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Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt

Rezensiert von Rigmar Osterkamp, 29.06.2023

Cover Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt ISBN 978-3-608-98667-9

Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 512 Seiten. ISBN 978-3-608-98667-9. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.

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Thema

Die zentrale These des historischen Werkes lautet, dass Afrika und die Afrikaner entscheidend dafür waren, dass die moderne Welt, wie sie sich in Europa und Nordamerika entwickelt hat, überhaupt entstehen konnte.

Autor

Howard W. French war viele Jahre Auslandskorrespondent für die New York Times und für The Times. Seit 2008 ist er Professor für Journalismus an der New Yorker Columbia University. Seine regionalen Schwerpunkte sind Afrika und die Karibik. French ist Autor mehrerer Bücher über Afrika.

Aufbau

Das Buch ist in fünf Teile gegliedert, deren Überschriften lauten: I. Die ‚Entdeckung‘ Afrikas, II. Der Dreh- und Angelpunkt, III. Der Wettlauf um Afrikaner, IV. Der Lohn des Pythongottes, V. Der Schwarze Atlantik und eine neu gestaltete Welt. Von ähnlicher Art sind die Überschriften der Kapitel in den einzelnen Teilen. Z.B. tragen die sechs Kapitel des ersten Teils folgende Überschriften: 1. Das Knirschen unter den Füßen, 2. Schwarzer König, goldenes Zepter, 3. Erkundung neu gedacht, 4. Das Haus Avis kommt ins Spiel, 5. Die Inseln vor der Küste, 6. Das afrikanische Festland.

Das Buch enthält 62 Seiten mit Anmerkungen und Register, aber kein eigenes Literaturverzeichnis. Auf 14 Seiten werden Schwarz-Weiss-Fotos historisch bedeutsamen Inhalts wiedergegeben.

Inhalt

Die zentrale These des Buches, dass Afrika und seine Bewohner – v.a. die versklavten und in die Karibik sowie nach Süd- und Nordamerika verschleppten – die entscheidende Ursache bildeten, dass sich in der westlichen Welt die Moderne mit hohem Lebensstandard, Industrie und Aufklärung entfalten konnte, wird vielfach wiederholt. „Afrika hat fast alles, was uns heute so vertraut ist, erst möglich gemacht.“ (S. 23) Oder auch: „Die Jahrzehnte afro-europäischer Kontakte seit 1444 waren grundlegend für die Geburt der modernen Welt, die Fortschritte des Westens und Afrikas spätere Stellung bis in unsere Zeit“ (S. 79).

Den Kern dieser Behauptung bilden die Gewinne, die europäische Reeder und Fabrikanten aus der Arbeitskraft der Sklaven und dem Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und der Karibik sowie den beiden Amerikas ziehen konnten. Im Mittelpunkt stehen dabei v.a. zwei Güter: Zucker und Baumwolle. Das Ausmaß des Anbaus dieser beiden Rohstoffe in der Karibik und in Nordamerika und das Ausmaß des Leidens der in den Anbau gezwungenen afrikanischen Sklaven wird detailreich und eindringlich, dabei gleichwohl sehr sachlich geschildert. Auch die Wirkungen, die die Rohstoffe als Konsumgüter und industrielle Vorprodukte in Europa hatten, werden eingehend nachgezeichnet. Der Lebhaftigkeit der Darstellung kommt zugute, dass French viele der von ihm erwähnten Orte nicht nur aus eigener Anschauung kennt, sondern er dort auch seiner eigenen Familiengeschichte begegnet. (S. 19)

Neben der erwähnten generellen Kausalkette, die von der Versklavung über die Baumwoll- und Zuckerproduktion und die Handelsgewinne bis zur Industrialisierung in Europa führt, sieht French auch eine ganz spezielle am Werk, eine Kausalkette, die von der Produktion von Zucker und Kaffee in der Karibik bis zur europäischen Aufklärung reicht. Sein Gedankengang: die von afrikanischen Sklaven hergestellten Konsumgüter Zucker, Kaffee und Tee (neben industriellen Vorprodukten wie Baumwolle) werden nach Europa, zunächst v.a. nach England exportiert. Dort wird es Mode, gesüßte und anregende Getränke zu sich zu nehmen, Kaffeehäuser entstehen (das erste 1650 in Oxford), wo dann auch Zeitungen mit politischen Nachrichten ausliegen. French sieht dort die „Geburtsstunde einer modernen Öffentlichkeit“ (S. 223) und zieht eine kausale Linie sogar bis dahin, „dass die Aufklärung selbst ihre Wurzeln in der Mühsal und dem Schweiß afrikanischer Gefangener hatte“ (S. 224).

Die Kausalkette, die French sieht, ist durchaus nicht unplausibel (vielleicht abgesehen von der, die bis zur Aufklärung führt) – aber auch nicht mehr als das. French bringt im Text (nicht in Tabellen) immer wieder Zahlen, die seine These untermauern sollen – Zahl der verschleppten Afrikaner, ihre Produktivität in der Baumwollernte, Entwicklung der Baumwoll-und Zuckerproduktion, Marktwert des von England importierten Zuckers und der Baumwolle, Zahl der Zuckerraffinerien in England, für die Schafweide in England benötigte Fläche usw. usf. Aber es wird nicht die grundsätzliche Frage gestellt, ob die europäischen Gewinne aus der versklavten Arbeitskraft und dem Handel groß genug waren, um die These stützen zu können, und welche anderen Faktoren eine Rolle gespielt haben könnten.

