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Silke Ohlmeier: Langeweile ist politisch.

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 31.10.2023

Cover Silke Ohlmeier: Langeweile ist politisch. ISBN 978-3-7011-8270-1

Silke Ohlmeier: Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät. Leykam (Graz) 2023. 256 Seiten. ISBN 978-3-7011-8270-1. D: 22,00 EUR, A: 22,50 EUR, CH: 31,50 sFr.

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Leere Zeit?

Langeweile als Haltung, als Gefühl des Nichts, der Sinn- und Nutzlosigkeit, wird im anthropologischen und philosophischen Diskurs meist als eine Art Frustration bezeichnet. Die Zuschreibungen von langweiligen Situationen und Verhaltensweisen werden nicht selten mit dem mahnenden, erhobenen Zeigefinger charakterisiert: „Tu was!“, „Häng nicht rum!“, „Beweg dich!“. Die Auseinandersetzungen über das Gefühl der Langeweile vollziehen sich alltäglich, bis hin zu Erziehungs- und Bildungsdiktate, kulturell, literarisch, medial. Goethe lässt in dem Schauspiel „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ (1773) seine Apologeten klagen: „Langeweile, du bist ärger als ein kaltes Fieber“. Der Zustand erhält eine überwiegend negative Notation und die Aufforderung, Langeweile zu vermeiden. Die Auseinandersetzung mit Begriff und Bedürfnis verläuft, wenn sie intellektuell und aufgeklärt geführt wird, thematisch und reflexiv.

Entstehungshintergrund und Autorin

Wie gelingt es, von einer lustlosen, destruktiven, langweiligen Einstellung weg- und hinzukommen zu gelingendem Bewusstsein? Da sind die Erfahrungen und Erwartungen, die Zeit des Lebens, privat und gesellschaftlich, familial und beruflich langweilig, tumb oder chaotisch zu verbringen. Silke Ohlmeier ist Mitglied der International Society for Boredom Studies und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Als ausgebildete Industriekauffrau arbeitete sie mehrere Jahre bei einem Busunternehmen. Die unbefriedigende, extrem langweilige Tätigkeit bewirkte, dass sie Soziologie studierte und sich als Forschungsschwerpunkt die in ihrer Ausbildung und ihrem beruflichen Tun die „das Hirn vernebelnde Langeweile“ vornahm. Es waren die sie komplett unterfordernden, mechanischen, ihren Intellekt eher abtötenden denn herausfordernden Tätigkeiten, die sie in das Spannungsfeld von Anpassung und Widerstand brachte (siehe dazu auch: Philipp Staab, Anpassung. Leitmotiv der nächsten Generation, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​30373.php). Ihre mehrjährigen Nachdenk- und Forschungsergebnisse legt sie als Dissertationsschrift nun vor.

Aufbau und Inhalt

In zehn Kapiteln setzt sich die Autorin mit einleitenden Informationen über den Forschungsgrund und -anlass auseinander (1); sie stellt fest: „Ja, man kann sich zu Tode langweilen“ (2); sie reflektiert „Neugedacht: Wie ich auf die Langeweile blicke“ (3); fragt: „Irgendwie ist doch alles politisch! Jetzt sogar Langeweile?“ (4); klärt: „Was Langeweile nicht ist: Missverständnisse über die Langeweile“ (5); differenziert: „Langeweile und Marginalisierung: Warum es kein Zufall ist, wen Langeweile trifft“ (6); unterscheidet: „Langeweile in der privilegierten Welt: Warum sich auch Rechtsanwält*innen langweilen“ (7); erkennt: „Langweilen oder sein: Was Langeweile mit Kapitalismus zu tun hat“ (8); mahnt: „Das ist nicht langweilig! Plädoyer für eine präzise Sprache“ (9); und bietet an: „Gesellschaftskritik statt Lebensratgeber? Wozu eine Soziologie der Langeweile nützt“.

Im anregenden, entdeckenden Diskurs über das Phänomen der Langeweile wird deutlich, dass eine soziologische, psychologische und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung über „das vermeintlich triviale() Alltagsphänomen eines der größten Tabus unserer Zeit darstellt“; weil kaum jemand zugibt, dass ein längerfristig langweiliges Tun zu physischen und psychischen, individuellen Belastungen führt, und den Grund eher in seiner individuellen Existenz sieht, und weniger auf lokal- und globalgesellschaftliche Einflussfaktoren zurückführt. Sie, wie andere Langeweile-ForscherInnen stellen im öffentlichen Denken und in der akademischen Diskussion und Wertung ein „Whataboutism“ fest: Gibt es nicht wichtigere Dinge? Hat das zu tun mit der Schwierigkeit, das Gefühl der Langeweile zu deuten und zu benennen? Es kommt zutage, dass es sich um mehrere Zustände handelt: „Geringer Antrieb in Form von Müdigkeit und Antriebslosigkeit bei gleichzeitig gesteigertem Antrieb in Form von Stress oder Ratlosigkeit“ – „Konzentrationsschwierigkeiten“ – „Verlangsamtes Zeitempfinden“ – „Ein subjektives Gefühl von Sinnlosigkeit und/oder Ausweglosigkeit“ – „Aversive Gefühle gegenüber der Erfahrung“. Eine besondere Aufmerksamkeit widmet die Autorin den Fragen nach den sozialen, gesellschaftlichen Ungleichheiten. Die Feststellung, dass Langeweile politisch (zu deuten und zu erkennen) ist, führt uns in die Gründe und Abgründe des menschlichen Daseins.

