Alexander Nicolai Wendt: Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie
Rezensiert von Prof. Dr. Mark Galliker, 17.03.2023

Alexander Nicolai Wendt: Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie.
Verlag Karl Alber
(Freiburg /München) 2022.
350 Seiten.
ISBN 978-3-495-49261-1.
49,00 EUR.
DGAP: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) - Band 11.
Thema
Im Laufe der Zeit hat die Psychologie viel verloren, u.a. die Wahrnehmung wirklicher Phänomene. Im vorliegenden Buch wird das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie untersucht und eine Perspektive für deren Zukunft entwickelt.
Autor
Alexander Nicolai Wendt (geb. 1991) studierte an der Universität Heidelberg Psychologie, Philosophie und Soziologie. 2019 promovierte er bei Joachim Funke und Thomas Fuchs im Fach Psychologie. Von 2017 bis 2020 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut Heidelberg auf dem Gebiet der Theoretischen Psychologie. Wendt ist geschäftsführender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Philosophie und Psychologie.
Entstehungshintergrund
Wendt stellte sich nach seinen (experimental-)psychologischen und (phänomenologisch-)philosophischen Studien die Aufgabe, nach einem Weg zu suchen, beide Bestrebungen zu vereinigen. Bereits mit seiner „Phänomenologische Psychologie“ (Wendt, 2020) sowie in „Wohin steuert die Psychologie?“ (Wendt & Funke, 2022) unternahm er erste Schritte hinsichtlich der vorliegenden Untersuchung.
Aufbau
Im ersten Teil, der mit „Der Ansatz der phänomenologischen Psychologie“ überschrieben ist, wird dieser Bereich der Psychologie mit der psychologischen Phänomenologie der philosophischen Klassiker in einen ebenso fruchtbaren wie kritischen Austausch gebracht. Der zweite Teil ist überschrieben mit „Der Anspruch der Erneuerung“. In sechs Kapiteln werden nach einer Kritik der bestehenden Experimentalpsychologie (Kapitel 6) Wendts wichtigste Gedanken zur Erneuerung der phänomenologisch-psychologischen Forschung in vier zentralen Programmpunkten vorgestellt (Kapitel 7). In den Kapiteln 8 bis 11 werden die vier Programmpunkte anhand von Einzelanalysen näher erörtert.
Inhalt
Beim vorliegenden Werk handelt es sich im Wesentlichen um eine Programmschrift. Nach Wendts eigener Aussage im Vorwort sind die vier Programmpunkte in Kapitel 7 das „Herzstück“ seines Buches (vgl. S. 8).
1. Die radikalphänomenologische Transformation der Psychologie
Der erste Programmpunkt bezieht sich v.a. auf Henrys (1963) radikale Phänomenologie. Die Phänomenologie ist nicht einfach mit anderen Paradigmen (z.B. mit dem Pragmatismus) kompatibel zu machen, könnte sie doch dadurch leicht ihr Profil verlieren, sondern sie sollte „danach streben, die Bedeutung und das Wesen der Erfahrung der Phänomene in ihrer Ursprünglichkeit und lebendigen Fülle zu untersuchen“ (vgl. S. 244). Henry fokussierte die Intentionalität sowie die prä-intentionalen Gegebenheitsweisen. Unität und Dualität wurden einander gegenüberstellt. Beispiel: Mit der Wahrnehmung wird etwas wahrgenommen, das selbst keine Wahrnehmung ist, während mit dem Schmerz nichts anderes gefühlt und empfunden wird als eben nur Schmerz. Im weiterführenden Kapitel 8 zu diesem ersten Programmpunkt wird u.a. anhand der Problemfelder Leistung sowie Pragmatismus und Teleologie auf die Fragwürdigkeit einer Anpassung der phänomenologischen Psychologie an James' (1907) Psychologie hingewiesen.
2. Phänomenologische Geltungstheorie für die Experimentalpsychologie
Nach dem zweiten Punkt im Forschungsprogramm des Autors können psychologische Theorien anhand phänomenologisch erschlossener Zusammenhänge entwickelt werden. Einerseits ist ein Beitrag zum Entdeckungs- und andererseits zum Geltungszusammenhang von phänomenologisch-psychologischen Hypothesen zu leisten. Somit ist „ein metawissenschaftstheoretischer Dialog zwischen Phänomenologie, kritischem Rationalismus und weiteren die Forschung ausrichtenden Denkformen“ erforderlich (vgl. S. 251). Im Kapitel 9 wird u.a. darauf aufmerksam gemacht, dass im Kritischen Rationalismus Poppers (1934/1989) der Entdeckungszusammenhang vernachlässigt wird und eine epistemologische Beschränkung auf die Überprüfung der Hypothesen erfolgt.
