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Marie Krüerke: Soziale Betreuung

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 05.05.2023

Cover Marie Krüerke: Soziale Betreuung ISBN 978-3-7486-0620-8

Marie Krüerke: Soziale Betreuung. Endlich klar! : Kreativ und individuell planen und anleiten. Vincentz Network GmbH & Co (Hannover) 2022. 212 Seiten. ISBN 978-3-7486-0620-8. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.

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Hinführung

Zur Leistung in Pflegeheimen gehört neben Unterkunft, Versorgung und Pflege nach § 43 SGB XI auch die soziale Betreuung. Sie soll Alltags-Anregung, Kommunikationshilfen und Tagesstrukturierung erbringen. Die soziale Betreuung (oder Alltagsbetreuung) ist über Verpflegung, Hygiene und Pflege hinaus aber oft eine Leerstelle und geschieht implizit oder nebenher. Ein festes Berufsbild für AlltagsbetreuerInnen in der Altenhilfe gibt es nicht. Zuweilen wird die Heim-Sozialarbeit damit betraut, auch kommt der Einsatz von BeschäftigungstherapeutInnen (ErgotherapeutInnen) oder (teilweise dafür freigestellten) Pflegekräften vor. Freie Träger und Berufsorganisationen haben zumeist sechsmonatige Ausbildungen durchgeführt. Ehrenamtliche werden da und dort hinzu gezogen. Die Anregungen der Alltagsbetreuung differieren stark von situativen Gegebenheiten vor Ort und nach dem Gusto der sie Leistenden und damit Betrauten. Verdienstlich ist, dass die genuin als Logopädin tätige Autorin und Fortbildnerin Marie Krüerke jetzt bei Vincentz-Hannover ihre 210 Seiten starke Zusammenstellung von Ideen zur sozialen Betreuung in Seniorenheimen unter dem Titel „Soziale Betreuung: endlich klar!“ vorlegt.

Autorin

Logopädagin Marie Krüerke hat geraume Zeit als soziale Betreuerin in Senioren-Einrichtungen gearbeitet und ist auch als Fortbildnerin und Buchautorin hervor getreten. Ihre Anregungen sind auch zu finden unter www.schatzkiste-seniorenbetreuung.de

Aufbau

Marie Krüerke hat ihre „Soziale Betreuung: endlich klar!“ in drei umfangreiche Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel gibt sie anhand von Parallelen zu den Veranstaltungen eines Wanderzirkus’ einen Aufriss über die vielfältigen Seiten und Möglichkeiten sozialer Betreuung in Alteneinrichtungen. Das zweite, mit fast 100 Seiten umfangreichste Kapitel befasst sich mit Schwerpunkten und erhofften Wirkungen der Alltagsbetreuung. In ihrem dritten Kapitel schildert die Autorin als Feedback Reaktionen aus der Bewohnerschaft auf die gemachten Angebote.

Inhalt

Den umfangreichen Teilaufgaben der sozialen Betreuung von Planung, Ideensammlung, Suche und Gewinnung der Mitarbeitenden, Materialbeschaffung, Beobachtung der Aktionsverläufe, Modifikation und Auswertung geht die Autorin in ihrem ersten Kapitel anhand des Gastspiels eines Wanderzirkus’ nach. Am Beginn steht mit der Öffentlichkeitsarbeit die Bekanntmachung der Aktionen. Verschiedene Zirkus-Aktivitäten werden auf mögliche Parallelen zur Alltagsbetreuung befragt. Eingefügt in die Darlegungen sind immer wieder – teilweise typografisch in Kästchen gesetzt – die Anregungen und Hinweise „Sternenstaub“. Wunschzettel, Schwarzes Brett und Heimzeitung werden als Zubringer benannt. Aus der Alltags-Routine sollen der Manege entlehnte Begriffe führen wie Seiltanz, Feuerschlucker, Clowns-Späße und Artisten-Schau. Das Ziel, den Alltagstrott aufzubrechen, steht im Vordergrund der gedanklichen Verknüpfung der Alltagsbetreuung mit den Zirkusnummern. Gefahren wie offenes Feuer, Fallhöhe, Verkindlichung und Überforderung werden so plausibel reflektiert. Die Stellung der Alltagsbetreuung in der Einrichtung wird mit dem Bild des allzuständigen Zirkusdirektors abgeglichen. Die Entspannung nach der Belastung durch die Angebotsmacher erscheint vergleichbar dem Rückzug der zirzensischen Akteure in ihren privaten Wohnwagen. Ideen-Suche und -Findung, Helfer-Rekrutierung, Fortbildung und Material-Akquise werden am Bild der Seiltänzer mit Peitsche erhellt.

