Alicia Charlotte Rimbach, Julia Steinfort-Diedenhofen et al.: Sexualisierte Gewalt
Rezensiert von Maite Gabriel, 20.10.2023
Alicia Charlotte Rimbach, Julia Steinfort-Diedenhofen, Karla Verlinden, Sabrina Schmidt: Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der stationären Altenhilfe. Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2023. 126 Seiten. ISBN 978-3-8474-2652-3. D: 23,00 EUR, A: 23,70 EUR.
Thema
Sexualisierte Gewalt gegen alte Menschen ist ein extrem vernachlässigtes und tabuisiertes Thema, was sich auch in einem Mangel an Forschung hierzu abbildet. Die Autorinnen wollen mit ihrer Publikation dieser Ignoranz etwas entgegensetzen, indem sie sexualisierte Gewalt an alten Frauen in stationärer Altenhilfe aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und sichtbarer machen. Dabei richten sie ihren Blick auf die Situation der Betroffenen aber auch auf Strukturen und Mitarbeiter*innen in der stationären Altenhilfe und gesellschaftliche Bedingungen, die sexualisierte Gewalt gegen alte Menschen begünstigen.
Autorinnen
Charlotte Rimbach hat an der Katholischen Hochschule NRW den Bachelor Soziale Arbeit absolviert und studiert derzeit an der Universität Kassel den Master „Diversität – Forschung – Soziale Arbeit“. Sie hat beim „Altentheater des Freien Werkstatt Theaters“ in Köln und ehrenamtlich bei „Paula e.V. – Beratungsstelle für Frauen ab 60“ gearbeitet.
Sabrina Schmidt ist Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule NRW in Köln. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind die Hilfen zur Erziehung und Fragen von professionellem Handeln und Organisieren in der Sozialen Arbeit.
Julia Steinfort-Diedenhofen ist Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule NRW in Köln. Ihre Lehr- und Forschungsgebiete sind Theorien, Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Geragogik.
Karla Verlinden ist Professorin für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Resilienz an der Katholischen Hochschule NRW. Sie ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und hat seit über 15 Jahren Expertise in der Intervention und Prävention sexualisierter Gewalt.
Aufbau und Inhalt
Bereits im Vorwort stellt Mechthild Kriegelmann die Notwendigkeit einer stärkeren Thematisierung von sexualisierter Gewalt gegen alte Menschen heraus, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis, wobei besonders die Soziale Arbeit adressiert wird. Im ersten Kapitel werden verschiedene Diskurse und Kontexte beleuchtet, die die soziale Arbeit, die stationäre Altenhilfe und sexualisierte Gewalt gegen alte Menschen betreffen. Im zweiten Kapitel wird eine Bestandsaufnahme des aktuellen Forschungsstandes dargestellt, diesem schließt sich im dritten Kapitel eine Darstellung der Herausforderungen für die Soziale Arbeit an. Abschließend formulieren die Autorinnen Implikationen zum Umgang mit und zur Verhinderung von sexualisierter Gewalt gegen alte Menschen.
