Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 62 (2022)
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.03.2025

Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 62 (2022). Sozialgeschichte der Bildung.
Verlag J.H.W.Dietz
(Bonn) 2023.
600 Seiten.
ISBN 978-3-8012-4290-9.
68,00 EUR.
Reihe: Archiv für Sozialgeschichte - 62.
Bildung ist keine Ware, sondern humaner Wert
Über Bildung, Paideia (παιδεία, institutio) nachdenken, als tugendhafte, ganzheitliche, ethische Haltung, ist Grundlage des Menschseins, seit es Menschen gibt: „Ein Gebildeter ist imstande, etwas gut zu beurteilen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die sachliche Richtigkeit, sondern auch darauf, wieviel Genauigkeit bei der Untersuchung eines bestimmten Themas möglich ist“ (R.Geiger, in: Otfried Höffe, Hrsg., Aritoteles-Lexikon, 2005, S. 422).
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Bildung ist eine intellektuelle und ökonomische Ressource. Empathie, Emanzipation, Partizipation, Solidarität, Menschenrechtlichkeit. Demokratie und Aufklärung sind Grundlagen eines Bildungsverständnisses. Bildung ist ein lebenslanger Prozess. Die lokalen und globalen gesellschaftlichen Veränderungs- und Wandlungsprozesse erfordern, die Bildungsansprüche und -herausforderungen immer wieder neu zu bedenken. Im Institut für Sozialgeschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung legen Claudia Gatzka, Kirsten Heinsohn, Thomas Kroll, Anja Kruke, Philipp Kufferath (geschäftsführend), Friedrich Lenger, Ute Planert, Dietmar Süß und Meik Woyke die umfangreiche, aktuelle Bestandsaufnahme vor.
Aufbau und Inhalt
Die Studie wird in zwei Bereiche gegliedert: „Rahmenthema Sozialgeschichte der Bildung“ und „Forschungsberichte und Sammelrezensionen“.
Der Hallenser Historiker Till Kössler führt mit dem Beitrag „Sozialgeschichte der Bildung in der Erweiterung“ in den Sammelband ein. Er thematisiert die neueren bildungsgeschichtlichen Forschungsergebnisse und weist sie als „zentrale Dimension(en) kultureller (Wissens-)Ordnungen, sozialer Lebenswelten und gesellschaftspolitischen Handelns“ aus. Bildung und Erziehung sind übergreifende, ganzheitliche, humane Anforderungen.
Der Historiker Gerhard Kluchert formuliert mit dem Beitrag „Bildungsaufstieg zwischen Struktur und Prozess“ neuere Ansätze der historischen Bildungsforschung. Es sind faktische und Sollens-Entwicklungen, die in der Biografie-Forschung (Pierre Bourdieu) zum Ausdruck kommen.
Der Geschichtswissenschaftler von der Budapester Eötvös Lorand-Universität, Márkus Keller und der Erziehungswissenschaftler János Ugrai informieren mit dem Beitrag „Bildungsreform, Autonomie, Kirchen und Professionalisierung über die professionelle Autonomie der Lehrer höherer Schulen in Ungarn im 19. Jahrhundert. Es sind Fingerzeige, wie bildungspolitische Reformen heute gehandhabt bzw. vermieden werden sollten.
Der uigurische Anthropologe Saimaiti Maimaiting (Mentimin Semet) von der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina, thematisiert mit dem englischsprachigen Beitrag „‘Study Abroad‘ in the Long 19th Century“ globale Fragen der Modernisierung, der Auseinandersetzung mit gewaltsamen, kriegerischen Konflikten in der höheren und Hochschulbildung im Osmanischen Reich, China und Japan.
Daniel Gerster von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte unternimmt mit dem Beitrag „Charakterbildung: Ein bürgerliches Konzept sozialer Distinktion und seine ambivalente Geschichte“ einen deutsch-britischen Vergleich.
Der Politikwissenschaftler Thomas Adam, University of Arkansas, informiert mit dem Beitrag „Bildungsgebühren und Stipendien“ über selektive Auslese von Studierenden in Deutschland und den USA im 19. Und 20. Jahrhundert. Er zeigt Hürden und Möglichkeiten auf und verdeutlicht Probleme und Chancen bei der „strukturellen Zusammensetzung künftiger Bildungseliten“.
Der Doktorand von der Universität Freiburg, Pierre Schmuck, forscht über „Politische Bildung und Weimarer Republik“, indem er über die „Reichszentrale für Heimatdienst und Volkshochschulen im Land Thüringen 1919 – 1933“ berichtet. Es sind „Wegmarken“ für historische und aktuelle Entwicklungen.
Die Sozialwissenschaftlerin Lisbeth Matzer von der LMU München und die österreichische Bibliothekarin und Archivarin Anja Grabuschnig informieren mit „Ungleichheit und Bildung“ über sozialen Aufstieg als Auftrag und Versprechen der Erwachsenenbildung am Beispiel der Steiermark (1945 – 1990). Es sind Marker für die (allenthalben und allenorts) vernachlässigte Erwachsenenbildung).
Andrea De Vicenti, Norbert Grube und Andreas Hoffmann-Ocon, alle von der Pädagogischen Hochschule Zürich, legen mit dem Beitrag „Lehrer*innenbildung und soziale Bewegungen in Zürich“ eine Studie über „Wissensverflechtungen, Alltag und Konflikten 1950 -1980“ vor. Diskussionen, Kooperationen und Vernetzungen tragen dazu bei, dass „Drinnen“ und „Draußen“ zum Gemeinsamen werden.