In ihrem zweiten Hauptteil stellt Marie Krüerke schwerpunktmäßig viele einzelne, sinnstiftende Anregungen der sozialen Betreuung dar. Ein Raster für die Planung sieht sie im Bezug zum Jahresablauf. Zu planen seien im Januar die Veranstaltungen der ersten, noch vor der sommerlichen Urlaubszeit die zweite Jahreshälfte. Ein fester Wochenplan könne die engere Ablauf-Struktur erbringen (für Gymnastik, Singen, Gehirnjogging, Natur-Erlebnisse). Projekt-Tage (Dreckweg-Tag, Tag der Briefmarke, Staatsfeiertag) und Projekt-Wochen setzen in den Wochenabläufen besondere Akzente. Sport und Bewegung dienten der Aufrechterhaltung der Körperfunktionen (Gymnastik, Bälle zuwerfen, Atemgymnastik, Yoga, Spazieren, angelernte Entspannungsübungen). Zur kognitiven Aktivierung tragen bei Gedächtnistraining mit Quiz, Personen-Raten, Stille Post, Wer wird Millionär?, Gegenstände unter abdeckenden Tüchern als „geheime Sammlung“ erraten, sich Geschichten ausdenken, Reime erfinden. Speziellere Aufgaben für die Bewohnerschaft ergeben sich bei der Mitarbeit in der Heimzeitung, im Debattierclub mit selbst gewählter Thematik, im „philosophischen Nachmittag“ oder im Museumsclub. In Kreativ-Gruppen kann das Ausmalen umrisshaft vorliegender Skizzen (Mandalas) vorgenommen werden oder begleitetes Singen zur Veeh-Harfe ertönen – und das ohne Notenkenntnis: Mit Saiten-Zupfen über den schwarzen Punkten am eingeschobenen „Noten“-Blatt. Wenn vorhanden, kann beim Gärtnern geholfen werden. Die Mitwirkung beim Backen kann jahreszeitliche Impulse erbringen (Fastnachtskrapfen, Obst-, Zwiebel- und Lebkuchen, Weihnachtsplätzchen). Achtsamkeits-Übungen setzen Ruhepunkte. Biografiearbeit soll für Lebensstationen sensibel machen. An die Grenze zu therapeutischen Hilfen gehen Umsorgung von Tieren, Gespräche über traumatische Lebensereignisse und die philosophisch-theologischen Gruppen zu Lebensende und zu den für die Existenz nach dem Tod gehegten Erwartungen.

In ihrem dritten Kapitel schildert die Verfasserin Reaktionen aus der Bewohnerschaft auf die von ihr angestoßenen Aktivitäten der sozialen Betreuung. Es ist eine Sammlung von meist liebenswerten, alltäglichen Begebenheiten um die Autorin als soziale Betreuerin in einer großen Senioreneinrichtung mit einer ganzen Reihe noch fitter, eigenständig in Appartements lebender SeniorInnen. Die Autorin erzählt hier unstrukturiert die großen und kleinen Freuden und Sorgen „ihrer“ Bewohnerschaft:

  • Späße,
  • Rivalitäten,
  • Kräche,
  • Sorgen,
  • Freundlichkeiten und Klagen über MitbewohnerInnen,
  • Pflege- und Hauspersonal – eben Klatsch und Tratsch aus dem Lebensorganismus Heim.

Diskussion

Die soziale Betreuung in Einrichtungen der Altenhilfe ist ein Freiplatz. Wenn man es locker nimmt, kann diese zusätzlich zur körpernahen Pflege und Versorgung vorzuhaltende Stimulation, Anregung, Beschäftigung und Strukturierung der Heim-Zeit sehr freihändig gefüllt werden. Gradmesser für den Erfolg mag die Akzeptanz in der Bewohnerschaft sein, was jedoch als Kriterium mangels alternativer Möglichkeiten auch wieder an Gewicht verliert. Zumal heutzutage in den Pflegeheimen rund die Hälfte der Bewohner von Demenz betroffen sind. Gleichwohl bleibt die Reaktion der Bewohnerschaft auf die Angebote und Stimuli der Alltagsbetreuung ein Gradmesser für ihre Sinnhaftigkeit. Die Fülle, aus der Marie Krüerke in ihrem Band zur sozialen Heim-Betreuung schöpft, zeigt eine hohe Bandbreite an Möglichkeiten zu Aktivierung, Sinnstiftung und Freude zugunsten der Bewohnerschaft auf. In diesem Sinn geht der auf Seite 165 geäußerte Wunsch der Autorin auf, „dass die soziale Betreuung ihren Begabungen gemäß tätig werden und wertvolle Momente schenken kann“.

Natürlich kann man an den einen oder anderen der immens vielen Ideen und Vorschläge der Autorin Fragen anbringen, zumal sie ihre Einsichten aus ihrer Arbeit in einer großen Einrichtung mit noch vielen fitten SeniorInnen in Seniorenappartements schöpft. So ist die Metapher des Zirkus im ersten Kapitel zwar reizvoll, aber nicht immer erhellend. Zirkus ist peripher und außeralltäglich. Das Heim ist permanente Zentrale am und für das Lebensende. Fast alle seiner Rollenträger von der Bewohnerschaft und ihrer Angehörigen über die Pflegenden, die Küche, die Haustechnik und die finanzierende Verwaltung werden von der sozialen Betreuung tangiert. Die soziale Betreuung muss bei allen um Mitwirkung und Ressourcen werben. Stößt sie mit ihren Planungen nicht auf Zustimmung, ist sie mit ihrem Latein am Ende. Insofern muss soziale Betreuung als eine Querschnittsaufgabe, sozusagen ein durchgängiger „Lehrplan“, angesehen werden. Diese systemische Sicht fehlt den Herleitungen der Autorin.

