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Erika Schulze (Hrsg.): Diversität im Kinderbuch

Rezensiert von Prof. Dr. Sonja Preissing, 17.08.2023

Cover Erika Schulze (Hrsg.): Diversität im Kinderbuch ISBN 978-3-17-037986-2

Erika Schulze (Hrsg.): Diversität im Kinderbuch. Wie Vielfalt (nicht) vermittelt wird. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 179 Seiten. ISBN 978-3-17-037986-2. 29,00 EUR.

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Thema

Kinder wachsen angesichts gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in vielfältigen Familien- und Lebensformen auf – davon ein großer Teil unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten. Der Sammelband widmet sich der Frage, inwieweit Kinderliteratur die Diversität der Lebenswelten von Kindern thematisiert, darstellt und sichtbar macht – oder auch ignoriert, gar stigmatisiert (S. 8). Kinder eignen sich über Kinderbücher Wissen an und setzen sich mit gesellschaftlichen Strukturen auseinander. Damit sich Kinder selbst in Kinderbüchern repräsentiert und anerkannt fühlen, ist wichtig, dass Kinderliteratur die vielfältigen und unterschiedlichen Lebenswelten widerspiegeln. Während diversitätsbewusste Perspektiven für die Jugendliteratur in der Wissenschaft bereits kritisch betrachtet werden, erhält die diversitätsbewusste Kinderliteratur für die mittlere und frühe Kindheit bislang wesentlich weniger Beachtung (S. 9). Genau hier setzt der Sammelband an: Aufbauend auf bestehende Diskussionen u.a. der inklusiven Pädagogik, der vorurteilsbewussten Erziehung sowie der rassismus- und geschlechtskritischen Forschung analysieren die Autor:innen mithilfe interdisziplinärer und intersektionaler Zugänge die (fehlende) Darstellung von Vielfalt in der Kinderliteratur, sowie ergänzend für das Kinderfernsehen und Kinderspielzeug. Dabei werden Themenfelder wie u.a. Migration, Rassismuskritik, Familiennormen, Geschlecht und Behinderungen behandelt.

Damit greift der Sammelband eine wichtige (Forschungs-)lücke auf und liefert erkenntnisreiche Anknüpfungspunkte sowohl für die Wissenschaft, die Praxis und die politische Bildungsarbeit.

Herausgeberin

Prof. Dr. Erika Schulze lehrt und forscht zur Kindheits- und Jugendsoziologie an der Fachhochschule Bielefeld. Weitere Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Migration, Flucht und Bildung, Kindheit und Jugend in der Stadt, Kindheit im Migrationskontext und Erziehung und Bildung unter den Bedingungen von Vielfalt und Heterogenität.

Aufbau

Der Sammelband ist im Kohlhammer Verlag 2023 in der 1. Auflage erschienen und hat 179 Seiten. Das Buch gliedert sich in 12 Kapitel. In der Einleitung, Kapitel 1, führt die Herausgeberin Erika Schulze thematisch in den Sammelband ein und stellt den Kontext sowie Aufbau des Buchs vor. Die Kapitel 2–7 strukturieren sich entlang der Ungleichheitsdimensionen „race-class-gender-body“ (S. 9) und analysieren diese mit Blick auf Diversität in unterschiedlicher Kinderliteratur und Kinderbüchern. Die Perspektive von Kindern selbst auf diversitätsbewusste Kinderbücher ist der Fokus von Kapitel 8. In Kapitel 9–10 wird der Schwerpunkt auf diskriminierungskritische Diversität im Kinderbuch und Mehrsprachigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur gelegt. In erweiternder Perspektive geht es in Kapitel 11–12 um diversitätsbewusste Perspektiven auf Kinderspielzeug und um die Frage nach der Diversität im Kinderfernsehen.