Dabei gibt es etliche Wissenschaftler, die genau diese Fragen analysieren. Eine dieser Arbeiten wird von French ausgewertet: „The Rise of Europe: Atlantic Trade, Institutional Change, and Economic Growth“ (Acemoglu, Johnson, Robinson, 2005). Die Autoren sehen durchaus eine kausale Verbindung zwischen Afrika und der Sklaverei auf der einen Seite und der europäischen wirtschaftlichen Entwicklung auf der anderen Seite – nur anders als French sie sieht. In ihrer systematischen Analyse mittels ökonometrischer Methoden kommen sie zu dem Ergebnis, dass die direkte Kausalkette – Ausbeutung plus Handelsgewinne führen zur Industrialisierung – allenfalls einen Teil der Realität erklären kann. Nach Auffassung der Autoren ist dagegen eine indirekte Wirkung entscheidend. Diese besteht darin, dass die Gewinne zu institutionellem Wandel, v.a. zu einer Sicherung von politischen und von Eigentums-Rechten von Privatpersonen und Unternehmen gegenüber der Feudalmacht, geführt hätten. Das sei die entscheidende Voraussetzung für die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Europa gewesen. Die Autoren führen in der genannten Studie auch ökonometrisch-statistische Analysen von Wissenschaftlern an, die zu dem Ergebnis kommen, dass die Gewinne aus Sklaverei und Handel nicht ausgereicht haben können, um die Kapitalakkumulation, die in Europa damals begann, zu erklären (so etwa Stanley L. Engerman (1972), Patrick K. O’Brien (1982), Joseph E. Inikori (2002)). French erwähnt diese Arbeiten nicht.

Eine zweite wichtige Behauptung des Autors lautet, dass der kausale Zusammenhang, den er zwischen Afrika und dem Aufstieg des Westens sieht, heute „weitgehend unsichtbar“ ist (S. 23), „in den meisten Darstellungen der westlichen Geschichte sehr selten auch nur erwähnt“ wird (S. 79). Oder auch: Afrikas Rolle bei der Entstehung der modernen Welt werde „dramatisch falsch“ erzählt (S. 12), bzw. sei „bisher nicht wahrgenommen“ worden (S. 14). Diese Kritik trifft sicher immer noch auf etliche, v.a. auf europa-zentrierte historische Darstellungen zu. Sie gilt aber nicht für die Analysen marxistischer bzw. linker Autoren wie Eric Williams (1944), Walter Rodney (1972), Immanuel Wallerstein (1974), André Gunder Frank (1978) oder James M. Blaut (1992), die bereits vor Jahrzehnten genau die zentrale These von French vertreten haben. Von diesen erwähnt der Autor nur Eric Williams und Walter Rodney, letzteren nur in einer Fußnote.

Im Unterschied zu manchen anderen Darstellungen der Versklavung und Verschleppung von Afrikanern sieht French auch den Anteil, den afrikanische Herrscher, Menschenjäger und Menschenhändler daran hatten.

Diskussion

Der Verlag hat, verständlicherweise, auf dem Schutzumschlag des Buches nur begeisterte Lesermeinungen gebracht. So wird Amitav Ghosh, ein indischer Romanautor, zitiert mit: eine „unglaublich wichtige Neuerzählung einer Geschichte, von der Afrika und die Afrikaner lange bewusst ausgeschlossen wurden“. Die liberale britische Wochenzeitung The Observer hat geschrieben: „Ein großartiges, eindringliches und packendes Buch. Es ist wunderbar geschrieben, ein wahres Meisterwerk.“ Aber der Verlag hätte auch aus den sehr positiven Rezensionen der Financial Times, der New York Times oder der Zeitschrift Foreign Affairs zitieren können. Vielfach gebrauchte Charakterisierungen des Buches sind: packend, mitreißend, episch, eindringlich.

Fazit

Das Buch stellt eine wichtige Hypothese auf, enthält eine Fülle relevanten Materials dazu, ist lehrreich und anregend und teils geradezu spannend geschrieben.

Rezension von
Rigmar Osterkamp
war lange in der Afrika- bzw. Entwicklungsländer-Abteilung des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung tätig, die er auch leitete. Von 2007 bis 2011 hat er in Namibia das Wirtschaftsforschungsinstitut NEPRU beraten und war Senior Lecturer Economics an der University of Namibia. Heute gehört er zum Forschungsnetzwerk des Institute of SocioEconomics (ISE), Munich, Center of Conflict Resolution.
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Es gibt 2 Rezensionen von Rigmar Osterkamp.

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Zitiervorschlag
Rigmar Osterkamp. Rezension vom 29.06.2023 zu: Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-608-98667-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30463.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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