Russell A. Barkley: Das große ADHS-Handbuch für Eltern
Rezensiert von Dr. Ramona Thümmler, 03.02.2012

Russell A. Barkley: Das große ADHS-Handbuch für Eltern. Verantwortung übernehmen für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2010. 3., aktual. Auflage. 455 Seiten. ISBN 978-3-456-84916-4. 29,95 EUR. CH: 44,80 sFr.
Autor
Russell A. Barkley, Professor für Psychiatrie und Neurologie am Medical Center der Universität von Massachusetts in Worcester (USA), Klinischer Psychologe und Neuropsychologe
Entstehungshintergrund
Das von Russell A. Barkley
verfasste Buch ist 2010 in der dritten Auflage erschienen. Die
Originalausgabe in englischer Sprache erschien im Jahr 2000. Eine
erste Auflage war auf dem deutschen Markt 2002 zu haben.
Barkley
selbst schreibt im Vorwort über die Zielsetzung seines Werkes:
„Dieses Buch bemüht sich darum, mit einigen Vorurteilen und
Missverständnissen über die ADHS aufzuräumen und es tut dies auf
der Grundlage von wissenschaftlich einwandfrei belegten
Erkenntnissen“ (S. 16). Zudem fließen seine Erfahrungen in der
Behandlung von über 1000 Familien im Medical Center der Universität
von Massachusetts ein.
Aufbau
Das hier vorgestellte Buch teilt sich neben Vorwort, Einleitung und Quellenangaben in vier große Kapitel auf:
- Teil I: ADHS – was ist das?
- Teil II: Verantwortung übernehmen: So vertreten Sie mit Erfolg die Interessen Ihres Kindes
- Teil III: Die ADHS bewältigen: Strategien für die Schule und zu Hause
- Teil IV: Die medikamentöse Behandlung der ADHS
Ebenfalls enthalten:
- Buchempfehlungen
- Hilfreiche Adressen
Inhalt
„Das wichtigste Ziel ist es, Eltern in die Lage zu versetzen, ihre oft schwierigen und anstrengenden Kinder so zu erziehen, dass weder das Wohlergehen einzelner Familienmitglieder noch das der gesamten Familie gefährdet wird“ (S. 10). Unter diesem Motto steht Barkleys Handbuch. Das Buch will den neuesten wissenschaftlichen Hintergrund darstellen und den Eltern vermitteln, wie sie ihren Kindern helfen können. Einer der Grundsätze dieses Buches ist, dass die Verantwortung für die Erziehung und Therapie des Kindes mit ADHS bei den Eltern liegt. Und so ist „jedes einzelne Kapitel dieses Buches geschrieben worden, um Sie in die Lage zu versetzen, dieser Verantwortung gerecht zu werden“ (S. 11). Dabei wird ADHS primär als eine Störung der Selbststeuerung verstanden, was bedeutet, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, ihr Ich in seinem sozialen Kontext zu managen.
Im Folgenden werden nun die Inhalte der vier großen Themenbereiche näher dargestellt.
In der Einführung legt Barkley Grundsätzliches zur Erziehung von Kindern mit ADHS vor. Als Eröffnung wählt Barkley eine Szene, die er mit einer Mutter in einem Erstgespräch erlebt hat. Diese schildert ihm, wie sie langsam, aber immer deutlicher die Beziehung zu ihrem Sohn verliert. Der Autor erläutert anhand dieses Beispiels, welche große Bedeutung der Beziehung und damit der emotionalen und geistigen Bindung zwischen Eltern und Kind zukommt. Im Weiteren verweist er darauf, dass die Erziehung eines Kindes mit ADHS eine echte Herausforderung ist. Es folgt die Zusammenstellung von neun allgemeinen Prinzipien für die Erziehung in Anlehnung an Covey, die Barkley auf ADHS-Kinder bezieht. Prinzipien wie „Agieren statt reagieren“, „Kräfte vereinen“ oder „Sich selbst etwas Gutes tun“ bilden die Grundlage für die weiteren Ausführungen. Barkley sind zwei weitere Punkte für sein Buch wichtig: Eltern sollen in die Lage versetzt werden, die Interessen ihres Kindes wirksam vertreten zu können und sie selbst sollen in die Lage versetzt werden, wissenschaftlich zu denken.
Der erste Teil des Buches „ADHS – Was ist das?“ stellt die Grundlagen der Störung vor: Was ist ADHS? Worin liegen die Ursachen? Wie äußert sich der Mangel an Selbstbeherrschung? Welche Folgen hat die Störung und welche Auswirkungen hat die ADHS auf den Kontext Familie?
Der zweite Teil „Verantwortung übernehmen: So vertreten Sie mit Erfolg die Interessen Ihres Kindes“ greift die praktische Dimension des Themas auf. Barkley geht hier der Frage nach, wann es sinnvoll und notwendig wird, sich an einen Spezialisten zu wenden und legt hierfür eine Liste mit sechs Punkten vor, die Eltern die Entscheidung erleichtern soll. Im Folgenden finden sich dann Hinweise, welche Experten sinnvoll sein können und worauf Eltern achten sollten. Es folgt ein Kapitel über die Vorbereitung auf die Untersuchung und ein weiteres über die Diagnosestellung und wie man damit umgehen kann. Im nächsten Kapitel werden dann, die von Barkley im Laufe seiner eigenen 24jährigen Tätigkeit entwickelten, neun Prinzipien für die Erziehung eines Kindes mit ADHS ausgeführt, von denen ich hier einige nennen werde: Sorgen Sie für mehr unmittelbare Rückmeldungen und Konsequenzen; Halten Sie dem Kind wichtige Informationen ständig vor Augen; Arbeiten Sie mit äußeren Motivationsstützen; Seien Sie konsequent; Machen Sie Denk- und Problemlöseprozesse physisch greifbar; Legen Sie sich für schwierige Situationen einen Plan zurecht. Barkley erläutert jedes dieser Prinzipien einzeln und ausführlich. Ein Kapitel zum Thema „Was Sie für sich selbst tun können“ schließt den zweiten Teil des Buches ab.