Inhalt

Ungleichheitsdimensionen „race-class-gender-body“ und diversitätsbewusste Perspektiven

Viola B. Georgi, Janina M. Vernal Schmidt und Agata Wiezorek analysieren in Kapitel 2 schwerpunktmäßig das Kinderbuch in der Migrationsgesellschaft. Die Autorinnen untersuchen u.a. die (De-)Thematisierung von Migrationsbewegungen. Als gelungenes Beispiel für ein Sachbilderbuch in der Migrationsgesellschaft, „in dem das Woanders-Hingehen in seinen vielfältigen Facetten für Kinder aufgearbeitet ist“ (S. 13) benennen sie das Kinderbuch „Alle da! Unser kunterbuntes Leben“ (Tuckermann & Schulz, 2014). In historischer und gegenwärtiger Perspektive arbeiten sie heraus, inwiefern in der Kinderliteratur Problemdiskurse zu Migration und Rassismen, diskriminierende (Bild-)Darstellungen und Othering-Prozesse als „Migrationsandere“ (S. 17) enthalten sind. Nach ausführlicher Analyse und Kontextualisierung der historischen Bezüge – wie z.B. die Gastarbeiter:innen und ihre Kinder der 1970er-Jahre und die debattierten „kulturell begründeten Identitätskrisen junger Migrant*innen der zweiten und dritten Generation“ (S. 20) – rücken die Autorinnen Kinderliteratur in den Vordergrund, in der eine deutlich differenziertere Perspektive auf Migration und Flucht eingenommen wird – wie beispielsweise im Kinderbuch „Wir Kinder aus dem FlüchtlingsHeim“ (Trần & Schultz 2020). Das Buch macht Migrationsbewegungen sichtbar, ist mehrsprachig und aus kindlicher Perspektive verfasst.

Die Differenzkategorie „class“ untersuchen Melanie Plößer und Erika Schulze in Kapitel 4 anhand der Frage, inwiefern Armutsverhältnisse, Prekarisierung und „working poor“ (S. 45) im Kinderbuch thematisiert werden. Sie machen in ihrem Beitrag auf die Lücke in der deutschsprachigen Kinderliteratur zu diesem Thema aufmerksam (S. 51). Ausgehend vom Forschungsstand und von Studien zur Kinderarmut suchen sie nach Kinderbüchern, die Geschichten jenseits heteronormativer Familienformen und ökonomischer Normalitätsmuster erzählen. Die Thematisierung von Kinderarmut analysieren sie am Beispiel des Kinderbuchs „Schnipselgestrüpp“ (Friese & Duda 2013). Armut wird darin als ein Mangel an materiellen Ressourcen mit Folgen für soziale und kulturelle Teilhabe dargestellt. In Bezug auf Kinderarmut arbeiten sie die kreativen Strategien des Kindes im Umgang mit Armut heraus und analysieren, wie darin die Handlungsmacht des Kindes zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig legen sie dar, wie auf Text- und Bildebene „Verwobenheiten mit aktuellen Diskursfiguren der Kulturalisierung, Individualisierung und Moralisierung von Armut“ (S. 55) einhergehen, anstelle auf die strukturellen Ungleichheiten aufmerksam zu machen.

Ulrike Becker und Marisa Beckmann legen in Kapitel 6 den Schwerpunkt auf die Strukturkategorie Geschlecht in der Kinderliteratur und gehen auf die gesellschaftliche Relevanz gendersensibler Kinderliteratur ein. Dabei setzen sie sich kritisch mit dem Normalitätsbegriff und dem „heteronormativen Paradigma“ (S. 77) in der Kinderliteratur für das Alter von null bis zwölf Jahren auseinander. Ausgangspunkt ist, dass in Kinderbüchern immer wieder „binäre Geschlechterkonstruktionen“ (S. 75) und damit zusammenhängende Stereotype und heteronormative Rollenbilder (S. 78) auftauchen. Eine geschlechtersensible und diversitätsbewusste Kinderliteratur müsse daher „Lebensformen repräsentieren, die nicht der Hegemonie entsprechen, und somit Umwelten zeichnen, die die Lebens- und Alltagswelten der vielfältigen Gesellschaftsmitglieder widerspiegeln“ (S. 82). Das Kinderbuch „Wie Lotta geboren wurde“ (Schmitz & Schmitz-Weicht, 2013) thematisiert das Aufwachsen von Lotta mit einem transgeschlechtlichen Vater und greift damit laut der Autoriinnen den Wandel des Alltags von Kindern sowie die Vielfalt der Geschlechter differenziert auf. Abschließend appellieren sie an die Kinderrechte und weisen zudem auf die Notwendigkeit von Wissen und Differenzsensibilität der Vorleser:innen hin.

