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Clemens Fobian, Michael Lindenberg et al.: Jungen als Opfer von sexueller Gewalt

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 26.07.2023

Cover Clemens Fobian, Michael Lindenberg et al.: Jungen als Opfer von sexueller Gewalt ISBN 978-3-8487-7259-9

Clemens Fobian, Michael Lindenberg, Rainer Ulfers: Jungen als Opfer von sexueller Gewalt. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2022. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. 181 Seiten. ISBN 978-3-8487-7259-9. 25,00 EUR.
Reihe: Kompendien der sozialen Arbeit.

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Thema

Die zweite, aktualisierte Auflage des Lehrbuchs will Fachkräfte der Sozialen Arbeit für Jungen als Betroffene sexualisierter Gewalt sensibilisieren und ihre Handlungssicherheit im Umgang mit dieser Zielgruppe verstärken. Das Erleben sexualisierter Gewalt prägt Männer und Frauen unterschiedlich, was sich in ihrem Umgang damit zeigt und zu unterschiedlichen Auswirkungen führen kann. Das Buch zeigt auf, warum Jungen und Männer ein spezielles Beratungsangebot benötigen und wie es konzipiert werden kann.

Autoren

Clemens Fobian und Rainer Ulfers beraten als Sozialpädagogen bei basis-praevent in Hamburg Jungen und Männer, die von sexueller Gewalt betroffen sind. Prof. Dr. Michael Lindenberg lehrt an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg.

Aufbau und Inhalt

Das Arbeitsbuch ist in elf Kapitel gegliedert, in denen u.a. Hinweise zur Entstehung des Buchs, den gesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt gegen Jungen, ein Blick auf die Betroffenen selbst und die Täter, theoretische Grundlagen, juristische und gesellschaftliche Reaktionsformen, methodische und konzeptionelle Grundlagen der Beratungsarbeit mit betroffenen Jungen, verschiedene Praxisfelder und Ansätze für ein integriertes Beratungsangebot formuliert werden. Ein Abschlusskapitel geht auf häufig gestellte Fragen in der Beratungsarbeit ein. Im Anhang findet sich der Serviceteil mit Literaturhinweisen, Beratungsadressen und das Stichwortverzeichnis.

Die Motivation ein derartiges Fachbuch zu schreiben liegt u.a. in dem Anliegen, Fachkräfte der Sozialen Arbeit für die Thematik sensibilisieren zu wollen und praktisch-methodische Ansätze zu vermitteln (15). Hintergrund für dieses anspruchsvolle Vorhaben ist die jahrelange Praxiserfahrung der Autoren. Darauf aufbauend vermittelt das Buch einige theoretische Positionierungen und Begriffsklärungen, beschreibt den gesellschaftlichen Kontext, in dem sexuelle Gewalt gegen Jungen stattfindet und wie diese wahrgenommen wird, vor allem welche Tabuisierungsmechanismen wirken und wie diese auf das Beratungsgeschehen Einfluss nehmen. Das Ausmaß sexualisierter Gewalt ist in unserer Gesellschaft erheblich, das gegen Jungen ebenso. Entsprechende Studien werden im Folgekapitel referiert, wobei sich zeigt, dass Missbrauchsgeschehen in so gut wie allen privaten und öffentlichen Institutionen stattfindet und kein Einzelschicksal darstellt. Die Beratungsperspektive in Bezug auf Jungen als Opfer ergibt sich aus den spezifischen männlichen Sozialisationsaspekten (44) und dem Umstand, dass Opfererfahrungen männlicher Jugendlicher eher übersehen, tabuisiert, verdrängt und damit nicht sichtbar werden. Im Sinn der Präventionsarbeit (Verhinderung erneuter sexueller Gewalterfahrungen) formulieren die Autoren Leitsätze, welche sich durch die gesamte Beratungsarbeit ziehen: „Mein Körper gehört mir“, „Erkenne deine Gefühle“, „Kinder brauchen Geheimnisse“, „Kinder müssen lernen, Nein und Ja zu sagen“ (47) und „Ich kann mir Hilfe holen“ (48).

In einem eigenen Kapitel werden bekannte Erklärungsansätze zur Delinquenzentwicklung referiert und einige Tätertypologien vorgestellt (u.a. Finkelhor, Bullens), auch auf „Frauen als Täterinnen“ (61) eingegangen.