Stefanie Coché, Sophia Egbert und Stephan Monissen von der Universität Gießen (und der Gerda Henkel Stiftung) setzen sich mit „Evangelikale(n) Hochschulen in den USA“ auseinander. Sie informieren über die Entstehung und diskutieren Fragen der Innovation und Integration und über die Festlegung von wissenschaftlichen Standards an religiös-konservativen Colleges und Universitäten.
Die Göttinger Doktorandin und Stipendiatin der FES, Sandra Funk, reflektiert „Bildungspolitik ‚von unten‘?“. Sie zeigt auf, wie in den 1960er und 1970er Jahren sich Schüler*innen als bildungspolitische Akteure präsentierten, und welche Lehren und Impulse sich für Heute daraus erge(ä)ben.
Die Sozialwissenschaftlerin von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Sandra Wenk, führt mit dem Beitrag „Die Bildung der Anderen“ einen Krisendiskurs über die Hauptschule und Hauptschüler*innen in den 1970er und frühen 1980er Jahren. Gegen die angesagte und dokumentierte Entwicklung, dass die schulischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zunehmen (wer z.B. setzt sich von den Gesellschafts- und Bildungspolitikern für die EINE <Gesamt->Schule ein?).
Der Hallenser Philip Wagner fragt: „Egalisierung der Teilhabe?“. Er setzt sich auseinander mit den sozial-liberalen Bildungsreformen und der demokratischen Gesellschaftsgeschichte im Westdeutschland der 1960er- bis 1980er Jahre. „Wie viel soziale Ungleichheit verträgt die Demokratie?“ – eine brisante Frage, die heute notwendiger und dringlicher ist denn je!
Stephanie Zloch von der Philipps-Universität Marburg thematisiert mit dem Beitrag „Von eigenen Wegen zum third space“, wie das Bewusstseinsverständnis der Menschen im Einwanderungsland Deutschland sich entwickelt und verändert hat. Ethnische Schulen und Klassen und muttersprachlicher Unterricht sind keine Hemmnisse zur Integration.
Die Hamburger Bildungsforscherin Sylvia Kesper-Biermann reflektiert mit dem Beitrag „Emanzipation und Integration“ die integrative Bedeutung der deutschen Sprache für Eingewanderte. Sie zeigt auf, wie z.B. Deutschkurse für „Gastarbeiter*innen in den 1970er bis 1990er Jahren organisiert wurden und funktionierten.
Die Göttinger Historikerin Franziska Rehlinghaus fordert mit dem Beitrag „Die ‚Vierte Säule‘ des Bildungssystems und die Logik des Markts“ Impulse und Innovationen zur beruflichen Weiterbildung. Die in den 1970er Jahren vor allem von den Gewerkschaften initiierten institutionalisierten Weiterbildungsmaßnahmen bedürfen heute neuer, gewandelter Herausforderungen.
Benno Nietzel von der Ruhr-Universität Bochum plädiert für „Qualifizierung für die Marktwirtschaft“. Die deutsch-deutsche Transformation erfordert bei der beruflichen Weiterbildung von Berufstätigen in Ostdeutschland arbeitsmarktpolitische Kenntnisse, die eingebunden sind in freiheitliches, lebensweltliches, demokratisches Bewusstsein.
Der Bildungsforscher Rainer Bölling fragt nach „Bildung als Humankapital?“. Er verweist auf die OECD als bildungspolitischen Akteur für internationale Mess- und Vergleichsuntersuchungen (PISA). Verbesserung ist angesagt.
Im Bereich „Forschungsberichte und Sammelrezensionen“ informiert Jakob Schönhagen von der TU Darmstadt über die „Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik“. Er gliedert seinen Text in die Schwerpunkte „Die Zwischenkriegszeit als Urknallmoment der Flüchtlingspolitik“, in die „Nachkriegszeit als ambivalente Vorgeschichte der Gegenwart“ und in das „späte 20. Jahrhundert und Beginn der Abschottung“. Er vermittelt einen umfassenden Überblick über die Diskurs- und Forschungsaktivitäten und verweist auf Defizite und Verbesserungsvorschläge. Die ausgewählten Summaries fügen sich ein in den Schlüsselbegriff der sozialen Bildung, als „Dimension jeglichen sozialen Handelns“.
Diskussion
Dort, wo sich Gemeinschaften zu „Bildungsgesellschaften“ entwickelt haben – und Bildung zum „Humankapital“ geworden ist – öffnet die Sozialgeschichte der Bildung selbstständiges Denken und selbstverantwortendes Tun. Es ist die „Pädagogisierung“ der menschlichen Einstellungen und Verhaltensweisen – als humanes, demokratisches Lebensprinzip – die humane Lebensperspektiven eröffnen. Die exemplarische Betrachtung der Sozialgeschichte der Bildung vermittelt und dokumentiert neuere, theoretische und praktische Bildungsordnungen und -konzepte „als zentrale Dimension kultureller (Wissens.) Ordnungen, sozialer Lebenswelten und gesellschaftspolitischen Handelns“.
Fazit
Bildung ist immer individuellen, kollektiven, kognitiven, emotionalen Wandlungs- und Veränderungsprozessen unterworfen. Die historischen und aktuellen Reformbewegungen agieren und reagieren darauf.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.