In dem Beitrag von Teresa Vielstädte in Kapitel 7 wird die Konstruktion von Behinderung im Kinderbuch behandelt. Die Autorin stellt voran, dass Behinderung nach wie vor ein Tabuthema ist, womit die gesellschaftliche Ausgrenzung zum Ausdruck kommt (S. 91). Die Autorin geht im Beitrag einführend auf die Entwicklung des Begriffs Behinderung, die Diskurse in Wissenschaft und Gesellschaft sowie auf die theoretischen Ansätze der Disability Studies ein. Hierauf aufbauend analysiert sie das Kinderbuch „Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild“ (Klein & Osberghaus 2019). Das Buch greift unterschiedliche Behinderungen in Form eines Freundschaftsbuchs auf. Darin werden allerdings, so resümiert sie, anstelle gesellschaftlich eingebetteter Diskriminierungen und Konstruktionen eher individuelle Erfahrungen beschrieben (S. 99). Ferner identifiziert sie Stereotypisierungen und Stigmatisierungen – beispielsweise bei der Darstellung eines Kindes mit Trisomie 21 (S. 97). Informationen und Hintergründe zu den Behinderungen werden laut Teresa Vielstädte nur oberflächlich beschrieben. So bleibe das Buch „hinter seinen Möglichkeiten zurück“ (S. 99), biete allerdings einen niedrigschwelligen Zugang zum Thema und ermögliche anhand der stereotypisierenden Darstellungen den Austausch mit Kindern. Tiefergehend brauche es eine Differenzkategorie Behinderung, mit der strukturelle Ungleichheiten und Diskriminierungen, Ausgrenzungsmechanismen und Benachteiligungen sichtbar werden (S. 100).

Perspektive von Kindern auf diversitätsbewusste Kinderbücher

Erika Schulze präsentiert in Kapitel 8 das explorativ-qualitative Forschungsprojekt „Kinder.Bilder.Bücher“ (S. 103), in dem die Perspektive von Kindern auf diversitätsbewusste Kinderbücher und die Konstruktion ihrer Weltsicht untersucht wird. Die Forschungsfrage bezieht sich darauf, „wie sie auf diese Geschichten reagieren, wie sie sich mit ihnen auseinandersetzen und welche Gedanken sie hierzu äußern.“ (S. 103). Das Forschungsprojekt wurde in zwei Phasen in Kooperation mit Kindertagesstätten durchgeführt: In der ersten Phase lag der Fokus auf diversitätsbewusste und diskriminierungssensible Bücher und in der zweiten Phase wurden schwerpunktmäßig geschlechtssensible Kinderbücher behandelt. Es wurden Gruppeninterviews mit Kindern durchgeführt, wobei sie in den Forschungsprozess als Akteur:innen aktiv miteinbezogen wurden. So konnten sie aus einer Vorauswahl selbst entscheiden, welches Kinderbuch sie mit den Forscher:innen lesen möchten. Außerdem durften sie mitbestimmen, an welchem Ort das Buch angeschaut und gelesen wird (S. 104). Dabei schlüpften die Kinder in die Rolle der Befragenden und zeigten Interesse an den Forscher:innen. Das „Autoritätsgefälle“ (S. 105) zwischen Erwachsenen und Kindern wurde im Projekt kritisch reflektiert.

Im Beitrag werden Auszüge aus den Gruppeninterviews mit Kindern zu ihren Geschlechter- und Familienkonstruktionen vorgestellt und analysiert. Die Autorin liefert Einblicke in den Austausch der Kinder untereinander, in ihre Konstruktionen und Sichtweisen, ihr Wissen und ihre Interpretationen.

