Christa Kolodej: Priming - Stärkende Räume entstehen lassen
Rezensiert von Peter Schröder, 04.01.2024

Christa Kolodej: Priming - Stärkende Räume entstehen lassen. Eine Kernkompetenz für Beratung, Verhandlung und Mediation. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2022. ISBN 978-3-658-36330-7.
Thema
Priming ist ein vorbereiteter Reiz, der – unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle – bestimmte neuronale Muster aktiviert, die hilfreicher oder weniger hilfreich für das anvisierte Ziel der Beratung oder Verhandlung ist. Unbewusst wirksame Faktoren sind in der Psychologie, besonders in der Werbepsychologie, vielfach erforscht und thematisiert worden, selten allerdings in dieser 360-Grad-Perspektive, die das vorliegende Buch bietet. Wie wirken die unausgesprochene Haltung eines Beraters/​einer Beraterin, die Lichtverhältnisse im Raum, die Möbel, Farben, Formen, Gerüche etc. auf das Gegenüber? Was ist förderlich, was hinderlich? Was kann welchem Ziel dienen? Welche Zusammenhänge sind mittlerweile solide und seriös erforscht?
Die Fragestellung „Wie wirkt was?“ führt leicht zu einer Sicht, als gäbe es Wirkungen, die unabhängig von den Kontexten sind, in denen die Reize aufgenommen werden. Aber ein Primingimpuls ist kein verdinglichtes Werkzeug, dessen Wirkungen eindeutig vorhersagbar sind. Tatsächlich geht es, darauf weist auch Matthias Varga von Kibéd in seinem Geleitwort hin, darum, mehr oder weniger wahrscheinliche Reaktionen des Gegenübers anzubahnen. Christa Kolodej selbst betont in ihrer Zusammenfassung ebenfalls die Bedeutung unterschiedlicher Kontexte auf die Wirkungen von Primes: „Es ist also zu bedenken, dass Primes in einer Umgebung einen erwünschten Effekt, in einer anderen den gegenteiligen Effekt haben können.“ (S. 166)
Die Autorin
Prof. Dr. Dr. Christa Kolodej M.A. hat Psychologie und Soziologie studiert. Sie arbeitet als Professorin und Dozentin an verschiedenen Universitäten (Graz, Wien u.a.). Sie leitet das Zentrum für Konflikt- und Mobbingberatung „Work & People“ und ist eine Pionierin der österreichischen Mobbingforschung. Kolodej ist u.a. systemische Beraterin und Therapeutin (SySt®), ausgebildete akademische Mediatorin, Organisationsentwicklerin und Coach. Sie verfügt über 25 Jahre Berufserfahrung im Bereich Konfliktmanagement, Mediation und Consulting. Sie zählt zu den PionierInnen der österreichischen Mobbingforschung. Sie ist Professorin und unterrichtet u.a. an der Karl-Franzens-Universität Graz. Unter anderem hat sie auch am Syst®-Institut in München die Ausbildung zu Systemischen Beraterin und Therapeutin absolviert und ist dort auch als Dozentin tätig, unter anderem für das Curriculum „Konfliktberatung und mediative Kommunikation“. (weitere Details hier)
Aufbau und Inhalt
Nach einem Geleitwort von Matthias Varga von Kibéd und dem Vorwort der Autorin ist das erste Kapitel überschrieben mit Priming. Grundlagen des Phänomens. Die Überschriften der einzelnen Abschnitte beschreiben die Inhalte dieses Kapitels: Was ist Priming? (1.1), Wie funktioniert Priming? (1.2), Welche Formen von Priming gibt es? (1.3), Wie wird Priming erforscht? (1.4) und: Warum sollen Priming-Effekte in der Beratung berücksichtigt werden? (1.5).
In den folgenden Kapiteln beschreibt die Autorin die einzelnen Formen von Priming detailliert: das visuelle, das auditive und schriftliche, das kinästhetische, olfaktorische und gustatorische Priming. Jedes einzelne Kapitel enthält zahlreiche Verweise auf die wissenschaftliche Forschungslage sowie diverse Experimente zum Thema und schließt mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis
Das zweite Kapitel ist dem Visuellen Priming gewidmet, mit folgenden Aspekten: Priming durch Umgebungsbedingungen (2.1), Priming durch die Gestaltung des Beratungsraums (2.2), Priming durch Blumen und Naturerfahrungen (2.3), Priming durch Bilder (2.4) und Priming durch Kleidung (2.5). Das dritte Kapitel trägt den Titel „Auditives und schriftliches Priming“. Dass ein Priming durch Sprache erfolgen kann, ist einigermaßen naheliegend und in der Literatur gut beschrieben. Die Schlüsselbegriffe, die als Primingimpulse gesetzt werden, können auch in der schriftlichen Kommunikation genutzt werden: (vgl. Abschnitt 3.1 Priming durch Sprache und Schrift). Dass „Priming durch Musik“ (3.2) funktioniert, belegt unter anderem die Musikberieselung in Einkaufszentren, ist aber in Beratungssituationen – außer in Pausen – kaum einsetzbar. Es sind aber deutliche Unterschiede in der Wirkung von Moll oder Dur, schnellem oder langsamem Tempo festzustellen.
„Kinästhetische Primes“ (Kapitel 4) sind z.B. Priming durch Bewegung (4.1), Priming durch taktile Wahrnehmungen (4.2), Priming durch die Temperaturwahrnehmung (4.3) und Priming durch die Gewichtwahrnehmung (4.4). Dass Körperbewegungen bestimmte Emotionen auslösen, macht sich u.a. das Zürcher Ressourcenmodell oder auch die „Problem-Lösungs-Gymnastik“ von Gunther Schmidt zunutze. Dass ein sogenanntes „Power-Posing“ die Überzeugungskraft steigert, wissen alle Präsentationstrainer/​-innen. Auch die Raumtemperatur hat spezifische Wirkungen, ebenso wie auch z.B. die Möglichkeit, eine entspannte Sitzposition einnehmen zu können.