Das erste Kapitel schildert im ersten Abschnitt die besondere Lebenssituation von Menschen in der fünften Lebensphase, die unter anderem geprägt ist von Pflegebedürftigkeit und vom Verlust an Autonomie. Darüber hinaus spielt der Sozialisationskontext als Kriegskind oder Nachkriegskind auch im hohen Alter eine Rolle und prägt Deutungs- und Handlungsmuster. Anschließend wird das breite Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit in der stationären Altenhilfe aufgezeigt, wobei handlungsleitend die „Erhaltung und Förderung von Selbstbestimmung und Teilhabe durch Beratung, Betreuung, Bildung und Begleitung“ (Steinfort-Diedenhofen 2022, S. 243) sind. Es bedarf jedoch einer genaueren Klärung der Rolle, die der Sozialen Arbeit im komplexen interdisziplinären Kontext der Gesundheits- und Pflegebereiche zukommt. Im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels werden Diskurse zu sexualisierter Gewalt dargestellt. Nach einer Begriffssondierung werden Traumafolgen sexualisierter Gewalt spezifisch bei älteren Menschen aufgezeigt. Hier besteht besonders das Risiko, dass Symptome einer Traumafolgestörung mit einer Demenz verwechselt werden. Darüber hinaus ist die Angst vor Stigmatisierung bei Offenlegung von Symptomen bei alten Menschen besonders hoch. Neben dem Fokus auf die individuelle Ebene, werden auch gesellschaftliche Bedingungen thematisiert, die sexualisierte Gewalt gegen alte Menschen begünstigen, beispielsweise altersdiskriminierende Vorurteile. Dass sich gesellschaftliche Denk- und Deutungsmuster im Laufe der Zeit auch ändern, zeigt sich auch in der Entwicklung des deutschen Strafrechts in Bezug auf sexualisierte Gewalt, welche im anschließenden Unterkapitel nachgezeichnet wird. Abschließend wird im letzten Abschnitt des Kapitels sexualisierte Gewalt im Kontext der Trias Betroffene – Täter*innen – Organisationen verortet. Nach einer allgemeinen Betrachtung des Kontextes sozialer Organisationen unter Hinzuziehung verschiedener Theorien, wie Goffmans (1973) Konzept der totalen Institution, werden spezifische Bedingungen und Strukturen von Einrichtungen der stationären Altenhilfe in den Blick genommen. Eine Besonderheit in diesen Kontexten stellt zum Beispiel die Pflegebedürftigkeit der Betroffenen dar, die sie in Abhängigkeitsverhältnisse bringt, die als Hochrisikobereiche für Beschämung und Würdeverletzung zu sehen sind.
Im zweiten Kapitel machen die Autorinnen eine Bestandsaufnahme des aktuellen Forschungsstandes. Ihr Scoping-Review orientiert sich an dem von Arksey und O'Malley (2005) vorgeschlagenen fünfschrittigen Verfahren. Sie beziehen sowohl empirische als auch literaturanalytische Untersuchungen in deutscher und englischer Sprache ein. Die zugrunde liegende Fragestellung ihres Scoping Reviews ist, inwiefern „das Phänomen sexualisierter Gewalt gegen Bewohnerinnen stationärer Altenhilfeeinrichtungen aus (sozial-)wissenschaftlicher Perspektive bisher erforscht“ (S. 54) wurde. Die 16 ausfindig gemachten Beiträge stellen sie entlang verschiedener Schwerpunkte vor. Vor allem zeigt sich, dass es bisher keine Prävalenzdaten gibt, Zahlen zum Vorkommen sexualisierter Gewalt gegen alte Menschen beruhen auf Schätzungen. Betroffene sind häufig hochaltrig und kognitiv und/oder körperlich stark eingeschränkt. Häufiger sind Frauen betroffen, jedoch gibt es auch Hinweise auf männliche Betroffene. Zudem liegt die Vermutung nahe, dass die Dunkelziffer hier noch höher ist, da sexualisierter Gewalt gegen Männer noch stärker tabuisiert wird. Täter*innen sind meistens Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen, überwiegend männlich, wobei in einigen Studien auch ein nicht geringer Teil weiblicher Täterinnen erfasst wurde (bis 20 %). Bezüglich der Formen sexualisierter Gewalt lassen sich nur schwer allgemeingültige Aussagen treffen, Ergebnisse dazu hängen stark von der Definition, die der Studie zugrunde liegt, wie auch der Datenquelle ab. Lediglich drei Publikationen fokussieren auf die Folgen sexualisierter Gewalt. Zwei betrachten die physischen Folgen, wobei deutlich wird, dass die fehlende Feststellung von Verletzungen kein Beweis gegen das Vorliegen sexualisierter Gewalterfahrungen ist. Eine Studie untersuchte „trauma-related-symptoms“ bei 20 Betroffenen, Vermeidungsverhalten, Ängste und aufgewühltes Verhalten wurden hier häufig beobachtet. Abschließend diskutieren die Autorinnen die Ergebnisse und halten fest, dass vor allem Krankheiten und zunehmende Einschränkungen einen Risikofaktor darstellen, denn dadurch nehmen Abhängigkeitsverhältnisse zu. Demenz wird ebenfalls als Risikofaktor für Betroffene gesehen. Jedoch auch wenn es sich bei Täter*innen um Bewohner*innen handelt, lag häufig eine Demenzerkrankung vor. Unberücksichtigt bleiben in den einbezogenen Studien traumatische biografische Erfahrungen und deren Auswirkungen auf eine erneute Viktimisierung. Hier sehen die Autorinnen Handlungs- und Forschungsbedarf. Darüber hinaus zeigt sich, dass Fachkräfte in der Altenhilfe aber auch an den externen Schnittstellen häufig ein hohes Maß an Unsicherheit mit und Ungläubigkeit gegenüber dem Phänomen der sexualisierten Gewalt gegen alte Menschen zeigen. Die Autorinnen plädieren für organisationale Handlungsleitlinien und eine stärkere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Kritisch werden die fehlenden Prävalenzzahlen gesehen, bisherige Schätzungen zu sexualisierter Gewalt liegen höchst wahrscheinlich weit unter den tatsächlichen Fallzahlen, da von einem hohen Dunkelfeld ausgegangen werden kann.