Auch wäre es reizvoll gewesen, wenn Verfasserin von den vorhandenen Vorschlägen der Interventionsgerontologie mit Normalisierungsprinzip, Hilflosigkeitsabbau- und Realitätstraining sowie Milieutherapie und gemeinwesenartiger Einbindung ausgehend ihre Vorschläge systematisch gegliedert hätte. So wäre auch ein leichteres und schnelleres Auffinden einzelner hilfreich intervenierender Maßnahmen in einem (leider fehlenden) Stichwortverzeichnis am Ende für gezielte Abhilfen bei Verhaltensdefiziten ermöglicht worden. Das macht sich gerade auch an den in Teil drei des Buches geschilderten Verhaltensdefiziten von einigen Persönlichkeiten aus der Bewohnerschaft bemerkbar, zu denen die Verfasserin außer der schildernden Feststellung (Sucht, ständiges Nörgeln, Suizidabsichten) keine Hinweise auf möglich Hilfen gibt.

Die Schilderung von mit Statusmerkmalen verbundenen Lebensereignissen in biografischen Rückblicken können natürlich bei weniger Begüterten, was Urlaubsreisen, Sportarten, Wohnkomfort, Fahrzeugen, Mode-Accessoirs im zurück liegenden Leben betrifft, enttäuschende Insuffizienzgefühle auslösen. Dann stellt sich bei „gefährlichen“ Unternehmungen geschwächter Teilnehmender (mit Rollator, Rollstuhl, Inkontinenz) die Frage von deren sie gefährdender Überlastung von vorgeschlagenen Unternehmungen. Das räumt Verfasserin an vielen Stellen auch selbst ein. Ebenso sieht sie die Gefahren von offenen Flammen bei Weihnachts-Kerzen und beim Sonnenwend-Lagerfeuer; zurecht plädiert sie im Zweifel für LED-Girlanden. 

Auch die Ressourcenfrage wirft die Verfasserin an vielen Stellen mit ihren Vorbehalten auf. Die Buchung von Referenten, Experten und Gruppen hänge „vom hauseigenen Budget ab“, heisst es mehrfach (u.a. Seiten 121, 133 f., 149, 157). Insofern dürften für viele Alten-Einrichtungen so spektakuläre „Highlights“ wie „Casino“ (Seite 123 mit Smoking und Abendkleid), Therapie-Tiere, Reparatur-Werkstatt, Musikfestival, Museums-Gruppe, Wiener Café, Captains-Dinner und Dinner in Weiß eher nicht in frage kommen. Ob die personellen Ressourcen der Heime alle gemachten Vorschläge realisieren lassen, ist eine weitere Frage. Für Sonderveranstaltungen ist nicht selten ein besonderes Equipment seitens der Haustechnik erforderlich. Bei jahreszeitlichem und länderspezifischem Speis und Trank ist die Küche besonders gefordert. Und für Programm-Darbietungen in Sonderveranstaltungen denkt die Autorin an die übrige Heim-Mitarbeiterschaft wie die Pflege, die zu ihrem belastenden Arbeitsalltag nicht immer noch Sonderschichten schieben mag. Wenn die Stricke reißen, waren immer noch zusammen zu tragende Erinnerungen und Erzählungen aus dem früheren Leben den Bewohnerschaft hilfreich, auf die hinzuweisen gehörte: Wie gestalteten sich einst der Waschtag, Einmachtag, Friseurbesuch, was hatten wir bei Kriegsende für „Ersatz“-Stoffe, wie wurden einfache Gerichte nur mit Kartoffeln, nur mit Obst gefertigt? Der Horizont vieler 80- bis 90-jähriger reicht durchaus noch in die Jahre um 1945 zurück. 

Aber sei’s drum. Die Fantasie darf mit der Autorin bei der Fülle ihrer den Heimalltag überwölbenden Vorschläge durchaus durchgehen – auch jenseits des im Einzelfall budgetär, kognitiv und/oder equipmentartig Machbaren.

Fazit

Auf die Ungewissheit, was „soziale Betreuung“ im Alltag der Senioren-Institutionen darstellen und bewirken soll, gibt Marie Krüerkes neues Buch „endlich; klar!“ eine befriedigende Antwort. Sogar sehr viele Antworten: Eine Fülle umsetzbarer und beherzigenswerter Vorschläge zu Auflockerung und Bereicherung des Heim-Alltags nämlich. Hinter der Detailfülle wären das systemische Gefüge der Heime und die Interventionsgerontologie als Ausgangspunkt der kurierenden Maßnahmen zusätzlich erhellend. 

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Es gibt 105 Rezensionen von Kurt Witterstätter.

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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 05.05.2023 zu: Marie Krüerke: Soziale Betreuung. Endlich klar! : Kreativ und individuell planen und anleiten. Vincentz Network GmbH & Co (Hannover) 2022. ISBN 978-3-7486-0620-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30510.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.


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