Diskussion

Das Buch richtet sich an Wissenschaftler:innen, Forscher:innen, Lehrende und Studierende der Sozialwissenschaften, Sozialen Arbeit, Kindheitspädagogik sowie der Kindheits- und Jugendforschung. Neben der theoretischen Reflexion liefert der Sammelband zahlreiche methodische Anschlüsse für die Praxis und die politische Bildungsarbeit. In den Beiträgen sind Hinweise und Empfehlungen gegeben, wie beispielsweise im Beitrag von Jens Mätschke-Gabel zu rassismuskritischen Medien und Kinderbüchern. Weitere methodische Anschlüsse für die Praxis sind ferner im Beitrag von Paula Humborg und Gabriele Koné zum kritischen Lesen und zum Umgang mit diskriminierenden Begriffen in der Vorlesesituation mit Kindern enthalten. Konkrete Impulse für die Praxis formuliert Yasmina Gandouz-Touati hinsichtlich des diversitätsbewussten und inklusiven Umgangs mit Kinderspielzeug. Hieran anschließend sensibilisiert Maya Götz in ihrem Beitrag für die (fehlende) Diversität und Repräsentation von Vielfalt im deutschen Kinderfernsehen. Yüksel Ekinci legt in ihrem Beitrag zur mehrsprachigen Kinder- und Jugendliteratur ihr Augenmerk auf die Partizipationschancen in der postmigrantischen Gesellschaft. Eine normkritische Betrachtung zu Familiendarstellungen in Kindenbüchern erörtern Raphael Bak, Noelle O'Brian-Coker und Nike Vetter. Das Buch ermöglicht damit einen breiten Überblick und eine kritische Analyse unterschiedlicher Kinder- und Jugendliteratur. Besonders bereichernd ist, dass erweiternd zur Kinder- und Jugendliteratur, die (fehlende) Diversität im Kinderfernsehen und im Themenfeld des Kinderspielzeugs aufgegriffen und analysiert wird. Somit erhalten die Leser:innen nicht nur Impulse, Anregungen und kritische Analysen von Kinderbüchern bzw. Kinder- und Jugendliteratur, sondern auch zu weiteren Medien, die im Alltag junger Menschen einen großen Raum einnehmen. Positiv hervorzuheben ist, dass dabei einerseits herausgearbeitet wird, inwiefern Normvorstellung, Ungleichheiten und Diskriminierungen reproduziert werden. Andererseits präsentiert das Buch vielfältige Bücher, Filme und Spielmaterialien, die den Anspruch haben, diverse Lebenswelten sichtbar zu machen und diversitätsbewusste Perspektiven umzusetzen.

Fazit

Das Buch greift eine wichtige (Forschungs-)Lücke sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis auf. Insbesondere vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Wandlungsprozesse und zunehmender sozialer Ungleichheiten (u.a. Kinderarmut) ist die Auseinandersetzung und Analyse von (fehlender) Diversität in der Kinderliteratur, im Kinderfernsehen und Spielmaterial von Kindern hochaktuell. Das Buch stellt wichtige Anknüpfungspunkte für die Kindheitsforschung, für wachsende Studiengänge im Bereich der Kindheitspädagogik bzw. Kindheitswissenschaft und für die Professionalisierung der Praxis in der (frühen) Kindheit.

Quellenangaben

Friese, Julia & Duda, Christian (2013): Schnipselgestrüpp. Ein Bilderbuch über die Macht der Fantasie für Kinder ab 5 Jahren. Beltz & Gelberg.

Klein, Horst & Osberghaus, Monika (2019): „Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild“. Klett Kinderbuch

Schmitz-Weicht, Cai & Schmitz, Ka (2013). Wie Lotta geboren wurde. Verlag Atelier 9 ¾

Trần, Hoa Mai & Schultz, M. (2020): Wir Kinder aus dem (Flüchtlings)Heim. Unter Mitarbeit von Michaela Schultz. Berlin: Viel & Mehr. 

Tuckermann, Anja & Schulz, Tine (2014): Alle da! Unser kunterbuntes Leben. Klett Kinderbuch Verlag

Rezension von
Prof. Dr. Sonja Preissing
IU Internationale Hochschule Fachgebiet Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Jugend-, Migration- und Stadtforschung, (politische) Partizipation, Kinder- und Jugendpolitik
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Es gibt 1 Rezension von Sonja Preissing.

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Zitiervorschlag
Sonja Preissing. Rezension vom 17.08.2023 zu: Erika Schulze (Hrsg.): Diversität im Kinderbuch. Wie Vielfalt (nicht) vermittelt wird. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-17-037986-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30461.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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