Dieter Pohl: Nationalsozialistische Verbrechen 1939-1945
Rezensiert von Peter Flick, 20.03.2023
Dieter Pohl: Nationalsozialistische Verbrechen 1939-1945.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
406 Seiten.
ISBN 978-3-608-60020-9.
D: 45,00 EUR,
A: 46,30 EUR.
Reihe: Handbuch der deutschen Geschichte - Band 20.
Thema
Der von Dieter Pohl völlig neu bearbeitete Band 20 des „Gebhard“ zielt über eine isolierte Betrachtung des Mordes am europäischen Judentum hinaus auf ein Gesamtbild der NS-Massenverbrechen im Zeitraum zwischen 1939 bis 1945.
Ein nicht nur nationalgeschichtlicher Zugang macht erst das durch den Krieg beschleunigte Zusammenspiel der unterschiedlichen Gewaltkomplexe in ihrer wechselseitigen Beeinflussung und Steigerung deutlich, die in den europäischen Gesellschaften bis heute ihre Spuren hinterlassen hat.
Autor
Der Autor Dieter Pohl, 1964 in Augsburg geboren, ist Professor für Zeitgeschichte an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Österreich). Der Verfasser eines älteren, inzwischen in dritter Auflage vorliegenden Lehrbuchs zum Thema „Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945“ ist ein anerkannter Experte für die Geschichte des Nationalsozialismus.
Aufbau
Nach den Vorworten der Herausgeber der 10. Auflage des „Gebhardt“, A. Haverkamp, W. Reinhard, J. Kocka und W. Benz, einem Vorwort des Autors zum vorliegenden Band 20 und einem Quellen- und Literaturverzeichnis wird der Text in zwei große Abschnitte untergliedert:
- A. Entwicklung und Verlauf der nationalsozialistischen Verbrechen,
- B. Akteure und Strukturen der nationalsozialistischen Verbrechen.
Zum kursorischer Überblick über Kapitel A:
- § 1 Forschung und Probleme
Die Einleitung (29 f.) unterscheidet verschiedene Typen von „Massenverbrechen“, um dann die Notwendigkeit einer Zusammenschau zu begründen. Weiter wird über die historische Entwicklung der Forschung zum Thema NS-Verbrechen (30 ff.) informiert, über den aktuellen Forschungsstand (34 ff.) und den schwierigen Zugang zu den verstreuten Quellen (37 ff.).
- § 2 Vorgeschichten (43-57)
Zu ihnen gehören die Ausgrenzungsdiskurse und Bevölkerungsutopien, die mit ihren Diskursen über Minderwertigkeit und Bedrohung der völkischen Identität, tief in das bürgerliche 19. Jahrhundert zurückreichen; die Radikalisierung des völkisch-faschistischen.Nationalismus in Deutschland und Europa nach dem Ersten Weltkrieg und eine Darstellung der Endphase der Weimarer Republik.
- § 3 Eine Diktatur der Gewalt 1933–1939 (58-85)
Der Abschnitt „Rahmenbedingungen“ fasst die „Entwicklung vom Rechtsstaat zum Rassenstaat“ als Etablierung eines neuen Gewaltapparats zusammen; sodann die schrittweise Eskalation der politischen und rassistischen Verfolgung auch derjenigen Gruppen, die, wie die Homosexuellen und die Zeugen Jehovas, aus anderen als rassistischen Gründen in den Fokus der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik gerieten. Weitere Schwerpunkte bilden die Zäsur 1937/39 als „Weg in Krieg und Massengewalt“ sowie die folgende „Eskalation der Judenverfolgung 1938/39.“
- § 4 Verbrechen im Deutschen Reich und im deutsch besetzten Europa 1939/41 (86-133)
Der deutsche Krieg in Polen stellt „eine tiefe Zäsur“ dar, denn die im Deutschen Reich erprobte Vernichtungspolitik gegen die genannten Gruppen wird erfolgreich „exportiert“. Mit den „Massenverbrechen in Polen 1939/40“ (86) wird ein Tor zur Vernichtungspolitik geöffnet, denn zum ersten Mal in der neueren europäischen Geschichte ist ein Angriff auf ein Land von Anfang an mit der Ermordung seiner Eliten, einer brachialen Germanisierungspolitik, der Zwangsadoption polnischer Kinder, den Massenmorden an Kranken und Behinderten und dem Massenmord an der jüdischen Bevölkerung verbunden.
