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Dirk Oschmann: Der Osten

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 31.03.2023

Cover Dirk Oschmann: Der Osten ISBN 978-3-550-20234-6

Dirk Oschmann: Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung : Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet. Ullstein Buchverlage GmbH (Berlin) 2023. 224 Seiten. ISBN 978-3-550-20234-6. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 22,90 sFr.

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Autor

Dirk Oschmann ist 1967 in Gothe geboren und jetzt Professor für Neuere deutsche Literatur an Universität Leipzig. Eine FAZ-Artikel von ihm stieß auf große und sehr gemischte Resonanz und war u.a. Anlass für dieses Buch.

Entstehungshintergrund

Einer Ostidentität werden Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben, der gegenüber sich der Westen auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall immer noch als ‚Norm‘ definiert und in Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft dominiert. Das Anliegen des Autors ist, eine Debatte anzustoßen.

Aufbau

In neun Kapitel behandelt Oschmann nach einem Vorwort die Anfänge 1989, die Zuschreibungen ‚Osten‘, insbesondere Sachsen, die Doppelmoral und Heuchelei, die Verstörung nach dem FAZ-Artikel und die Rezeption von ostdeutscher Kunst (Literatur und bildende Kuns) und das ‚Jammern‘.

Inhalt

Vorwort.

Das Buch ist die Erweiterung eines Artikels am 4.2.22 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und stellt eine Ergänzung und Präzisierung da: ‚Ost-Identität‘ soll des-identifiziert werden und die Beschädigungen der Demokratie in Deutschland durch die radikalen politischen, wirtschaftlich und sozialen Benachteiligungen des Ostens nach 30 Jahren aufgezeigt werden.

1. Welche Geschichte wollen wir erzählen?

Versucht wird eine ‚Zustandsbeschreibung der Gegenwart‘ unter ‚Rekurs auf diverse Vergangenheiten‘, fokussiert auf das Problemfeld ‚Westen‘ und warum sich im ‚Osten‘ immer mehr Menschen von der Demokratie abwenden. Die Konflikte im Reichtums-, Macht- und Kommunikationsgefälle zwischen Ost und West sind ein Spezialfall der Globalisierung (Nord-Südgefälle in Italien, Stadt-Land-Gefälle in Frankreich). Seit dem Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes gelte die Geschichte der BRD als ‚Normgeschichte‘, auch unter westdeutschen Historikern (Deutungshoheit). Oschmann bezieht sich, obgleich kein Soziologe, auf Pierre Bourdieu, Didier Eribon, Oskar Negt und Steffen Mau: Dass man ‚ganz subjektiv‘ werden muss, um ‚ganz objektiv‘ werden zu können. Es folgen Zitate von abfälligen Politikeräußerungen bis in die Gegenwart. Zu seinem Demokratieverständnis gehört, eine dezidiert andere Perspektive zu entwickeln.

2. Anfänge: Aller guten Dinge sind drei.

Anlässlich einer Einladung 2018 zu einem Vortrag zur Geschichte der Germanistik in der DDR fühlt sich Oschmann überfordert, neutral über diese Dinge zu sprechen. Eine spätere Einladung zu einer Podiumsdiskussion In Halle, bei der u.a. die Frage ist, warum nur wenige Leute aus dem Osten in der Germanistik höhere Qualifikationen anstreben, führt er das auf die fehlenden materiellen Voraussetzungen und Mangel an Zutrauen zurückführt. Eine Einladung 2021 nach Hamburg erlebte er als ‚Festlegung auf ein Thema, warum der Osten die Gesellschaft spaltet‘ und entscheidet sich stattdessen dafür, über den ‚zynischen Diskurs‘ des Westens über den Osten zu sprechen, z.B. in Klischees (Beispiele aus Spiegel-Cover ‚So isser, der Ossi‘ u.a.; ein Plakat zu seinem Vortrag mit den Stereotypen ‚Sachsen. Kommunismus, Rechtsextremismus‘ ). Er weist aber auch darauf hin, dass Frauen den Umbruch 1989 besser bewältigt haben als Männer.