In ungewöhnlicher Platzierung folgen dann „einige theoretische Überlegungen zum praktischen Umgang“ (65) mit dem Begriff sexualisierter Gewalt. In Abgrenzung zu anderen Begriffen verwenden die Autoren bewusst das sprachliche Konstrukt sexualisierter Gewalt um darzustellen, dass „Gewalt … niemals ein Selbstzweck [ist], sondern immer Instrument für etwas“ (67): Macht, Bedürfnisbefriedigung, Beziehungsgestaltung. Durch die sexualisierte Form der Gewaltanwendung vermittelt sich Destruktion, Unterdrückung und Ausbeutung und das besondere Ausmaß der dadurch verursachten Schädigung. Neben diese sprachliche Positionierung setzen die Autoren Überlegungen zu Ansätzen und Aufgaben der Erziehung (Pädagogik), u.a. mit Verweis auf die grundsätzlichen Arbeiten Janusz Korczaks.

Die Perspektive weiter öffnend erschließt das Folgekapitel den Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen sexualisierter Gewalt gegen Jungen, die mediale Berichterstattung (zwischen Skandalisierung und Aufklärung), die Etablierung runder Tische zur Aufarbeitung sexueller Missbrauchsfälle in Institutionen und die Strafrechtsreformen der letzten Jahre, welche eine grundsätzliche Verschärfung der Sanktionen mit sich brachte.

Ein weiteres Grundprinzip in der Beratung von Betroffenen sexueller Gewalt erschließen die Autoren in einem eigenen Kapitel: Parteilichkeit als Grundhaltung einer stützenden und auf Entwicklung fußenden Beratungspraxis, welche Unterstützung anbietet, dabei auf die vorhandenen Ressourcen gründet und sich klar gegen jede Form sexualisierter Gewalt positioniert.

Kapitel 8 und 9 erschließen traumapädagogische Elemente in der Beratung bei sexualisierter Gewalt (u.a. Settinggestaltung, Traumabegriff, bestimmte methodische Bausteine und Übungen, sowie Präventionsansätze in Bezug auf unterschiedliche Zielgruppen (Schüler, Fachkräfte, Institutionen) auch anhand von Praxisbeispielen aus der Arbeit der Autoren des Fachbuchs. Abschließend formulieren Fobian, Lindenberg und Ulfers ihr Plädoyer für ein „altersunabhängiges integriertes Beratungskonzept für von sexualisierter Gewalt betroffene Jungen und Männer – Argumente für ein altersunabhängiges integriertes Beratungskonzept“ (151), wobei nochmals alle Ebenen der Beratungsarbeit zusammengeführt werden. Das Abschlusskapitel erschließt anhand von 17 Fragen (z.B. „Soll ich eine Anzeige aufgeben?“, „Warum ist das mir passiert?“) zentrale Themen und Problemkonstellationen in der Beratungsarbeit.

Zielgruppe des Buches

Studierende und Lehrende im Bereich der Sozialen Arbeit, Fachkräfte in allen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit, insbesondere in der Beratung und Begleitung von Betroffenen sexualisierter Gewalt.

Diskussion

In der zweiten Auflage haben die Autoren die Struktur und Gliederung des Fachbuchs beibehalten, neben der Aktualisierung der rechtlichen Grundlagen und der Literatur wurden die einzelnen Kapitel jeweils um eine Einleitung und Literaturhinweise ergänzt, wodurch der Charakter eines Arbeitsbuches für in der Beratung tätige Fachkräfte gestärkt wurde. Dieser Effekt wird durch die in den einzelnen Abschnitten enthaltenen Reflexionsfragen verstärkt, so dass das Buch zur eigenen Auseinandersetzung und zur Vertiefung der einzelnen Inhalte anregt. Der Überarbeitung des Manuskripts für die Neuauflage hätte eine Neustrukturierung der Kapitelreihenfolge und eine neue Zuordnung einzelner Inhalte gutgetan. Die -programmatischen- Überlegungen zu einer gewaltfreien Erziehung (70ff) bilden z.B. das Grundgerüst für den Beratungsansatz in diesem Buch und wären mit den Leitfragen aus Kapitel 3 (44f) übersichtlicher in einem Grundlagenkapitel zusammenzuführen gewesen. Damit ließe sich auch ein besser erkennbarer roter Faden von Theorie, Forschungsbefunden und Beratungsmethodik gestalten, was dem Buch guttun würde.

