Claas Triebel: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich?
Rezensiert von Dr. Jana Swiderski, 05.06.2023
Claas Triebel: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Potenzialorientiertes Karrierecoaching.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
194 Seiten.
ISBN 978-3-608-89279-6.
D: 27,00 EUR,
A: 27,80 EUR.
Reihe: Leben lernen - 333. .
Thema
Im Zentrum des Buches steht die Kompetenzbilanz – ein Coachingprozess, der zur Beantwortung von drei Fragen beitragen soll: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Im Unterschied zu anderen Coachingansätzen sind Ziele nicht Anlass des Coachings, sondern dessen Ergebnis (vgl. S. 138). Die Methode der Kompetenzbilanz zielt daher nicht auf das Umsetzen von Zielen, sondern auf das Definieren von Zielen (vgl. ebd.). Sie richtet sich an Personen, „die sich in einem strukturierten Verfahren mit ihren eigenen Fähigkeiten auseinandersetzen wollen“ (S. 145). Die Kompetenzbilanz entwickelt keine Strategie zur Erreichung eines von vornherein feststehenden Ziel, sondern unterstützt Selbstreflexion und Selbsterkenntnis, um auf dieser Grundlage eigene Ziele entwickeln und formulieren zu können.
Autor
Dr. Claas Triebel, Dipl.-Psych., u.a. jahrelang tätig als Professor für Kompetenzentwicklung und Coaching an einer Hochschule, Autor verschiedener Bücher, widmet sich aktuell der Aus- und Weiterbildung von Karrierecoaches, berät Start Ups, Firmen und Institutionen und ist Gründer eines Coaching-Unternehmens.
Entstehungshintergrund
Im Zentrum des Buches steht die Kompetenzbilanz, ein strukturierter Reflexions- und Coachingansatz. Sie wurde im Jahr 2003 im Auftrag des Tiroler Zukunftszentrums entwickelt, einer Einrichtung der Arbeiterkammer Tirol, des Landes Tirol und der Stadt Innsbruck, und beschäftigte sich mit Fragen der Zukunft der Arbeit. Wie werden wir in Zukunft arbeiten? Wie gehen wir mit der sich wandelnden Arbeitswelt um und wie kann man diesen Umgang unterstützen (vgl. S. 9)? Dadurch bildete sich in Österreich bereits vor 20 Jahren eine kleine New-Work-Bewegung (vgl. S. 10). Letztlich ging es darum, Individuen zu unterstützen, sich in einer unübersichtlich gewordenen Welt zurechtzufinden und die eigene Biografie weiterzuentwickeln (vgl. ebd.)
Aufbau und Inhalt
Das erste Kapitel führt in die Theorie des Karrierecoachings und der Potenzialorientierung ein. Berufliche Übergänge werden mit Bezug auf psychologische Erklärungsansätze als Aufgaben der Entwicklung der eigenen Identität begriffen. Diese kulminiert in den Fragen: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Berufliche Orientierung wird dabei als „Kulturtechnik“ und als „Grundrecht“ (vgl. S. 17) verstanden. D. h., dass in einer sich rasant wandelnden Arbeitswelt jede und jeder über Fähigkeiten zum Umgang mit diesem Wandel verfügen sollte. Das Grundgesetz garantiert das Grundrecht auf freie Berufswahl. Um aber dieses Recht praktisch wahrnehmen zu können, müssen entsprechende Kulturtechniken beherrscht werden. Hier kann Coaching fördern und unterstützen. Es kann „bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben behilflich sein“ (S. 22 f.) Karrierecoaching sollte dabei nicht exklusiv verstanden werden, sondern als „gesellschaftliche Aufgabe“ (S. 23). Ziel ist die Herstellung oder Erhaltung von „Beschäftigungsfähigkeit“ (S. 24), nicht nur als Marktwert verstanden, sondern „als psychologischen Begriff, als Disposition oder Eigenschaft“ (S. 25).
Beschäftigungsfähigkeit als „psychologisches Konzept“ (ebd.) wird mit Bezug auf verschiedene Autoren und Aspekte erörtert. Es geht um ein „tätiges Auseinandersetzen mit der eigenen Zukunft“ (S. 26), das persönliche Anpassungsfähigkeit, Laufbahnidentität sowie Sozial- und Humankapital umfasst (vgl. S. 27). Beratung kann diese Auseinandersetzung fördern und zu „Optimismus, Proaktivität, Lernbereitschaft, Offenheit gegenüber Veränderungen, (…)“ (S. 29) beitragen. Im Zentrum dieses Prozesses steht die Auseinandersetzung mit Kompetenzen und Potenzialen. Da es im Allgemeinen leichter zu fallen scheint, Fehler und Defizite zu erkennen, erfordert es weit mehr Aufwand und ein „langsames Denken“, um Kompetenzen, Potenziale und Ressourcen herauszuarbeiten (vgl. S. 35). Um dies zu realisieren stellt sich zunächst die Frage, was überhaupt Kompetenzen sind und wie sie entwickelt werden können?
