Sigrun von Hasseln-Grindel: Praxishandbuch sexualisierte Gewalt gegen Kinder
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 17.04.2023

Sigrun von Hasseln-Grindel: Praxishandbuch sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Der Jugendschutzprozess vom Erstverdacht bis zum Strafurteil, Opferentschädigung und Opferprävention. Richard Boorberg Verlag (Stuttgart) 2022. 557 Seiten. ISBN 978-3-415-07051-6.
Thema
Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder sind für alle beteiligten Fachkräfte der unterschiedlichen Professionen nicht einfach. Umso schwieriger wird es, wenn dann auch noch Unverständnis für eine*n jeweils andere*n Beteiligten aufkommt, weil dessen/​deren Handlung nicht nachvollziehbar erscheint.
Dieses Spannungsfeld zwischen den jugendhilferechtlichen Maßnahmen zum Kinderschutz durch das Jugendamt einerseits und durch das Familiengericht andererseits sowie zur polizeilichen/​staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsarbeit als weiterer Komponente und dem abschließenden Strafprozess wird anschaulich dargestellt und anhand eines Fallbeispiels, auf das immer wieder eingegangen wird, erläutert. Die vorliegende Thematik wird so durch ein interdisziplinäres Zusammenspiel der einzelnen Kapitel intensiv von allen beteiligten Seiten betrachtet.
AutorIn oder HerausgeberIn
Die Herausgeberin Sigrun von Hasseln-Grindel bringt ihre über 40-jährige Erfahrung als Richterin und Staatsanwältin aus fast jeder Perspektive von Kinder- und Jugendschutzverfahren ein. Sie war u.a. langjährige Vorsitzende der Arbeitsgruppe Jugendschutz des Landespräventionsrates Sicherheitsoffensive Brandenburg.
In dem Autorenteam haben sich anerkannte Spezialisten zusammengefunden, die sich meist bereits seit Jahrzehnten mit der Materie intensiv beruflich beschäftigen, sei es als Vorsitzende Richterin einer Jugendschutzkammer oder als Präsidentin eines Landessozialgerichts, als Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, als Kriminalhauptkommissarin, als Sozialpädagogin, als Professor für Rechtspsychologie, als Sozialwissenschaftlerin, als Senatorin für Justiz, als Professor für Strafrecht und Kriminologie oder als Professorin für Pädagogik. Weitere Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen standen dem Autorenteam zusätzlich mit Rat und Tat zur Seite.
Aufbau und Inhalt
Teil 1 widmet sich dem Thema Der Jugendschutzprozess vom Erstverdacht bis zum Strafurteil, wozu zunächst der Beispielfall vorgestellt wird. Es folgt eine thematische Einführung anhand von Statistiken, Begriffserklärungen und der Darstellung von Formen der Misshandlung und der Vernachlässigung.
Anschließend werden mögliche Fragen, die sich Beteiligte vor einer Strafanzeige stellen, diskutiert: Dazu gehören zum Beispiel die Bereiche mögliche Anzeichen von Gewalt, eine eventuelle Garantenpflicht aber auch der Datenschutz. Es wird danach der Schutzauftrag des Jugendamtes nach § 8a SGB VIII näher betrachtet und damit zusammenhängend dargestellt, wie die Familiengerichte bei Inobhutnahmen involviert werden. Anschließend wird das strafrechtliche Ermittlungsverfahren in Jugendschutzsachen von der Strafanzeige bis zur Anklage beschrieben, bevor es um das Zustandekommen und die Sicherung verwertbarer Zeugenbeweise in Jugendschutzverfahren im Spannungsfeld zwischen Beweissicherungsgebot, Beschleunigungsgrundsatz und Fürsorgepflichten geht.
Der nächste große Abschnitt widmet sich der Frage, wie die Unterstützung durch Sachverständige bei der Wahrheitsfindung im Sexual-Strafverfahren aussieht. Dabei werden zum Beispiel aussagepsychologische Verfahren dargestellt, aber DNA- oder Drogen-Gutachten. Viel Raum nimmt in diesem Teil dann die ausführlich dargestellte und auch erläuterte Anklageschrift im Beispielfall ein. Anhand dieses Falls wird dann zunächst auf das strafgerichtliche Zwischenverfahren in Jugendschutzsachen von der Anklageerhebung bis zum Eröffnungsbeschluss eingegangen, bevor es zum Kern des Strafverfahrens geht: das Hauptverfahren.