Das dritte Kapitel schildert aufgrundlage der vorigen Ausführungen die Herausforderungen für die Soziale Arbeit, die mit dem Phänomen der sexualisierten Gewalt gegen alte Menschen einhergehen. Die Autorinnen verweisen auf zwei exemplarische Herausforderungen. Einerseits sehen sie die Notwendigkeit einer stärkeren Politisierung des Themas um es als gesellschaftlich relevantes Thema zu etablieren. Hier nehmen sie Bezug zur stärkeren politischen Verantwortungsübernahme und Anerkennungspraxis im Bereich sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, zum Beispiel über die Einrichtung der Stelle des/der UBSKM. Ähnliches politisches Engagement sehen sie auch bezogen auf sexualisierte Gewalt gegenüber alten Menschen als erforderlich. Hier formulieren sie fünf Hauptforderungen: „(1) Die Aufstockung der Forschungsförderung zu evidenzbasierten Präventionsmaßnahmen, (2) die Ausweitung von spezialisierten Psychotherapieangeboten für Betroffene und Täter*innen (besonders im Sinne der Rückfallprophylaxe), (3) die Anapassung der Ausbildungsinhalte von Fachkräften aus allen sozialen, pädagogischen und medizinischen Sektoren hinsichtlich sexualisierter Gewalt und deren Verhinderung, (4) die Ratifizierung einer UN-Altenrechtskonvention sowie (5) alters- und geschlechtsspezifische sexuelle Bildung als Präventionsmaßnahme.“ (S. 95). Als zweite Herausforderung für die Soziale Arbeit sehen sie die Etablierung von Schutzkonzepten, welche die „Täter-Opfer-Institutionen-Dynamik“ (Wolff 2014, S. 101) in den Fokus rückt. Entsprechende Schutzkonzepte müssen zwar von Leitungsebene initiiert werden, Mitarbeiter*innen sollten jedoch möglichst von Beginn an in den Prozess einbezogen werden. Durch eine Gefährdungsanalyse können Vulnerabilitäts- und Ressourcenfaktoren auf personaler Ebene aber auch organisationale Risiko- und Potenzialfaktoren herauskristallisiert werden. Auf dieser Grundlage werden Schlussfolgerungen für Prävention und Intervention abgeleitet, z.B. ein Verhaltenskodex zum Umgang mit den Bewohner*innen, eine Regelung des Interventionsverfahrens bei Verdachtsfällen und der Aufarbeitung nach sexualisierten Gewaltvorkommnissen. Darüber hinaus müssen den Betroffenen bei der Bewältigung Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Bezüglich des Personals sind vor allem Weiterbildungs- und Reflexionsmöglichkeiten bedeutsam. Zudem sollten auch den Bewohner*innen Informations- Bildungs- und Empowermentangebote zugänglich gemacht werden. Bisher fehlen jedoch verbindliche Rechtsgrundlagen zur Implementierung entsprechender Schutzkonzepte.