„Olfaktorisches Priming“ (Kapitel 5) und „Gustatorisches Priming“ (Kapitel 6) runden die VAKOG-Perspektiven der fünf Sinne ab. Im siebten Kapitel, überschrieben mit „Priming in Beratung, Verhandlung und Mediation, Zusammenfassung und Ausblick“ wird auf drei Aspekte fokussiert: auf Der Beratungsort und sein Einfluss (7.1), Beziehungsaufbau und grundlegende Beratungsaspekte (7.2) und Prozessgestaltung (7.3). „Erläuterungen zu den Experimenten“ bilden das achte Kapitel.
Diskussion
Christa Kolodej hat es sich – dankenswerterweise – zur Aufgabe gemacht, die vielen Einzeluntersuchungen zum Thema „Priming“ zu sichten und in einer konsistenten Ordnung zu präsentieren. Dadurch ist es ein sehr instruktives, lehrreiches Buch geworden, bei dem man gleichwohl nicht davon ausgehen darf, dass man es lesen kann und dann über das notwendige (wofür?) Wissen verfügt. Dafür ist es erstens viel zu komplex und zweitens geht es in Sachen Priming nicht in erster Linie um Wissen, sondern letztlich um Können: das Gelesene muss sich in der Praxis bewähren. Deshalb schlägt die Autorin selbst die Brücke vom Wissen in die beraterische Kompetenz: „Priming und insbesondere das Wissen um dessen unbewusste Faktoren stellt eine Kernkompetenz für die Beratung, Verhandlung und Mediation dar.“ (S. 151)
In vielen Bereichen psychosozialer Beratung stellt sich eine Art Machbarkeitssehnsucht ein: Wenn ich X in möglichst perfekter Weise einsetze, erreiche ich das Ergebnis Y mit höchster Wahrscheinlichkeit. So wie der Einsatz von „tools“ eine merkwürdige Art von Kontextunabhängigkeit suggeriert, ist es auch häufig bei „Primes“ der Fall. Gerade weil es bei den Untersuchungen zum Priming um Wirkungsforschung geht, bewegt sich das Thema von vornherein im Kontext kausaler Zusammenhänge, was mit der Idee systemischer Beratung nicht ohne weiteres zusammengeht. Deshalb halte ich für sehr wichtig, was Matthias Varga von Kibéd in seinem einführenden Geleitwort schreibt: „Der Begriff des Primings wird häufig, wie in großen Bereichen der Wissenschaft noch tendenziell üblich, dekontextualisiert und objekthaft betrachtet, bezieht sich aber eigentlich auf graduell abgestufte und oft hochgradig kontextsensitive Prozesse. In diesem Buch erhalten Sie umfangreiche Informationen über verschiedenste Interventionen, die in Richtung auf bestimmte Reaktionen und Tendenzen überraschend starken Einfluss haben. Dabei werden die Interventionen sorgfältig kontextuell differenziert.“ (S. VII) Diese Kontextabhängigkeit betont die Autorin selbst noch einmal am Ende des Buches: „Wichtig ist, dass nicht der Prime selbst, sondern das Konzept, das wir mit diesem verbinden, zu den ausgelösten Effekten führt. Dies impliziert, dass Primes hochgradig kontextuelle Phänomene sind und dementsprechend eingebunden werden müssen.“ (S. 151)
Sie können und sollen aber eingebunden werden in der Beratung, der Mediation und Verhandlung – um der „stärkenden Räume“ willen. Die Überschrift über diese Bereiche heißt letztlich: „Es möge gelingen“: Die Beratung möge förderlich sein für das Anliegen des Klienten oder der Klientin, eine Mediation möge ihre deeskalierende Wirkung entfalten können, eine Verhandlung möge zu einem guten Ziel führen. Dafür ist eine Aufmerksamkeit für die fünf Sinneskanäle wichtig, mit denen Räume wahrgenommen werden: visuell, akustisch, kinästhetisch, olfaktorisch und gustatorisch (VAKOG). Für all diese Bereiche werden die entsprechenden Untersuchungen vorgestellt und der Stand der wissenschaftlichen Forschung referiert. Das bringt viele Literaturhinweise im Text mit sich, was das Lesen für diejenigen, die nicht in erster Linie ein wissenschaftliches, sondern eher ein Interesse an einer kompetenten Praxis haben, vielleicht etwas mühsamer macht. Eine gute Lese- und Verstehenshilfe bieten die jeweiligen Zusammenfassungen am Ende der Kapitel, die die grundlegenden Aussagen des Vorherigen noch einmal auflisten. Man kann die Kapitel also auch von hinten nach vorne lesen. Die wissenschaftliche Redlichkeit zeigt sich unter anderem in den umfangreichen Literaturverzeichnissen zu jedem Kapitel.
Fazit
Wenn das Fazit lautet: „Ein gelungenes Buch“, dann gilt das in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist es gelungen als ein wissenschaftliches Fachbuch, das die Ergebnisse der Forschung zusammenträgt. Zum anderen ist es gelungen als Möglichkeit der Kompetenzerweiterung von Praktikerinnen und Praktikern. Man spürt es in dem Buch, wie auch schon vorher in anderen Publikationen, dass sie auch, aber nicht nur in der akademischen Welt zuhause, sondern ebenfalls mit der beraterischen Praxis verbunden ist. So kann das vorliegende Buch für beide Welten, wenn diese Unterscheidung denn überhaupt einen Sinn hat, ein Gewinn sein.
Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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