- § 5 Vernichtungskrieg in der Sowjetunion (134-171)
Die Konzepte und fast alle Praktiken der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, die sich schon in Polen im Frühjahr 1941 herauskristallisierten, kommen dann gegen die Völker der Sowjetunion erneut zur Anwendung und erreichen dabei eine „neue, man muss wohl sagen: welthistorisch einmalige, Dimensionen“ (134). Mit dem Angriff begann sofort eine systematische Ermordung der jüdischen Minderheit. Aber auch gegen andere Gruppen wurde rigoros vorgegangen: „Man tötete kommunistische Funktionäre und bestimmte Gruppen von Kriegsgefangenen, von denen jeder zweite einer gezielten Hungerpolitik zum Opfer fiel. Schließlich wurden auch die Großstädte in der Ukraine und im westlichen Teil Russlands absichtlich ausgehungert.“ (134). Sicher gab es Elemente einer Kriegsführung und Besatzungspolitik, die es „in ähnlicher Formen auch schon vorher (..), etwa in Kolonialkriegen, teilweise auch im italienischen Äthiopienkrieg oder im japanischen Krieg in China von 1937 “ (135) vorkamen. „Sowohl hinsichtlich der Totalität als auch im Blick auf die Dimensionen der Verbrechen stellte der deutsche Krieg in der Sowjetunion aber alles bisher Dagewesene in den Schatten.“ (135).
- § 6 Der Massenmord an den Juden in Europa (172- 264)
Das Kapitel beschreibt zunächst die Eskalation der deutschen Vernichtungspolitik in der Sowjetunion (einschließlich der von Stalin annektierten Gebiete). Der Weg in die „Endlösung“ begann zunächst als Übergang von „selektiven Tötungen hin zur Auslöschung der jüdischen Gemeinden“ (178) in den sowjetischen Besatzungsgebieten.
Das Kapitel schildert anschließend den Wandel vom „indirekten und selektiven Massenmord – wie etwa das Massensterben in Gettos – zum Ziel der totalen Ausrottung.“ (200). Mit der „zweiten Welle“ der Morde (Raul Hilberg), die sich im September 1941 vor allem gegen jüdische „Kinder und alte Menschen“ (194) richtete, verdichteten sich zugleich die Vorschläge von verschiedenen Seiten in Staat und Partei, die auf die sog. „Endlösung der Judenfrage“ drängten (201), die vollständige Ermordung aller im deutschen Herrschaftsbereich erreichbarer Juden bzw. Menschen, die von den Tätern als Juden angesehen wurden.
Entgegen der landläufigen Meinung ist die Planung der Endlösung nicht das Ergebnis eines einzigen „Entscheidung“, wie der „Wannsee-Konferenz“.(202). Mit ihr war auch die Planung nicht abgeschlossen. Im Juni 1942 zeichneten sich erstmals großangelegte europaweite Deportationsprojekte ab und „die Einrichtung von Vernichtungslagern nach dem Vorbild der Krankenmorde bzw. durch den Umbau von Konzentrationslagern.“ (265). Das Mordprogramm sollte nach den Vorstellungen der NS-Führung innerhalb eines Jahres alle europäische Juden erfassen. Zwei Unterkapitel („Der Mord an den Juden in Polen“, „Auschwitz: Deportation aus ganz Europa“) schildern die Umsetzung dieser Pläne, die am Ende 5.6 bis 5,8 Millionen Menschen das Leben kosten sollten und für die Überlebenden dauerhafte körperliche und seelische Schäden.