3. Wer oder was ich bin?

Selbstdarstellung als In Ostdeutschland Geborener: Grünen-Wähler, Spiegelleser, Mittelschichtsangehöriger und gleichzeitig Repräsentant (‚Mann/Weiß/Professor der ‚kanonische Texte‘ behandelt) eines problematischen Herrschaftssystems. Als Arbeiterkind aus Thüringen, mit dem Westen als ‚Klassenfeind‘ großgeworden (Beispiele) empfand er 1989 ein neues Lebensgefühl von Freiheit. Jedoch blieben Wünsche nach Teilhabe und Mitgestaltung für viele Ostdeutsche unerfüllt (Arbeitslosigkeit, ‚Rückgabe vor Entschädigung‘ bei Grundbesitz, Absatzmarkt ohne ökonomische Konkurrenz). Es gab keine neue gemeinsame Verfassung und keine neue Hymne.

Kritisch weist er auf den fehlenden Austausch von Eliten nach der NS-Zeit in der BRD hin und auf Begriffe aus der Kolonialzeit für den Osten (z.B. Aufbau Ost; u.a. Kritik am Humboldtforum). Ein für alle Mal ‚Ostdeutscher‘ und damit ‚das Allerletzte‘, eine andauernde Stigmatisierung, Herkunftsbenachteiligung, kein Rede von Gleichstellung (stattdessen eine nach ‚Herkunft organisierte Klassengesellschaft‘), einer verstetigte Ungleichheit auch an den Universitäten, da Qualifikationswege versperrt waren. Dauerhafte Armut, Einkommensunterschiede, besonders seit 1990, benachteiligten speziell junge Männer (Jahrgang 1945–1975) der ersten und zweiten Nachkriegsgeneration in der DDR: ‚Wutbürger, AfD-Wähler‘? Sie haben für die Freiheit gekämpft, wurden entmündigt und waren die ‚eigentlichen Kriegsverlierer‘.

4. Der »Osten«: Zuschreibungsspiele und Essentialisierungen.

Es gibt kein gesamtdeutsches Wissen, keinen gesamtdeutschen öffentlichen Raum und kein gesamtdeutsches Bewusstsein. Der Diskurs des Westens über den Osten sei monolithisch und extrem binär. Alle Probleme werden in den Osten verschoben (Zuschreibungsspiele), trotz Wanderbewegungen und Durchmischungen, oder Differenz zwischen Ost- und Mitteldeutschland. Der Osten gelte als das Unkultivierte, Barbarische mit einem mangelnden Demokratieverständnis, wenn nicht gar Demokratiefeindlichkeit (autoritäre Strukturen?); doch selbst die AfD ist eine Westgründung. Pressefreiheit wird kritisch beurteilt anhand der Lektüre-, Hör-, bzw. Fernseh-Biografie des Autors (wenig Beispiele eines fairen Umgangs mit dem Osten). Denn: Ungleiche Bezahlung, Billigarbeiter (Rumänen, Bulgaren), Vermögensunterschiede sind ungerecht, hinzukommen Stigmatisierung, und Diskriminierung. Nach dem herrschenden Diskurs ist der Osten hässlich, dumm, faul, rassistisch, chauvinistisch, rechtsextremistisch und – arm.

Das alles insbesondere in Bezug auf den Osten des Ostens: Sachsen (Kapitel 5).

Einerseits wegen der Sprache (Sächsisch verächtlich, im Gegensatz zum Bayrisch), oder Dresden wegen Pegida. Stereotype westlichen Denkens: Alle waren bei der Stasi – Alle waren gedopt – Alle sprechen Sächsisch – Alle sind Nazis. Die Erfahrung des Westens, dass man durch Zuwanderung ökonomisch, kulturell und intellektuell reich werden und an Vitalität und Attraktivität gewinnen kann, fehlte dem Osten bis 1989.

6. Doppelmoral und Heuchelei.

Fremdenfeindlichkeit nicht nur im Osten. Der Osten wird einerseits zum Fremden gemacht, andererseits sind die Siege ostdeutscher Sportler in der Gesamtbilanz willkommen.