Im abschließenden Fazit und Ausblick formulieren die Autorinnen als Synthese des vorgestellten, bisherigen Kenntnisstands Implikationen für die Praxis. Diese beziehen sich auf verschiedene Ebenen. Auf der Ebene der Politik und Gesellschaft ist zum Beispiel eine Sensibilisierung für das Thema und ein öffentlicher Diskurs notwendig, auch um diskriminierende Deutungsmuster aufzubrechen. Es bedarf Präventionsangeboten und Weiterbildungsangeboten für Fachkräfte. Darüber hinaus muss Forschung in dem Feld stärker gefördert werden. Auf der Ebene der Organisationen benötigt es unter anderem partizipativ entwickelte Schutzkonzepte und die Etablierung einer Hilfsstruktur für Betroffene. Auf Seiten der Fachkräfte braucht es beispielsweise eine traumasensible Haltung, Bereitschaft zur Reflexion und eine (politische) Verantwortungsübernahme und Positionierung für die Bewohner*innen.
Diskussion
Die Autorinnen beleuchten ein lange vernachlässigtes Thema, das nicht nur für den Bereich der Sozialen Arbeit, Gesundheit und Pflege, sondern letztlich gesamtgesellschaftlich relevant ist. Das Buch ist keineswegs nur für die wissenschaftliche Community lesenswert, sondern auch für alle Fachkräfte, die mit alten Menschen arbeiten. Trotz der bisher geringen Forschungslage vermitteln sie einen breiten Überblick über das Phänomen der sexualisierten Gewalt an alten Menschen, spezifisch in stationären Einrichtungen der Altenhilfe. Dabei beleuchten sie sowohl die individuelle als auch die organisationale und gesellschaftliche Ebene sexualisierter Gewalt und deren Wechselwirkungen. In ihrem Buch adressieren die Autorinnen vor allem die Soziale Arbeit, deren Gegenstand die Verhinderung und Bewältigung sozialer Probleme ist. Gleichzeitig stellen sie jedoch auch heraus, dass sexualisierte Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt und es einer gesellschaftlichen Sensibilisierung bedarf. So formulieren die Autorinnen klare politische Appelle, deren Notwendigkeit jedoch schon allein durch ihre Darstellung des Forschungsstandes deutlich wird. Auch wenn in den letzten 13 Jahren sexualisierte Gewalt stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist, wird deutlich, dass es nach wie vor Betroffenengruppen gibt, die seitens der Forschung, Politik und Praxis kaum in den Blick genommen wurden und es auch hier einer klaren Verantwortungs- und Anerkennungspraxis bedarf.
Fazit
Die Autorinnen behandeln in ihrer Publikation das stark tabuisierte und vernachlässigte Thema sexualisierte Gewalt gegen alte Menschen. Dabei fokussieren sie vor allem auf den Kontext der stationären Altenhilfe, in dem sich Menschen aufgrund zunehmender Pflegebedürftigkeit zwangsläufig in Abhängigkeitsverhältnisse begeben müssen. Ihnen gelingt es, die Komplexität sexualisierter Gewalt darzustellen, indem sie sowohl die individuelle Ebene, jedoch auch organisationale Strukturen und gesellschaftliche Bedingungen und deren Wechselwirkung in den Blick nehmen.
Literatur
Arksey, Hilary & O'Malley, Lisa (2005). Scoping Studies: Towards a Methodological Framework. In: International Journal of Social Research Methodology 8, 1, S. 19–32.
Goffman, Erving (1973). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Steinfort-Diedenhofen, Julia (2022). Ältere Menschen. In Rudolf Bieker, Heike Niemeyer (Hrsg.). Träger, Arbeitsfelder und Zielgruppen der Sozialen Arbeit. 2., überarb. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer, S. 243–250.
Wolff, Mechthild (2014). Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Professionelle in Institutionen. Perspektiven der Prävention durch Schutzkonzepte. In Karin Böller & Martin Wazlawik (Hrsg.). Sexualisierte Gewalt. Institutionelle und professionelle Herausforderungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 95–109.
Rezension von
Maite Gabriel
M.A. Klinische Sozialarbeit, Systemische Therapeutin und wissenschaftliche Tätigkeit in Lehre, Weiterbildung und Forschung.
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Zitiervorschlag
Maite Gabriel. Rezension vom 20.10.2023 zu:
Alicia Charlotte Rimbach, Julia Steinfort-Diedenhofen, Karla Verlinden, Sabrina Schmidt: Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der stationären Altenhilfe. Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2023.
ISBN 978-3-8474-2652-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30514.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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