Teil 2 des Buches beschäftigt sich mit der Opferentschädigung. Dazu gibt die Autorin zunächst einen grundlegenden Überblick über Möglichkeiten der Opferentschädigung sowie sonstige sozialrechtliche Leistungen für Opfer von Misshandlung und sexueller Gewalt, bevor sie auf zivilrechtliche Entschädigungsansprüche bei sexuellem Missbrauch in Institutionen und vorhandene Hilfefonds eingeht.
Den Abschluss bildet der dritte Teil zum Thema „Nachhaltige Opferprävention zur Verhinderung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder“, der sich zunächst mit dem rasanten Wachstumtum bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder in zunehmend barbarischen Formen als Herausforderung der globalen Zivilgesellschaft und Impulse für ihre Eindämmung auseinandersetzt und anschließend die Notwendigkeit einer pandemischen Perspektive beleuchtet. Im weiteren Verlauf geht es dann um die Prävention sexueller Traumatisierungen, den sexuelle Missbrauch in Institutionen, seine institutionellen Entstehungsbedingungen und Prävention.
Es folgen Unterkapitel über Opferprävention durch Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII sowie wirksame Opfer- und Rückfallprävention aus Sicht der Polizei durch regionales Networking, Prävention durch Erleichterungen im Alltag und nachhaltige Prävention durch das multifaktorielle Konzept Human Law/Globale Rechtspädagogik zur Beschränkung gesamtgesellschaftlicher Zerfallsprozesse. Den Abschluss bildet dann eine Diskussion über Opferprävention als normierte Aufgabe des Staates mit Verfassungsrang zur Wiederherstellung der Menschenwürde des missbrauchten Kindes aus Sicht der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK).
Nur ein kleiner Teil von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch wird bekannt und erkannt. Nur in wenigen Fällen kann durch Bekanntwerden und durch Hilfsmaßnahmen den betroffenen Kindern geholfen werden, weil es an Kenntnissen fehlt und Anzeichen für Kindesmissbrauch und Kindesvernachlässigung nicht erkannt werden. Die Folge ist, dass derartige Übergriffe sozusagen sehenden Auges hingenommen werden, sei es aus Gleichgültigkeit oder sei es aus Unwissen, wo und wie man Hilfe erfahren kann. Hier setzt das Praxishandbuch an, indem es im ersten Teil u.a. Begriffe klärt und damit deutlich macht, was unter Kindesmisshandlung zu verstehen und einzuordnen ist.
Es folgen Ausführungen darüber, welches die ersten Anzeichen des Verdachts sexuellen Missbrauchs bei Kindern sein können, an wen sich geschädigte Kinder und Jugendliche wenden können und welche Aufgaben in diesem Zusammenhang das Jugendamt hat. Dann wird aufgezeigt, welche sozialrechtlichen und familienrechtlichen Entscheidungen in Verbindung mit der Inobhutnahme wegen Kindeswohlgefährdung durch das Jugendamt herbeizuführen sind.
Durchgängig durch alle Kapitel zieht sich der Musterfall, der die vielen Abschnitte eines komplexen Jugendschutzverfahrens einschließlich zahlreicher Musterdokumente und des Protokolls der strafgerichtlichen Hauptverhandlung anschaulich widerspiegelt. Besonders wertvoll sind die Hinweise in Teil 2 zur Möglichkeit von Opferentschädigungen und schließlich in Teil 3, in dem die Bewusstseinsbildung und Opferprävention zur Verhinderung von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch im Einzelnen gut verständlich aufbereitet werden.
Zu dem Buch gehört eine große Palette an Zusatzmaterialien, die sich über die Homepage des Verlages abrufen lassen. Darunter finden sich zum Beispiel Beschlüsse des Bundesgerichtshofes, die zur Thematik des Buches passen, aber auch das komplette Urteil zum Musterfall aus dem Buch.
Diskussion
Titel aus dem Boorberg-Verlag sind in den Bücherschränken von Sozialarbeiter*innen wahrscheinlich eher selten zu finden, da der Verlag vor allem strafrechtliche, strafprozessuale und polizeirechtliche sowie andere Literatur mit juristischem Schwerpunkt vertreibt. Insofern stehen diese Aspekte auch in diesem Titel im Mittelpunkt, was aber die Bedeutung und den Erkenntnisgewinn für Fachkräfte der Sozialen Arbeit zu keinem Zeitpunkt schmälert – eher im Gegenteil.