An einige Überlegungen zum Kompetenzbegriff in der Psychologie schließt sich ein erster Versuch einer Kompetenzdefinition an. Der Kompetenzbegriff gibt u.a. die Möglichkeit „Hypothesen über die Potenziale von Menschen aufzustellen“ (S. 39). Kompetenzen können als „Selbstorganisierungsdispositionen“ (ebd.) verstanden werden sowie als „notwendige Voraussetzungen, um komplexe Anforderungen zu bewältigen“ (ebd.). Entscheidend ist die Unterscheidung von Kompetenz und Performanz, also des beobachtbaren Verhaltens und der dahinter stehenden Kompetenz. Das vom Autor entwickelte SKATE-Modell beschreibt Kompetenz als ein Produkt aus folgenden Faktoren
S – Skills – Fähigkeiten
K – Knowledge – Wissensbestandteilen
A – Ambition – Motivation
T – Talent – eben Talent
E – Experience – Erfahrung (vgl. S. 40)
In diesem Modell sieht der Autor die Grundlage für die Weiterentwicklung einzelner Komponenten von Kompetenzen. Diese klassifiziert er in bekannter Weise nach Fachkompetenzen, methodischen Kompetenzen, sozialen und personalen Kompetenzen (vgl. S. 43 f.).
Die Methode der Kompetenzbilanz wurde seit 2005 umfangreich evaluiert. Neben einer hohen Zufriedenheit der Teilnehmer:innen konnten eine gesteigerte Aktivität und Gestaltungsfähigkeit im Umgang mit Problemen, eine gesteigerte Selbstwirksamkeit sowie verbesserte Fähigkeiten zur Stressverarbeitung nachgewiesen werden. Weitere Studien zur Wirksamkeit der Kompetenzbilanz sind nachzulesen unter www.kompetenzbilanz.de. Als Gründe für die Wirksamkeit der Kompetenzbilanz werden vier Schritte genannt, die im Coaching vollzogen werden: das Erleben – die emotionale Aktivierung verstanden als persönliches Involviertsein, das Erkennen – Übernahme von Eigenverantwortung, das Wollen – Befähigung zur selbstständigen Umsetzung und zuletzt das Machen – die Problembewältigung und Selbstwirksamkeitserwartung (S. 54 ff.). Diese Wirkprinzipien sind Grundlage der im folgenden Kapitel ausführlich dargestellten Kompetenzbilanz.
Das zweite Kapitel widmet sich Methode und Prozess der Kompetenzbilanz. Diese vollzieht sich nach der Auftragsklärung in vier Schritten: dem biografischen Arbeiten mit dem Lebensprofil – bezogen auf das Erleben, der Fertigkeitenanalyse – bezogen auf das Erkennen, der Erarbeitung sowie Belegen und Argumentieren von Kompetenzen – bezogen auf das Wollen und zuletzt der Erarbeitung nächster Schritte und Ziele – dem Machen. Nach dem Abschluss des Prozesses erhalten die Coachees eine schriftliche Zusammenfassung, die ebenfalls Bestandteil des Coachings ist.
Die Kompetenzbilanz richtet sich an Personen zwischen 24 und 65 Jahren und umfasst neben einem Einführungsgespräch drei Coaching-Sessions von jeweils zwei Stunden in nicht allzu langen Abständen (vgl. S. 60). Zur eigenständigen Reflexion und Vertiefung gibt es „Hausaufgaben“. Ziel sind berufliche und persönliche Selbstreflexion und Selbsterkenntnis, nicht zwangsläufig der nächste Job. Im Kennlern- und Auftragsklärungsgespräch werden die einzelnen Schritte besprochen, Arbeitsmaterialien ausgehändigt und die Aufgabe zum nächsten Termin besprochen: auf einem großen Plakat ein sogenanntes Lebensprofil anzufertigen. Auf diesem wird die bisherige Biografie dargestellt. Damit sollen „Leitthemen für den weiteren Prozess festgehalten werden“ (S. 63), wie z.B. besondere Werte. Mit einem Blick auf besonders wichtige berufliche und private Stationen werden im nächsten Gespräch Fertigkeiten herausgearbeitet: Wo bilden sich Cluster? Wie lassen sich aus diesen Clustern Kompetenzen erarbeiten? Es sollten sich acht bis maximal zwölf Kernkompetenzen herauskristallisieren (vgl. S. 64). Der/die Coachee sollte in der Lage sein, diese Kompetenzen argumentativ zu belegen. In der letzten Coaching-Session werden diese Kompetenzargumente noch einmal aufgegriffen und für eine schlüssige Darstellung vertieft. Nun können Ziele und nächste Schritte erarbeitet und in einem Aktionsplan für die nächsten sechs Monate zusammengefasst werden. Diese Ziele müssen nicht karrierebezogen sein, sondern können auch weniger Verantwortung oder private Veränderungen bedeuten. Anhand einer im Nachgang des Coachings überreichten schriftlichen Zusammenfassung können die Coachees den gesamten Prozess noch einmal nachvollziehen. Entscheidend ist, dass die Kompetenzbilanz strukturiert ist, nicht ausufert, Arbeitsmaterialien bereitgestellt werden sowie Selbsterkenntnis und Selbstreflexion im Mittelpunkt stehen.