7. Störung und Verstörung: Reaktionen auf den FAZ-Artikel. 

Es gab kritische, ablehnende Leserbriefe in der FAZ, aber auch Anfeindungen und vor allem keine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, stattdessen Vorwürfe, Zuspitzungen und Verallgemeinerungen. Natürlich gab es Unterschiede wie man je nach Alter auf die Wende 1989 reagierte, aber der generelle Herrschaftsanspruch des Westens wurde nicht infrage gestellt.

8. Kunst im Osten: »Alles Gesinnung!«

Beispiele für Diskriminierung der ‚Palast der Republik‘ und das ‚Berliner Schloß‘. Dann die Löschung oder Herabsetzung von literarischen Texten (Gesinnungsästhetik‘ und ‚Gesinnungskitsch), Kampagnen gegen Christa Wolf, Heiner Müller, Stephan Hermlin, Denunziation von Stefan Heym (durchweg männliche Kritiker) in moralisierenden Texten (weitere Beispiele von Vorurteilen aus Berufungskommissionen) und Löschung des Text- und Bildgedächtnisses: Was nicht gezeigt wird, wird auch nicht bekannt: Beispiele sind Wolfgang Ullrich über rechte Motive bei Künstlern vs. Neo Rauch (Vorwurf ‚Anbräuner‘), Kritiker und Künstler im Ost-West-Konflikt (Vergleich ‚Weiße und Schwarze‘) und angemaßte Deutungshoheit. Zählt die Vieldeutigkeit der Bilder nicht? Neo Rauch bezieht sich auf seine ostdeutsche Erfahrung, an der er auch die Gegenwart misst und wird mit NS-Assoziationen diskreditiert (gleichzeitig findet sich in westdeutschen Museen immer noch ‚Nazikunst‘). Die Unterschiede in der westlichen und östlichen Erfahrung berechtigen nicht zu Entwertungen.

9. Sprechen und Sprecher: »Jammern«.

Sind die Ostdeutschen Jammer-Ossis (Ausdruck von Selbstmitleid)? Oder haben sie keine Öffentlichkeit und müssen sich diese erst erzwingen? ‚Das Sprechen ist das eine Problem, die Sprecher das Andere.‘ Oschmann lässt Merkel und Gauß nicht als Beispiele gelten. Stigmatisierung hat alle betroffen und so wird das Sprechen zu einer Defensive (Illegitim und nicht repräsentativ). Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung hat das Leben der Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen kategorial eine andere Richtung genommen, allerdings ‘in guten wie in bösen Fällen‘. Pathologisch zugespitzte Paradigmen sind: ‚Nationalistisch, reaktionär, kollektiv, minderwertig, kompensatorisch, provinziell und muffig-kleinbürgerlich‘. Differenziertere Darstellung gibt es genug, aber werden sie ernst genommen?

Aggressiv sei nicht seine Sprache, sondern die Zustände, die keine ‚Chancenteilhabechancen‘ ermöglichten trotz Freundschaften, Partnerschaften Kooperationen, und Vermischung auf allen denkbaren Ebenen. Das Sprechen ist das Eine, das Gehört-Werden das Andere. Das ästhetisch Ungewohnte wird als politisch Irrationales und moralisch Defizitäres angegriffen.

Diskussion

Ein für mich schwer lesbares Buch, weil immerzu in das gleiche (oder ein ähnliches) Horn geblasen wird, obgleich der Autor bereits zu Beginn in einem Nebensatz angemerkt hat, dass er im wesentlichen für die DDR-Männer nach 1989 sprich (speziell die Jahrgänge 1945–1975), und auch nicht Benachteiligungen in allen Bereichen sieht, wenn der Anteil der Mitglieder im Bundestag politisch dem Bevölkerungsanteil der östlichen Bundesländer entspricht. Dass es eine einseitige, verzerrte, aber nicht immer falsche Perspektive ist, wird jeder, der überhaupt Kontakt – qua Verwandtschaft, Freundschaft, Umzug, beruflich, privat und aus gemeinsamen Interessen – mit dem ‚Osten‘ hatte, aufgrund eigener Erfahrung bestätigen. Auch dass das Sächsische – auch präsent bei Kontrollen am Übergang Bornholmerstrasse in Berlin – inzwischen durch persönliche oder verwandtschaftliche Begegnungen und Olaf Schubert (!) eine zwar immer noch fremde (wie das Bayrische, Ostfriesische usw.) aber liebenswerte Färbung bekommen hat, obgleich es – vor allem auch in sächsischen Familien – orientiert an dem Fremden Hochdeutsch – lange vor der NS- und DDR-Zeit diskreditiert war. Das lässt eher auf ein fragiles Selbstbewusstsein gegenüber der eigenen Herkunft (wie einem der Schnabel gewachsen ist) schließen, – aus welchen Gründen auch immer.