3. Realpsychologie als Forschungsart
Mit dem dritten Programmpunkt bezieht sich der Autor v.a. auf Geiger (u.a. 1907; 1921) und dessen „erlebnistranszendenten psychisch-immanenten Realismus“, der als erschlossener psychischer Realismus verstanden wird. „Psychische Realitäten haben ihr eigenes Wesen, und es ist der Psychologie möglich, die Eigenständigkeit dieser Realitäten empirisch in ihrer Erscheinungsweise und Natur zu bestimmen“ (S. 253). Demnach vermag die phänomenologische Psychologie das innewerdende psychische Leben zu thematisieren (vgl. u.a. S. 252). Dem Autor zufolge können hieraus theorie- und hypothesenbildende Beiträge für eine phänomenologische Experimentalpsychologie entstehen (s.u.). Im Kapitel 10 wird nach Überlegungen zu Scheler und Linschoten festgehalten, dass die Realpsychologie als erster Entwurf aufgegriffen werden kann und als beginnende Neubesinnung auf die phänomenologische Psychologie begreifbar ist.
4. Phänomenologische Messtheorie als Methodologie
Mit dem letzten Programmpunkt wird dargelegt, dass eine neue Perspektive der Psychologie und insbesondere der phänomenologischen Psychologie hinsichtlich der Experimentalpsychologie sowie eine Öffnung zu ihren quantitativen Verfahren hin notwendig ist. Geiger (1907) habe aus phänomenologischer Sicht auf interessante Aspekte des Messens hingewiesen. Die Aufgabe stellt sich, 1. einen Zugang zum bestehenden experimentellen Diskurs in der Psychologie zu schaffen und hierfür eine quantitativ-methodische Sprache bereitzustellen, die ein direkter Ausdruck der phänomenologischen Einstellung ist; 2. eine neue Messtheorie zu formulieren, die kompatibel mit dem bestehenden Diskurs ist; und 3. Innovationspotenziale hervorzubringen, die mit den existierenden methodischen Alternativen konkurrenzfähig sind (vgl. S. 256). Im Kapitel 11 wird unter Bezugnahme v.a. auf Husserl der phänomenologische Blick auf das Messen näher untersucht.
Diskussion
Wendt zeigt auf, wie wichtig Geigers erlebnistranszendenter psychisch-immanenter Realismus hinsichtlich eines ursprünglichen sowie erneuerbaren Verständnisses der phänomenologischen Psychologie ist.
Hierzu kann man sich fragen, warum so wenig einfach auf die Erlebnisse (beispielsweise i.S. der Personzentrierten Psychotherapie) wie auf die realen Prozesse, welche dieselben fundieren (u.a. von der Widerspiegelungstheorie angenommen), rekurriert werden kann. Wendt weist indes zu Recht darauf hin, dass die noematischen Aspekte der Erfahrung theoretisch nicht berücksichtigt würden (vgl. S. 251 f.).
Bei einem entsprechenden Verständnis des „Schauens“ von Gedanken- und Bedeutungsstrukturen wird die Subjekt-Objekt-Spaltung (u.a. i.S. von Jaspers) aufgehoben (vgl. S. 200; S. 286). Dass sich das Subjekt dem Objekt gegenüberstellt, ist indessen die Voraussetzung jedes Messvorgangs, setzt dieser doch rein analytisch gesehen Objektivierung voraus.
Aus Alberts (1969) Münchhausen-Trilemma geht hervor, dass zureichende Begründung unmöglich ist. Als Alternative zu jedem „Fundament“ sieht er lediglich die vorwärtsgerichtete Prognose (vgl. ebd., S. 11 ff.). Als Lösung dieses Problems bietet sich der Vorschlag an, gerade auch Phänomene (u.a. neue) vorauszusagen.
Fazit
Wendts großer Verdienst ist es, eine phänomenale Neuinterpretation der Psychologie vorzubereiten, die sich an lebendiger Erfahrung innerpsychisch relevanter Phänomene orientiert. Dabei ist er sich bewusst, dass dieses Unterfangen auf Widerstände stoßen wird, nicht nur methodologische, sondern natürlich auch institutionelle; umso mehr ist ihm zu wünschen, dass seine Arbeit erfolgreich sein wird.
Literatur
Albert, H. (1969). Traktat über kritische Vernunft. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck).
Geiger, M. (1907). Methodologische und experimentelle Beiträge zur Quantitätslehre. Leipzig: Engelmann.
Geiger, M. (1921). Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität. Halle: Niemeyer.
Henry, M. (1963). L'essence de la manifestation. Paris: Presses universitaires de France.
James, W. (1907) Pragmatism. New York: Longmans, Green & Co.
Popper, K. (1934/1989). Logik der Forschung. Tübingen: Mohr.
Wendt, A.N. (2020). Phänomenologische Psychologie. In: G. Mey & K. Mruck (Hrsg.). Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (S. 101–124). Heidelberg: Springer.
Wendt, A.N. & Funke, J. (2022). Wohin steuert die Psychologie? Ein Ausrichtungsversuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Rezension von
Prof. Dr. Mark Galliker
Institut für Psychologie der Universität Bern
Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung, Psychotherapie, Beratung (pca.acp).
Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung (PERSON).
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Zitiervorschlag
Mark Galliker. Rezension vom 17.03.2023 zu:
Alexander Nicolai Wendt: Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. Verlag Karl Alber
(Freiburg /München) 2022.
ISBN 978-3-495-49261-1.
DGAP: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) - Band 11.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30498.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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