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Matthias Müller, Annerose Siebert et al. (Hrsg.): Sozialarbeiterisches Case Management

Rezensiert von Dr. Kolja Tobias Heckes, 14.09.2023

Cover Matthias Müller, Annerose Siebert et al. (Hrsg.): Sozialarbeiterisches Case Management ISBN 978-3-17-037270-2

Matthias Müller, Annerose Siebert, Corinna Ehlers (Hrsg.): Sozialarbeiterisches Case Management. Ein Lehr- und Praxisbuch. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 300 Seiten. ISBN 978-3-17-037270-2. 36,00 EUR.

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Thema

Die Intention hinter dem vorliegenden Buch tritt klar hervor: So ist das Buch offensichtlich aus dem Problembewusstsein heraus entwickelt worden, dass ein generalistisches, d.h. disziplinunabhängiges Case Management Gefahr läuft, nicht in den disziplinären und professionellen Grundlagen der Sozialen Arbeit verankert zu sein. Gleich zu Beginn wird die besondere Verortung des Case Managements in der interdisziplinären Zusammenarbeit betont. Gerade deshalb sei aber eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen disziplin- und professions-„eigenen theoretischen Grundlagen und Bezüge[n]“ bzw. das „Übergangswissen“ so wichtig (S. 12). Sinngemäß ließe sich vielleicht zuspitzen, dass von Seiten der Sozialarbeitswissenschaft Sorge besteht vor einem allzu instrumentellen, managerialistischen Case Management, das sich von den Prinzipien und Grundorientierungen der Sozialen Arbeit ablöst. Das Buch macht sich bemerkenswerterweise die Mühe, disziplin- und professionstheoretische Bezugspunkte aus der Sozialarbeitswissenschaft für das Case Management herauszuarbeiten, allerdings geht es den Herausgeber*innen und Autor*innen mitnichten um einen rein akademischen Diskurs. In den Handlungsfeldkapiteln werden dann nämlich der Stand des sozialarbeiterischen Case Managements, seine Entwicklungslinien, aber auch bestehende Dilemmata und aktuelle Grenzen aus (unterschiedlichen) Praxisfeldern heraus systematisch herausgearbeitet.

Herausgeber:innen

Die drei Herausgeber*innen kommen alle sowohl aus der Wissenschaft der Sozialen Arbeit als auch aus dem Case Management: Dr. Matthias Müller ist Professor für Pädagogik, Sozialpädagogik und Hilfen zur Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg sowie Case Management-Trainer, Dr.in Annerose Siebert ist Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Ravensburg Weingarten sowie Case Managerin, Dr.in Corinna Ehlers ist Professorin für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Case Management sowie Case Management-Trainerin und DGCC-Vorstandsmitglied. Die eingeladenen Autor*innen der Einzelbeiträge bilden in einem insgesamt erfreulich ausgewogenen Verhältnis Praxis, Weiterbildung und Sozialarbeitswissenschaft ab; sie alle sind konkret im Bereich des Case Managements involviert.

Entstehungshintergrund

Die Grundidee des Buches, ein dezidiert sozialarbeitswissenschaftliches Case Management auszuloten, basiert auf der Arbeit der Fachgruppe „Case Management in der Sozialen Arbeit“ der DGCC in Zusammenarbeit mit der DGSA. Auf der ersten Seite der Einleitung werden die an dieser Entwicklung beteiligten Personen in der Fußnote namentlich genannt.

