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Christel Baatz-Kolbe: Schamkompetenz in der Altenpflege

Rezensiert von Dr. rer. soc. Gudrun Silberzahn-Jandt, 22.09.2023

Cover Christel Baatz-Kolbe: Schamkompetenz in der Altenpflege ISBN 978-3-7841-3368-3

Christel Baatz-Kolbe: Schamkompetenz in der Altenpflege. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2023. 150 Seiten. ISBN 978-3-7841-3368-3. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.

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Thema

Das Buch widmet sich dem Thema Scham und schamauslösenden Situationen in der Altenpflege und möchte ein Modell vorstellen, wie Schamkompetenz zu entwickeln ist. Konkret geht es darum, dieses Gefühl zu enttabuisieren und Pflegepersonal zu befähigen, Schamerlebnisse erkennen und analysieren zu können und darüber zu reflektieren.

Autorin

Christel Baatz-Kolbe ist Sozialpädagogin, Supervisorin und Coach und seit vielen Jahren Geschäftsführerin und Leiterin einer Fachschule für Heilerziehungspflege in Würzburg.

Entstehungshintergrund

Die Veröffentlichung versteht sich als Fachbuch und nimmt Ergebnisse der 2020 entstandenen Dissertation mit dem Titel „Scham, die vernachlässigte Emotion in der Altenpflege“ auf. Ziel ist es, Erkenntnisse zu bündeln und Kompetenz im Umgang mit dieser Emotion zu vermitteln, um so professionelle Gefühlsarbeit in der Altenpflege zu befördern.

Aufbau und Inhalt

Nach einem Vorwort und Einleitung wird die Fragestellung und die empirische Basis vorgestellt. Grundlage war eine empirische Erhebung in einer Pflegeeinrichtung, bei der nach Auslösern von schamerregenden Situationen und den Reaktionen bei den unterschiedlichen Zielgruppen gefragt wurde. Simon W. Kolbe, Professor an der Hochschule Fürth, nimmt im Anschluss eine Einordnung des Kompetenzmodells vor, um so den Schamkompetenzerwerb integrieren zu können. Dabei bezieht er sich auf John Erpenbeck, wonach neben Wissen, personale, aktivitäts- und umsetzungsbezogene, fachlich-methodische und als Letztes sachlich-kommunikative Kompetenzen dazu führen können, Scham nicht nur wahrzunehmen und zu bewerten, sondern auch befähigt zu sein, darüber angemessen zu sprechen.

In Kapitel 3 geht die Autorin zunächst einen weiteren Schritt weg von dem Diskurs über Scham und beschreibt knapp die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Pflege unter den Stichworten Pflegebedürftigkeit, Fachkräftemangel und Wirtschaftlichkeit der Pflegeeinrichtungen, wie auch Digitalisierung, um dann noch knapp auf die Bedingungen der Pflege und Probleme hinsichtlich der Arbeitszufriedenheit einzugehen. In Kapitel 4 wird mit einem kurzen Abriss von gängigen Alterskonzepten, wie dem des kalendarischen oder biologischen Alters oder dem Lebenslagenansatz, der Blick auf das Alter eröffnet und als diskriminierend beschrieben. Kapitel 5 widmet sich dem Begriff Scham, indem zunächst ein sprachlicher Zugang gewählt wird: Scham hat demnach drei Bedeutungen „die negative, emotionale Selbstbewertung (sich schämen), Wert und Tugend als positive Eigenschaft (schamhaft sein) und die Bezeichnung des weiblichen Genitalbereichs.“ Scham, so, wird mit Bezug auf den Psychoanalytiker Léon Wurmser formuliert, wirft den Menschen auf sich zurück, zeigt seine Verletzlichkeit, kann Schmerz und Angst verursachen, aber auch eine schützende Funktion vor zu viel Nähe und Intimität bieten. Damit hat Scham stets auch eine soziale Dimension und fungiert als Signal im Umgang mit Beziehungen. Die Verortung von Scham in Pflegehandlungen beschreibt Baatz-Kolbe mit dem Hinweis auf die Forschungen der Pflegewissenschaftlerin Ursula Immenschuh und der von ihr betonten besonderen Bedeutung des Blicks auf Personen, der beschämend wirken kann.

Nach dem noch eher allgemeinen Zugang auf Scham geht es in Kapitel 6 um „Scham in Ausbildung, Beratung und Berufswelt“. Obwohl so offen formuliert, bezieht sich die Autorin, nachdem sie die Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten von Scham und Schuld dargelegt hat, auf soziale Institutionen und geht umfassend in großer Literaturkenntnis auf die Auslöser von Scham ein. Nach dem Sozialwissenschaftler Stephan Marks können vier Grundformen von Scham identifiziert werden, die auf eine Missachtung folgender Grundbedürfnisse basieren: dem nach „Anerkennung, Schutz und Intimität, Zugehörigkeit und Integrität“.

