilige „Auflösung“ der Fallbeispiele am Ende eines jeden Kapitels. Die Infoboxen, Merksätze und persönlichen Bewertungen lockern das Buch nicht nur strukturell auf, sondern bieten relevante Informationen. Die Fachinhalte werden kurz, prägnant und nachvollziehbar dargestellt. Dass einige Unterkapitel extrem kurz sind, ist auffällig und m.E. ungewöhnlich. Das ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, strukturiert aber die Fülle an Informationen sehr gut.
Das Praxishandbuch ist aus meiner Sicht nicht nur für Fachärzt*innen und Psychotherapeut*innen geeignet, sondern ebenso für Sozialarbeiter*innen und -pädagog*innen respektive Studierende hervorragend geeignet. Ich kann dem Praxishandbuch – das seinem Namen auf jedem Fall gerecht wird – nur eine breite Leser*innenschaft wünschen.
Fazit
Das Fachbuch ist eine hervorragende Grundlage und Unterstützung für Studium und Praxis. Den Autoren gelingt es, das Thema umfassend, gut verständlich und praxisnah darzustellen.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Warnke
Professorin für Soziale Arbeit, IU Duales Studium, Campus Bremen
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Zitiervorschlag
Andrea Warnke. Rezension vom 10.03.2023 zu:
Daniel Illy, Michael Frey: Praxishandbuch Psychische Gesundheit in der Adoleszenz. Transition im Fokus. Urban & Fischer in Elsevier
(München, Jena) 2023.
ISBN 978-3-437-21382-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30444.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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