- § 7 Die Verbrechen an den europäischen Sinti und Roma
Die Verbrechen an den Sinti und Roma zeigen Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Mord an den Juden, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Der weit verbreitete „Antiziganismus“ war überall im deutschen Besatzungsgebiet vorherrschend. Seit Ende 1941 wurden „Zigeuner“ als „rassisch“ minderwertig verfolgt, nach neueren Forschungen sind in Mordaktionen „200 000 Menschen“ zum Opfer gefallen. (275).
- § 8 Besatzungsverbrechen 1942 - 1945, § 9 Radikalisierung im Reich 1942–1945, § 10 Verbrechen der Rückzugs und Endphase
Diese Kapitel enthalten wenig Lichtblicke, denn auch in der Phase des Rückzugs kann das NS-Regime und seine Verbündeten unverändert weiter an megalomanen Deportationsprojekten und der Verschleppung von osteuropäischen Kindern arbeiten; die verbündeten Achsenstaaten verfolgten derweil ihre eigenen mörderischen Großraumkonzepte für ein „Groß-Rumänien“ und ein „Groß-Kroatien“ und selbst die finnische Regierung, „träumte eine Zeitlang von der Einrichtung eines >Groß-Finnlands< in Ostkarelien mit ethnischer Selektion und Internierungen.“(279).
Kapitel B mit seiner Darstellung von „Akteuren und Strukturen der nationalsozialistischen Verbrechen“ verzichtet auch hier auf narrative Elemente und beschränkt sich auf die Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse zu den folgenden Themen:
- § 11 Die Opfer vor Verfolgung und Massenmord (308-325)
Es geht in dem ersten Unterkapitel zunächst um die unterschiedlichen Formen von Gewalt, denen die Gruppen der Verfolgten ausgesetzt waren: von der gesellschaftlichen Isolation, Berufsverbot und Beraubung angefangen bis hin zum Hunger als der zentralen Erfahrung der politisch und rassisch Verfolgten (310), wobei die Hungerpolitik auch der Stadtbevölkerung in der Sowjetunion und anderen besetzten Gebieten getroffen hat. Ein „exzeptionelle Art“ von Gewalt herrschte in den Lagern. (312). Die Folgekapitel behandeln die Situation der „Juden unter Verfolgung“ (314) und der „anderen Gruppen“ (322), der Sinti und Roma, der Psychiatriepatienten, der Kriegsgefangenen und der nichtjüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten..
- § 12 Die Täter (326-343)
Die Kerntätergruppen von SS und Polizei sind hoch motivierte und ausgeprägte Antisemiten im Alter zwischen 30 und 45 Jahre alt sind. Sie gehören zur Kriegsjugendgeneration, die im Ersten Weltkrieg aufgewachsen ist, die schon vor 1933 eine Affinität zum Nationalsozialismus hatten und in den staatlichen Institutionen, insbesondere in der Verwaltung und Polizei und im militärischen Teil der SS und der Wehrmacht Karriere machten. Eine Sonderrolle spielten die medialen Berichterstatter als Propagandisten des Terrors, die am Medizinmord beteiligte Ärzteschaft und die deutsche Justiz, die politische Urteile und Todesstrafen verhängte.
- § 13 Das Umfeld (344-356)
In fast allen Staaten im Machtbereich des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten kollaborierten Regierungen und Teile der Bevölkerung bei den deutschen Massenverbrechen. Nur in Griechenland und Dänemark existierten wirksame, von den (Exil-)Regierungen unterstützte Hilfsnetzwerke im Untergrund, nur in Albanien und Finnland gab es nahezu keine Judenverfolgung.