Der empirische Teil, die Feldforschung in der stationären Altenpflege, folgt als Kapitel 7, beginnend mit dem Vorstellen der von der Autorin verwandten Methoden, wie der teilnehmenden Forschung, leitfadengestützten Interviews und deren Kodierung, die allesamt auf dem Konzept der grounded theory fundieren. Kritisch verweist Christel Baatz-Kolbe darauf, dass es in ihrer Forschung zwar gelungen ist, das Erleben von Scham und das Erzählen darüber bei Bewohner*innen und Pflegepersonal zu erfassen, nicht aber bei Angehörigen. Die Ergebnisse der Studie finden sich im Kapitel 8 unter der Überschrift „Zentrale Auslöser für das Erleben von Scham“. Dabei identifiziert die Wissenschaftlerin drei Hauptkategorien: als erste die Selbstabwertung, die das Leben und Arbeiten im Pflegeheim, und den Verlust von Autonomie sowie dem Alter und Krankheiten geschuldeten Veränderungen betrifft. Als weitere Quelle von Scham ist die interaktionell bedingte angeführt, und hierzu gehören Pflegesituationen, Körpergerüche und -geräusche, Sexualität und auch sexualisierte Gewalt. Als dritten Auslöser konnte die organisational bedingte identifiziert werden und darunter fällt das Fehlen von Zeit wie auch die von Privatheit und Intimität. Mit vielen Zitaten aus den Interviews wird das jeweilige Phänomen und Erleben aus der Sicht der Betroffenen formuliert. Das Kapitel 9 fokussiert anhand des empirischen Materials die Reaktionen auf Scham, die sowohl individuell und interaktional sind und Strategien in der Kommunikation erfordern. Als individuelle Reaktion sind auf Seite der Bewohner *innen negative, wie Resignation, Traurigkeit, Wut oder Ironie beobachtet worden. Pflegekräfte hingegen üben auch Reflexion und Selbstwahrnehmung. Die Kommunikationsformen als weitere Reaktionen reichen von Tabuisieren, humorvollem Überspielen bis zum Thematisieren. Die nächsten drei Kapitel (10 bis 12) zu Schamverlust und Schamlosigkeit, Ansätzen zum Umgang mit Scham im pflegerischen Kontext und Auswirkungen auf den Pflegealltag sind sehr knapp gehalten. Darin werden andere nicht auf Scham konzentrierte Kommunikations- und Reflexionsmethoden vorgestellt, wie das Konzept der Permission Giving von Kathrin Odey oder die integrative Validation nach Nicole Richard.

Mit einem persönlich gehaltenen Schlusswort plädiert die Autorin für einen weiteren intensiven und reflektierten Umgang mit Scham.

Diskussion

Neben den Auseinandersetzungen mit den theoretischen Zugängen zum Thema Scham und den Strategien im Umgang damit ist der große Verdienst dieser Studie die empirische Forschung zur Scham als einem alltäglichen Phänomen in der stationären Langzeitpflege. Gut nachvollziehbar sind die Ergebnisse präsentiert und mit vielen Zitaten aus den Interviews dargestellt. Liest man das Buch an einem Stück, so fällt auf, dass bedauerlicherweise manche Zitate – wohl aufgrund ihrer Prägnanz – wiederholt auftauchen. Auch Theorien zu Scham finden sich nicht nur in dem Kapitel, das sich mit dem Wort auseinandersetzt, sondern auch in anderen Abschnitten. Eine Bündelung wäre hier durchaus hilfreich gewesen. Wie Schamkompetenz mit Kommunikationskompetenz verknüpft und vermittelt werden kann, ist leider in dem von Simon Kolbe verfassten Abschnitt sehr knapp dargestellt und nicht erneut aufgenommen.

Fazit

Diese Studie zur Scham stellt einen weiteren und bedeutenden Baustein in der Erforschung von Emotionen in der Pflege dar und betrachtet, was eine große Stärke ist, beide Seiten: sowohl die Gepflegten und Pflegebedürftigen. Flüssig geschrieben, sehr gut lesbar nimmt es die Leser*innen in die Welt der Pflege mit und lässt vieles davon in andere Bereiche, wie dem der Eingliederungshilfe übertragen. Es ist zu wünschen, dass dieses Werk vor allem in der Ausbildung Eingang findet und so der Umgang mit Emotionen in der Kompetenzentwicklung intensiv und reflektiert Beachtung finden.

Rezension von
Dr. rer. soc. Gudrun Silberzahn-Jandt
Kulturwissenschaftlerin, Referentin beim Caritasverband der Diözese Rottenburg – Stuttgart e.V.
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Es gibt 21 Rezensionen von Gudrun Silberzahn-Jandt.

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Zitiervorschlag
Gudrun Silberzahn-Jandt. Rezension vom 22.09.2023 zu: Christel Baatz-Kolbe: Schamkompetenz in der Altenpflege. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2023. ISBN 978-3-7841-3368-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30519.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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