Es sind Fragen nach den Wahrheiten und Wirklichkeiten; es sind Irritationen, wie sie sich z.B. im „Thomas-Theorem“ zeigen und im tatsächlichen Erleben und fantasierten (Un-)Möglichkeiten „erlebbar“ werden. Macht Langeweile kreativ? Mit der Frage tun sich Fakten und Fallen auf. Sie äußern sich in Begrifflichkeiten, die umschreiben oder verführen: Muße, Nichtstun, Faulheit, Monotonie, Öde, Stumpfsinn, Unlust… Und sie bieten die Chance, in der Erziehung wie in der familialen und gesellschaftlichen Kommunikation, die momentanistischen und medialen Bedürfnisse zu relativieren und den kapitalistischen und hektischen Aktivitäten – „Ich will/kann alles, und das sofort!“ – zu widerstehen, und sich damit auseinanderzusetzen, dass Langeweile ein modernes Zeitphänomen ist, das mit den neuen technischen Möglichkeiten allein nicht zu bewältigen ist. Weil Langeweile sich in besonderer, existenzieller Weise bei marginalisierten, unterprivilegierten, ausgegrenzten Gruppen zeigt, die zudem überwiegend, beruflich im Niedriglohnsektor monotone, „wartende“ Tätigkeiten ausüben und/oder in ihrer Freizeit als „couch potatoes“ herumhängen, gilt es in der Analyse diese Auffassung zu relativieren: Auch in gesellschaftlich anerkannteren Tätigkeiten treten Langeweile-Phänomene auf. Ihnen zu begegnen bedarf es, schichten- und klassenunabhängig, einer intellektuellen Auseinandersetzung mit den allen Menschen eigenen Bedürfnissen und Wünschen nach einem guten, gelingenden Leben: Was kann eine erfüllte Lebenszeit sein? „Gefüllte Zeit ist nicht erfüllte Zeit“.

Die Autorin stellt fest, dass „ein allgemeines Anerkennen von Phasen des ‚Nichtstuns‘ ( ) einer Unterbrechung des verinnerlichten permanenten Steigerungszwangs des Kapitalismus (gleich käme) und so befördern könnte, dass Langeweile zu sinnstiftender Muße umschlägt“. Weil die Auffassungen, dass etwas langweilig oder kurzweilig ist, immer situativ ist und sich gestisch, mimisch und sprachlich unterschiedlich, individuell, kulturell und interkulturell verschieden ausdrücken lässt, können positive Einstellungen wie: „Das Beste aus der Situation machen!“, hilfreich sein. In Sackgassen und Schmuddelecken führt die Erwartung: „Nie wieder Langeweile!“. Eine (positive) Langeweile kann bewirken, in der individuellen und kollektiven Daseinswirklichkeit einen Wandlungs- und Veränderungsprozess zu vollziehen.

Diskussion 

Perspektivenwechsel ist angesagt; negative, passive, energielose, träge Haltungen in duldsame, tolerante, empathische, konstruktive Einstellungen umwandeln; Ennui und Borout energisch begegnen; Oblomowerei erkennen (Henning Frank, Oblomowerei – eine Vorstufe der Sucht? 2013, www.socialnet.de.rezensionen/​18191.php). Die Auseinandersetzungen mit Langeweile sind notwendige, existentielle, psychologische Anforderungen an das individuelle und kollektive Dasein der Menschen. Die Entdeckungen dabei können hellsichtig und hilfreich sein bei den Fragen des Lebens: „Wer bin ich?“ – „Wie bin ich geworden, was und wie ich bin?“ (Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29229.php). Ihr Forschungsdesiderat ist gekennzeichnet durch intellektuelle Reflexionen und Bezugnahmen auf soziologische und interdisziplinäre Denk- und Handlungsoptionen (z.B. auch: Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, www.socialnet.de/rezensionen/​25302.php).

Fazit

Die Dissertation „Langeweile ist politisch“ ist kein üblicher Lebensratgeber; vielmehr gelingt es der Autorin, die „impliziten, sozialen Anteile an langweiligen Situationen transparent zu machen“ und so die traditionellen Einstellungen auf den Denk-Prüfstand zu stellen. Es sind die wissenschaftlichen Versuche, vermeintlich abseitige, sinn- und nutzlose Reflexionen sinnvoll werden zu lassen. Weil nichts wichtiger für das humane, anthropologische, gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte, planetarische Bewusstsein ist, der Menschheit ein gutes, gelingendes, gerechtes Dasein zu ermöglichen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1633 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 31.10.2023 zu: Silke Ohlmeier: Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät. Leykam (Graz) 2023. ISBN 978-3-7011-8270-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30449.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.


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