Aufbau

Der zweiteilige Aufbau des Buches ist konsequent und logisch und trägt den gesamten Gedankengang des Buches gut sichtbar: Nach der Einleitung, in der das Anliegen des Buches (eine sozialarbeitswissenschaftliche Fundierung von Case Management voranzutreiben) klar herausgestellt wird, folgt in den Kapiteln 2, 3 und 4 eine gründliche theoretische Modellentwicklung, die Entwicklung eines dezidiert sozialarbeiterisch fundierten Modells von Case Management. Gründlich bedeutet, dass hier vielfältige Ebenen und Wissensbestände aus der Sozialen Arbeit zugrunde gelegt und verknüpft werden: In Kap. 2 sind es Phänomen- und Disziplinwissen, Arbeitsfeldwissen, Verfahrenswissen und Evaluationswissen; in Kap. 3 folgt eine Klärung des genuin transdisziplinären Profils von Case Management als auch der Sozialen Arbeit; in Kap. 4 schließt eine Aufarbeitung der im Case Management entgegen teilweise gegenteiliger Lesarten so zentralen Beziehungsarbeit und ihrer unterschiedlichen Formen an. Dieser erste Teil strukturiert dann im Folgenden die einzelnen, breit angelegten arbeitsfeldbezogenen Beiträge im zweiten Teil. Die sozialarbeitstheoretische Modellierung dient dabei unmittelbar dazu, die verschiedenen Praxisfelder systematisch zu durchleuchten und damit den aktuellen Stand des dortigen Case Managements aus Sicht und Bewertung der Sozialen Arbeit zu diskutieren.

Folgende Praxisfelder werden unter die Lupe genommen (Kap. 5–14):

  • Soziale Altenarbeit (Grit Annemüller & Matthias Müller)
  • Behindertenhilfe (Annerose Siebert)
  • Beschäftigungsförderung (Björn Sedlak & Oliver Köttker)
  • Kinder- und Jugendhilfe (Matthias Müller & Vera Taube)
  • Krankenhaus (Denise Lehmann & Johannes Petereit)
  • Migrationsfachdienste (Matthias Müller)
  • Lebenslimitierend erkrankte Kinder und Jugendliche und deren Familien (Christine Moeller-Bruker & Annerose Siebert)
  • Außerklinische psychiatrische Versorgung (Lisa Große & Karsten Giertz)
  • Sucht- und Drogenhilfe (Martin Schmid & Ines Arendt)
  • Wohnungslosenhilfe (Karsten Giertz, Corinna Ehlers & Christof Gebhardt).

Inhalt

Das dicht verfasste (und dabei zugleich gut lesbare) Kapitel 2 „…Einleitende Begründung zur Strukturierung der Arbeitsfeldartikel“ ist ein prägnanter und sportlicher Ritt durch Betüge der Sozialen Arbeit. Dicht an Informationsgehalt ist dieses Kapitel deshalb, weil es sich nicht scheut, Hintergründe und theoretisches Wissen unterschiedlichsten Ursprungs und von unterschiedlichen Ebenen der Sozialen Arbeit einzubringen (es geht z.B. um die Frage nach dem originären Gegenstand Sozialer Arbeit [S. 20] oder um die Geschichte der Sozialen Arbeit im Kontext der Moderne [S. 24], u.v.m.). Wohlwissend, dass all diese im vorliegenden Buch bewusst konzise skizzierten Bezüge natürlich ganze Bücher füllen könnten. Es wird so viel vermittelt wie nötig, orientiert an dem Anliegen, dem Case Management aus der Sozialen Arbeit heraus Reflexionsimpulse zuzuspielen. Das meine ich mit ‚sportlich‘ im positiven Sinne. Denn die zahlreichen Hinweise sozialarbeiterischer Provenienz treffen zielgenau neuralgische Knotenpunkte des Handlungskonzepts Case Management (z.B. ist die Doppelorientierung zwischen Fallsteuerung und Systementwicklung und auch die damit verbundenen Spannungen wohl jeder*m Case Management-Praktiker*in nur allzu vertraut; es mag hier etwa geradezu entlastend und vor allem klärend sein, dieses Spannungsverhältnis als ein der Sozialen Arbeit immanentes einzuordnen).

Hervorzuheben ist außerdem die Sensibilität, mit der dort vorgegangen wird, wo der Anspruch des Buches an ein sozialarbeiterisches Case Management die Realität kreuzt, dass Case Management eine interdisziplinäre Praxis darstellt (vor allem in Kapitel 3 „Transdisziplinarität…“). Hier hätte man leicht in die Falle tappen können, idealtypische, aber zu sehr am Eigenen orientierte und damit nicht interdisziplinär anschlussfähige Überlegungen anzustellen (wovor Jan Kruse mit Blick auf die Entwicklung der Sozialen Arbeit schon mal gewarnt hat); stattdessen zielen die Vorschläge des Buches aber bewusst darauf ab, Anregungen für den inter- bzw. transdisziplinären Übergang zu sein und gleichsam an das Wissen anderer Professionen anzuknüpfen (S. 33 ff.), ja hier sogar im Bereich der intermediären Beziehungsarbeit anzusetzen (Kapitel 4) und „Sozialarbeiter[*]innen […] als intermediäre Instanz, als Übersetzer[*]innen und Brückenbauer[*]innen zwischen Lebenswelten und Funktionssystemen“ (S. 60) zu adressieren.