Das dritte Kapitel untersucht die Rolle der Coaches und zeigt Varianten des Karrierecoachings auf. Der Coach strukturiert den Prozess, seine Haltung sollte von Wertschätzung, Empathie und Authentizität geprägt sein (vgl. S. 165). Das bedeutet vor allem, das Anliegen der Coachees zu verstehen (vgl. S. 167), nicht eigene Annahmen oder Grundsätze in die Person hineinzulegen, aber auch durch kluges Fragen zum Überdenken der Realität anzuregen (vgl. S. 169). Der Ansatz der Kompetenzbilanz lässt sich auf verschiedene Settings und Zielgruppen anwenden: das Karrierecoaching in der Gruppe, Berufsorientierung für Jugendliche, Coaching für Menschen mit Migrationshintergrund, Personalentwicklung oder Standortbestimmung für Teams (vgl. S. 170 ff.)
Das abschließende vierte Kapitel postuliert das „Ende der Berufe“ (184). Es geht davon aus, dass das Konzept vom Beruf fürs Leben ausgedient hat (vgl. ebd.). Der berufliche Wandel und der Wandel der Arbeitswelt begleiten uns seit Jahren und stellen die Individuen vor immer neue Anpassungsaufgaben. Damit wird auch die Beschäftigung mit „Ressourcen und deren Nutzbarkeit“ (191) – also den menschlichen Ressourcen – eine individuelle wie gesellschaftliche Aufgabe.
Diskussion
Der Ansatz der Kompetenzbilanz unterscheidet sich von anderen Coachingansätzen, indem das Ziel nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis des Coachings ist. Das Coaching entwickelt keine Strategie zur Umsetzung eines von vornherein feststehenden Ziels des Coachees, sondern es verhilft ihm/ihr zu Selbsterkenntnis und Selbstreflexion. Dies könnte ein Ansatz sein, der den Bedürfnissen vieler Ratsuchenden entspricht. Oftmals besteht ein Wunsch nach beruflicher Veränderung, ohne dass Inhalt und Ziel dieser Veränderung bereits feststehen würden. Die Kompetenzbilanz kann dazu beitragen, zunächst Klarheit über die eigenen Interessen, Werte und Kompetenzen zu gewinnen. Jedoch besteht die Gefahr, dass der Prozess der Selbstreflexion nicht in einen konkreten Prozess beruflicher Veränderung übergeleitet wird und das Coaching aus Mangel an beruflichen Alternativen und Entwicklungsmöglichkeiten unbefriedigend bleibt. Letztlich bedarf es für eine vollständige Karriereberatung eben auch einer Umsetzungsstrategie. Diese zu liefern, ist nicht Anliegen des hier entwickelten Karrierecoachings. Dies ließe sich möglicherweise mit anderen Coachingansätzen kombinieren.
Fazit
Das Coaching-Modell der Kompetenzbilanz trägt zur Klärung der Fragen bei: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Es unterstützt Selbsterkenntnis und Selbstreflexion auf dem Weg der Zielfindung bei beruflicher Veränderung. Es handelt sich um einen strukturierten und zeitlich begrenzten Prozess der Identitätsklärung, der ggf. um Fragen der Strategie und Umsetzung beruflicher Ziele erweitert werden sollte.
Rezension von
Dr. Jana Swiderski
Erziehungswissenschaftlerin, Arbeitsvermittlerin, Fallmanagerin und derzeit Berufsberaterin bei der Bundesagentur für Arbeit
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Zitiervorschlag
Jana Swiderski. Rezension vom 05.06.2023 zu:
Claas Triebel: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Potenzialorientiertes Karrierecoaching. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-608-89279-6.
Reihe: Leben lernen - 333. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30471.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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