Bei der Darstellung der rechtlichen Entwicklung belassen es die Autoren in der Darstellung der eingetretenen Strafrechtsverschärfung. Die in diesem Kontext ebenfalls etablierten Beratungs- und Therapieangebote für Straftäter:innen finden leider keine Erwähnung, ebenso wie Präventionsangebote im Dunkelfeld z.B. für pädophil orientierte Menschen.

Die zur Vorauflage 2018 geäußerte Kritik von Mosser bzgl. einer unklaren Integration „sozialarbeiterischer und klinischer Aspekte in der Beratung/​Behandlung gewaltbetroffener Menschen“ kann aus klinisch-sozialarbeiterischer Perspektive nicht geteilt werden. Fobian, Lindenberg und Ulfers gelingt durch Rückgriff auf traumapädagogische Konzepte genau diese Zusammenführung von beraterischen und behandelnden Aspekten, welche für einen solchen Ansatz einer integrierten, auf männliche Jugendliche bezogenen Praxis notwendig ist. Die Trennung zwischen „sozialarbeiterisch“ und „klinisch“ erscheint aus disziplinärer Sicht der Fachsozialarbeit auch nicht angemessen. Die ebenfalls zuvor geäußerte Kritik (ebd.) an einer nicht ausreichenden Integration psychotherapeutischer Sichtweise auf männliche Traumaerfahrung und -verarbeitung gilt allerdings weiterhin, was mit Hinweisen auf die aus der Klinischen Sozialen Arbeit vorliegenden einschlägigen Werke (z.B. Gahleitner 2017a, 2017b) leicht zu beheben wäre.

Unabhängig von diesen Kritikpunkten liegt mit der zweiten Auflage des Fachbuchs ein hervorragendes Praxisbuch zur Beratung männlicher Jugendlicher mit sexueller Opfererfahrung vor. Ein vergleichbares Werk existiert bislang nicht, die Autoren haben damit ein Standardwerk geschaffen. Für die Folgeauflagen wären Praxiserfahrungen und Anwendungsbeispiele aus dem Kreis der Leserschaft wünschenswert. Es ist davon auszugehen, dass jungensensible Beratung von Opfern sexualisierter Gewalt überwiegend nicht in dafür spezialisierten Beratungsstellen erfolgt, sondern neben anderen Aufgaben in ganz unterschiedlichen Institutionen durchgeführt wird. Diese Erfahrungen und Anwendungsberichte verdienen eine strukturierte Beschreibung und Auswertung im Sinn von Praxisforschung und Wirksamkeitsbewertung, um das Angebot einer geschlechtssensiblen Beratung weiter entwickeln zu können. Für eine unbedingt wünschenswerte dritte Auflage sollten Hinweise zu besonderen Gefährdungsgruppen (z.B. geflüchtete männliche Jugendliche, Jungen mit Behinderung) aufgenommen werden, ebenso stärker auf den Aspekt der sexualisierten Gewalt in/durch digitale Medien eingegangen werden.

Fazit

Die Autoren leisten mit der zweiten Auflage ihres Fach- und Praxisbuchs, dass das Thema sexualisierter Gewalt gegen Jungen sichtbar bleibt und Fachkräften in allen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit ein in der Praxis erprobtes Methodenspektrum zur Verfügung gestellt wird. Das Werk ist unverzichtbar in allen Einrichtungen, in denen mit männlichen Jugendlichen gearbeitet wird.

Literatur

Gahleitner, S. B. (2017a). Das pädagogisch-therapeutische Milieu in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Trauma- und Beziehungsarbeit in stationären Einrichtungen (2. überarb. u. akt. Aufl.). Köln: Psychiatrie Verlag.

Gahleitner, S. B. (2017b). Soziale Arbeit als Beziehungsprofession. Bindung, Beziehung und Einbettung professionell ermöglichen. Weinheim: Beltz Juventa.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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ISSN 2190-9245