Die theoretischen Arbeiten des ersten Teils strukturieren die arbeitsfeldspezifischen Diskussionen im zweiten Teil. Die umfassenden Arbeitsfeldberichte (Kap. 5–14) können auch einzeln mit großem Gewinn gelesen werden. Aber gerade im Kontext des gesamten Buches dürfte sich ein besonderer Effekt einstellen: Mit den (das sei hier nochmal gesagt, keineswegs mausgrauen) theoretischen und ethischen Sensibilisierungen aus dem ersten Teil des Buches im Rücken werden die praxisbezogenen Einzelbeiträge, die an derselben Kategorienstruktur aufgezogen sind, auf ein noch substanzielleres Niveau gehoben. Gerade dort, wo die Beiträge Entwicklungspotentiale und Chancen, aber auch aktuelle strukturelle Dilemmata, Machtverhältnisse, Paradoxien und Ambivalenzen aufzeigen, sind die Beiträge zwar jeweils für sich genommen bereits durchweg verständlich und gelungen, aber mit den vorangegangenen theoretischen Folien im Gepäck – und sei es auch in praxistauglicher Kürze – lässt sich hier als Leser*in noch einmal ganz anders mit- und selbstreflektieren.

Ein weiterer spannender Effekt in der Gesamtschau ist der Vergleich zwischen den Arbeitsfeldausschnitten. Hier zeigt sich, wie unterschiedlich etabliert und weit entwickelt Case Management in den verschiedenen Praxisfeldern ist. Wo aber auch verbindende Merkmale als auch Probleme liegen.

Wünschenswert wäre noch ein abschließendes Kapitel der Herausgeber*innen gewesen, in dem noch einmal auf die Theorie Bezug genommen wird und ein Resümee sowie ein Ausblick gegeben werden; es hat gleichsam Charme und ist im Gesamteindruck konsequent, einem der Handlungsfeldbeiträge das letzte Wort zu überlassen.

Diskussion

Leser*innen können somit unterschiedlich mit dem Buch umgehen – es kann punktuell in einzelne Arbeitsfelder und Kontexte gesprungen werden (die gute Gliederung erleichtert die Orientierung im Buch) oder es kann aus größerer Distanz als umfassende Suchbewegung nach Sozialer Arbeit im Case Management genutzt werden. In letzterem Fall werden bei zusammenhängender Lektüre grundlegende, sich zwischen Arbeitsfeldern wiederholende Zusammenhänge sichtbar, in denen z.B. immer wieder das Spannungsfeld zwischen gesetzlich oder organisatorisch hochregulierten Systemen und den Herausforderungen Sozialer Arbeit, gemäß der eigenen Professionalität und ethischen Kodizes zu handeln, deutlich wird.

Die theoretischen Aufbereitungen dienen vielfältigen Denkanstößen und sind dabei sowohl für Studierende als auch für Praktiker*innen gut rezipierbar. Sie werden nachvollziehbar gegliedert und hin zu einem heuristischen Modell eines sozialarbeiterischen Case Managements verdichtet. Eine große Besonderheit des Sammelbandes ist, dass die einzelnen Beiträge den theoretischen Dimensionierungen konkret zugeordnet sind und somit tatsächlich in direkte Interaktion mit diesen entworfenen Kategorien treten. Es handelt sich damit nicht um eine lose Textsammlung, sondern um eine Verschränkung von Theoriearbeit und Praxisanalyse. Davon profitieren Gestalter*innen, Praktiker*innen, Studierende etc:

Systemisch betrachtet ist eine Netzwerkarbeit wie das Case Management extrem komplex. Ich beobachte derzeit wieder einen Netzwerkprozess, bei dem mir unter anderem vier Phänomene auffallen: Fachkräfte, die eingestellt sind, um ein Netzwerk zu „managen“, neigen dazu, schnell in eine Art Zielsteuerung zu verfallen, wie man sie aus Organisationen kennt (…man will schließlich seinen Job gut machen und das Netzwerk, für das man sich verantwortlich sieht, zum Erfolg ziehen) – aber Netzwerke bestehen, und das ist ja gerade ihr Reiz, aus einzelnen, eigensinnigen Teilsystemen, was eher eine Art elegant koordinierende, fazilitierende Einwirkung auf das Netzwerk erfordert; Netzwerke wie hier Case Management-Akteurskonstellationen brauchen Ziele, aber auch Zielflexibilität – manchmal emergieren neue Zielstränge auf dem Weg; Systeme wie das Sozial- und Gesundheitswesen üben Druck aus, immer wieder in die gewohnte Differenzierung und Ordnung zurückzufallen – aber der insoweit naheliegende Einsatz von z.B. monodisziplinären Ausschüssen ist nicht immer zu empfehlen, weil sie potenziell disziplinäre Segregation reproduzieren, interdisziplinäre Räume müssen dagegen energieaufwändig ausgehandelt werden; gerade Case Manager*innen berichten oft, dass sie in ihrer täglichen Fallbegleitung durchs Hilfesystemdickicht immer wieder auf strukturelle Probleme auf der Systemebene stoßen, die Systemebene wiederum, also z.B. die eigene Organisation, aber oft nicht bereit ist, aus diesen Beobachtungen und Adressat*innenwegen auch strukturell zu lernen.

Gerade für solche komplexen Netzwerksituationen scheint mir das vorliegende Buch gut geeignet. Das liegt daran, dass hier eine feine Gratwanderung zwischen einem sozialarbeiterisch fundierten und fachlich wie berufsethisch vermittelten Kompass (den ich brauche, wenn ich mich in der sozialen Komplexität eines Netzwerkes bewege) und gleichzeitig der Behutsamkeit gegenüber interdisziplinären Eigenheiten vollzogen wird. Zudem fällt positiv auf, dass hier wirklich Theoriearbeit geleistet wird, um Sichtbarkeit für und in der Praxis zu erzeugen: Die aus der Theorie entwickelten Kategorien (Disziplin-, Feld-, Prozess- und Evaluationswissen) tragen die Analyse der einzelnen Handlungsfelder. Die Handlungsfeldanalysen wiederum generieren ihr Wissen zu diesen Kategorien. Diese enge Zusammenarbeit zwischen den Herausgeber*innen und den Autor*innen wird vermutlich nicht ganz unaufwendig gewesen sein. Aber sie hat sich gelohnt. In der Lehre mit Studierenden der Sozialen Arbeit und deren Vorbereitung auf Netzwerkeinsätze (ubiquitär in der Sozialen Arbeit) als auch im Kontakt mit Praktiker*innen wie Netzwerkarbeiter*innen und Case Manager*innen werde ich das Buch daher wohl zukünftig einbringen und empfehlen.

Fazit

Die Einsichten und Erkenntnisse, die sich aus diesem gut abgestimmten Zusammenspiel von sozialarbeitswissenschaftlicher Theoriebetrachtung und Praxisfeldanalyse ergeben, sind gewinnbringend für die weitere wissenschaftliche Analyse, für das Verständnis der Praxis und insbesondere des Zusammenhangs von Handlungsfeldstrukturen und (ermöglichter bzw. verunmöglichter) Professionalität, für die Konzept- und Organisationsentwicklung sowie für die Weiterentwicklung und das Selbstverständnis im Case Management und im entsprechenden Weiterbildungsbereich. Ich wünsche diesem engagierten, in seiner erfreulichen Verschränkung durchaus originellen und insgesamt empfehlenswerten Buch eine weite Verbreitung.

Rezension von
Dr. Kolja Tobias Heckes
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Zitiervorschlag
Kolja Tobias Heckes. Rezension vom 14.09.2023 zu: Matthias Müller, Annerose Siebert, Corinna Ehlers (Hrsg.): Sozialarbeiterisches Case Management. Ein Lehr- und Praxisbuch. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-17-037270-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30517.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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