- § 14 Histiographische Interpretationen nationalsozialistischer Gewalt (357-364)
In einem Überblick werden die sich verändernden Perspektiven der NS-Forschung auf das Thema und die sich daran anschließenden wissenschaftlichen Kontroversen zum NS-System dargestellt: die Diskussion über die lange vernachlässigten Krankenmorden bis hin zu den umstrittenen Konzepten der „Gewalträume“ in den multiethnischen Grenzgebieten der ehemaligen Kolonialimperien
Inhalt
Der Prozesscharakter der nationalsozialistischer Massengewalt zeigt sich für den Autor in seinen verschiedenen Stufen der Radikalisierung. Weder die „Vorgeschichten“ noch die Aushöhlung des Rechtsstaates und der rassistischen Aufladung von Politik und Gesellschaft in der Endphase der Weimarer Republik sollen dabei suggerieren, dass Hitlers Machtantritt unvermeidlich war. Entscheidend bleibt die Zäsur 1933, weil durch sie ein professionalisierter rassistischer und politischer „Verfolgungsapparat“ aufgebaut werden konnte, der jederzeit bereit war, „die Gewalt nach außen zu tragen.“(86).
Die „fundamentale Zäsur“ der NS-Gewaltgeschichte und ihrer „Enthemmung“ ist für Pohl das Jahr 1939, der Angriffskrieg auf Polen. Mit dem Krieg wird Polen zum Experimentierfeld für die Politik des Massenmordes. Es ist das „Vorspiel zum beginnenden Vernichtungskrieg“ gegen die Völker der Sowjetunion (92). Dass dabei von einer souveränen Steuerung der Verbrechen durch Hitler und eine kleine Elite nicht die Rede sein kann, ist keine neue Erkenntnis (E. Jäckel u.a., Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, 1985). In jeder Phase seiner Expansion konnte sich das NS-Regime auf einen hohen antisemitischen Konsens nicht nur unter den Anhängern des Nationalsozialismus stützen, sondern auch in den Gesellschaften der verbündeten Staaten, selbst der besetzten Gebiete. Neben Tätern und Opfern gab es schließlich die „Zuschauer“(Raul Hilberg). Das waren die vielen, die bereit waren, die Massenverbrechen hinzunehmen, nicht zuletzt auch die gut informierte freie Welt.
Diskussion
Was die Vergleiche der nationalsozialistischen Gewalt mit anderen Gewaltsystemen angeht, beharrt Pohl auf einer Differenzierung zwischen „universellen Typen von Massenverbrechen“, die es in der Geschichte immer wieder gegeben hat, wie etwa die Aushungerung der Zivilbevölkerung oder gewalttätige Formen der Widerstandsbekämpfung, und den singulären Formen der NS-Gewalt, wie etwa die rassistisch motivierten Morde an jüdischen Rotarmisten, die in deutsche Gefangenschaft gerieten, sowie die präzedenzlosen Formen der Gewaltausübung gegenüber dem europäischen Judentum. Die weiterhin herausgehobene Stellung des Themas begründet sich nicht nur mit der Opferzahl, sondern dem Rigorismus eines rassistischen Vernichtungsdenkens, das mit der Auslöschung des Judentums die Lösung aller Weltprobleme verbindet. Nur schade, dass die Kontroverse um den Zusammenhang von Kolonialismus und Holocaust in das im Juni 2021 abgeschlossene Manuskript keinen Eingang mehr gefunden hat.
Fazit
Der Autor hat eine präzise und übersichtliche Zusammenfassung des Forschungsstands zu den NS-Massenverbrechen vorgelegt. Das Buch spricht dabei auch offene Fragen und Kontroversen an. Sie betreffen insbesondere die notwendige Überwindung der Diskrepanzen der Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 20.03.2023 zu:
Dieter Pohl: Nationalsozialistische Verbrechen 1939-1945. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-608-60020-9.
Reihe: Handbuch der deutschen Geschichte - Band 20.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30482.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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