Die nüchterne und an Fakten orientierte Sprache, wie sie im juristischen Kontext üblich (und sicher auch notwendig) ist, mag Sozialarbeiter*innen erst einmal verwirren. Aber darüber gelingt ein Zugang zum Thema, der sich von der Emotionalität und dem in solchen Fällen im Kinderschutz häufig vorkommenden Aktionismus abhebt und neue Perspektiven eröffnet.
Aus eigener Erfahrung weiß der Rezensent, dass es in Fällen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder immer wieder zu Reibungen zwischen den Fachkräften des Jugendamtes und den Ermittlungsbehörden kommen kann – gegenseitiges Unverständnis über das Vorgehen spielt hier eine Rolle. Da im vorliegenden Titel aber beide Seiten beleuchtet werden, ist das ein guter Schritt, solche Missverständnisse zu verhindern.
Dass sich beim Lesen und Durcharbeiten weder Sozialarbeiter*innen noch Polizist*innen langweilen, gelingt durch den dargestellten Fall, der den roten Faden des Buches liefert. Vom ersten Verdacht bis zum abschließenden Urteil wird immer wieder an diesen Musterfall angeknüpft – einschließlich vieler Musterdokumente und des Protokolls der strafgerichtlichen Hauptverhandlung. So ist zu jedem Zeitpunkt ein Theorie-Praxis-Transfer gesichert, der den individuellen Horizont des/der Leser*in fortlaufend erweitert: Warum handelt die Polizei an dieser Stelle so? Warum muss eine Verhandlung diesen Rahmen haben?
In einer fachlich klaren, aber immer verständlichen Sprache ist so ein Fachbuch entstanden, dass professionsübergreifend viel Wissen – und damit eben auch Verständnis für die jeweils anderen Seiten – vermittelt. Die an den Fakten orientierte Sprache der Jurist*innen dürfte bisweilen für Erschrecken bei den sozialpädagogischen Fachkräften sorgen, die aus der Erfahrung des Rezensenten heraus oft Probleme damit haben, gerade bei sexualisierter Gewalt klar zu benennen, was wie passiert ist.
Die Praxisorientierung des Buches zeigt sich daran, dass eben nicht nur der Weg der Strafverfolgung im vorliegenden Fall nachgezeichnet wird, sondern auch familiengerichtliche Maßnahmen sowie Prävention und auch Opferentschädigung thematisiert werden. Die zahlreichen Materialien im Buch als auch in einem breit aufgestellten Online-Fundus runden das Erscheinungsbild ab.
Wer dieses Buch für die Praxis liest, für den wird es sich lohnen: Sei es, um einen grundlegenden Überblick zu gewinnen oder um Antworten auf ganz konkrete Fragen zu bekommen, die sich bei der Beschäftigung mit dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder stellen. Und so kann den Eingangsworten des Klappentextes uneingeschränkt zugestimmt werden: „Das Handbuch ist ein Gewinn für all diejenigen, die mit Kindern im Zusammenhang mit Kinderschutz, eventuellem Missbrauch oder Vernachlässigung zu tun haben, um den betroffenen Kindern so gut und so schnell wie möglich zu helfen“.
Fazit
Dieses Buch ist – wenn auch grundsätzlich eher juristisch-strafrechtlich orientiert – allen Fachkräften, die mit sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige zu tun haben, uneingeschränkt zu empfehlen. Die Orientierung an einem konkreten Fall sorgt für eine immer auf die eigene Praxis zu übertragene Rahmung, dazu kommt ein großes Repertoire an Zusatzmaterialien über einen Online-Zugang. Der Blick über den sozialpädagogischen Tellerrand dürfte auch für langjährig erfahrene Fachkräfte ein Gewinn sein.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Mailformular
Es gibt 21 Rezensionen von Wolfgang Schneider.
Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 17.04.2023 zu:
Sigrun von Hasseln-Grindel: Praxishandbuch sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Der Jugendschutzprozess vom Erstverdacht bis zum Strafurteil, Opferentschädigung und Opferprävention. Richard Boorberg Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-415-07051-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30489.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.