Das Buch durchzieht ein mit vielen Beispielen teils berechtigter, teils überzogener, teils weit übers Ziel hinaus schiessender (männlicher?) Vorwurfs-Furor in Gestalt von moralischen Geschossen, die sogar das zu vernichten drohen, was am ‚Osten‘ liebenswert und erhaltenswert bis heute unter schwierigen Bedingungen überlebt hat: Heimatverbundenheit, kulturelle Traditionen – In Dresden z.B. mehr gepflegt als in dem experimentierfreudigen multikulturellen Berlin.

Der Globalvorwurf richtet sich gegen den ‚Westen‘, der damit auch zu etwas gemacht wird (Wessis), was er ebenso wenig wie der ‚Osten‘ ist. Wieviele, meist jüngere Leute, beiderlei Geschlechts haben die Chance ergriffen, die ihnen im Westen vor und nach der Wende geboten wurden (z.B. auch der Autor), vor allem aber auch die im ‚Osten‘ bereits emanzipierten Frauen, die sich mit einem gesunden Selbstbewusstsein im Westen beworben haben und – vor allem politisch, aber nicht nur – erfolgreich waren.

Geht es vielleicht immer noch um das ‚Erbe eines Sozialismus‘, der Frauen Emanzipation (Ausbildung, großzügige Unterstützung bei Familiengründung, Kinderbetreuung und Vereinbarung von Familie und Beruf) ermöglicht hat, aber gerade männliche gesunde Abenteuer- und Unternehmungslust beschnitten hat (außer im Sport) und Ressentiment und Hass zurückgelassen hat, Gefühle, die Initiative und den Mut, auch auf niedrigerem Niveau (klein) anzufangen und was aufzubauen, geschwächt haben? Nicht bei allen. Es gibt für mich nicht den ‚Osten‘, denn ich kenne genügend Beispiel von Menschen, die nach Enttäuschungen in der DDR ihre Chancen im Westen wie im Osten gesehen und ergriffen haben.

 Aber es gibt auch die Anderen und die verbünden sich gern mit westlichen, wie z.B. Höcke, die ebenfalls im heimatlichen Gefilde nicht die erhoffte Resonanz gefunden haben. Denn darum geht es in diesem durchaus lesenswerten Buch, zu unterscheiden wo Herz und Verstand sagen, dass nach wie vor Handlungs- und Verbesserungsbedarf besteht – in Ruhrgebiet wie in Teilen des Ostens – und wo wütende Gefühle dem Kopf keine Chance geben zu differenzieren. Man muss die Mischung von Armut, Diskreditierung, Benachteiligung, Zuschreibungen und Vorurteilen in Ost und West zum Thema machen, wo sie relevant sind, z.B. möglicherweise auch im Hochschulbereich insbesondere in den geistwissenschaftlichen Fächern.

Fazit

Ist dieser ‚Osten‘ – 33 Jahre nach 1989 - eine Erfindung des Autors, ebenso wie seine Erfindung des ‚Westens‘? Eine Anregung zu einer lebendigen Diskussion und deshalb trotz der Polarisierungen lesenswert.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
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Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 31.03.2023 zu: Dirk Oschmann: Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung : Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet. Ullstein Buchverlage GmbH (Berlin) 2023. ISBN 978-3-550-20234-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30501.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.


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