Im dritten Teil finden die
erläuterten Prinzipien ihren Niederschlag in konkreten Strategien
für die Schule und zu Hause. So startet der dritte Teil auch ganz
praktisch mit einem „Acht-Schritte-Programm zur Überwindung von
Verhaltensproblemen“. Das Programm widmet sich solchen Fragen wie
positive Zuwendung, effektivere Anweisungen geben, Einsatz von
Belohnungssystemen oder Umgang mit dem Kind in der Öffentlichkeit.
Die nächsten Kapitel gehen auf besondere Problemlösestrategien
auf Seiten der Eltern, auf die Beziehung zu Gleichaltrigen und auf
ADHS im Jugendalter ein.
Ein weiteres Kapitel beleuchtet die
schulischen Strategien. Barkley verweist hier
unmissverständlich auf die hohe Bedeutung der Lehrperson: Der
schulische Erfolg eines Kindes mit ADHS hängt direkt von der
Erfahrung des Lehrers oder der Lehrerin mit ADHS und dessen oder
deren Offenheit gegenüber dem Kind ab. Es folgen diverse Hinweise
für die Unterrichtsgestaltung und den Umgang mit Kindern mit ADHS in
der Schule.
Im vierten Teil des Buches werden auf gut 30 Seiten Hintergrundinformationen und Hinweise zur medikamentösen Behandlung bei ADHS gegeben.
Diskussion
Das mittlerweile als Standardwerk für
Eltern geltende Handbuch zum Thema ADHS bietet Eltern einen
kompetenten und anschaulichen Überblick über die Symptomatik, den
Verlauf und die Interventionsmöglichkeiten bei ADHS.
Dem
Anspruch ein wissenschaftlich fundiertes Buch vorzulegen kommt
Barkley teilweise nach. Zwar mögen seine Theorien und
Ausführungen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren; eine
Nachvollziehbarkeit durch genaue Quellenverweise ist für den Leser
allerdings nicht gegeben.
Kennzeichnend für das Barkley-Buch ist der amerikanische Schreibstil: der Leser wird direkt angesprochen und das gesamte Buch ist von einer sehr visionären Schreibweise durchzogen. An manchen Stellen drängt sich gar der Eindruck eines Heilungsversprechens auf, wenn Barkley schreibt: „Folgende Ergebnisse können Sie erwarten, wenn Sie diese Prinzipien gewissenhaft umsetzten“. Es folgt eine Liste von tollen Aussagen von „Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung“ über „Abbau von Konflikten“ hin zu „bessere Vorbereitung Ihres Kindes auf das Leben in der Gesellschaft“. Mitunter kann dieser Schreibstil für deutsche Verhältnisse aufdringlich oder unaufrichtig und damit abstoßend wirken. Im Umkehrschluss geht von dieser Schreibweise aber eine große motivierende Kraft aus, die Eltern mit einem Kind mit ADHS-Symptomatik ganz sicher stärkt.
Das leserfreundliche Buch enthält viele praktische Hinweise durch konkrete Schritte oder komplette Programme. Es ist gut handhabbar durch eingebaute Kästen mit schnellen Informationen oder Übungen, die oft – auch bei nichtbetroffenen Lesern – einen AHA-Effekt hervorrufen.
Ärgerlich ist, dass der Verlag die Auflage als aktualisiert herausgibt. In Barkleys Text finden sich keine Aktualisierungen oder neue Forschungserkenntnisse. Nach zehn Jahren der Ersterscheinung wäre sicher einiges neues von Interesse gewesen, vor allem in Hinblick auf das Kapitel zur medikamentösen Behandlung. Aktualisiert sind hingegen die Literaturhinweise und Adresslisten im Anhang des Buches. Besitzer der ersten oder zweiten Auflage kann demnach nicht zu einem Neukauf geraten werden.
Das Buch eignet sich für Eltern, Lehrer und Pädagogen, die sich in das Thema ADHS einarbeiten und konkrete Ideen für Handlungen oder Interventionen erarbeiten möchten.
Fazit
Das in der dritten Auflage erschienene Handbuch von Russell A. Barkley ist ein etabliertes Handbuch für Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen im Bereich ADHS. Das fundierte Buch zeigt vielfältige Ansatzpunkte für den Umgang mit Kindern mit ADHS und lebt vor allem von der direkten Schreibweise des Autors. Die eingearbeiteten konkreten Übungen und Programme bieten Eltern und Pädagogen Möglichkeiten, die aus der Praxis entstandenen Interventionen auch in ihrem Alltag umzusetzen und auszuprobieren. Eine kleine Einschränkung gilt es zu setzen: Auch wenn nun in der dritten Auflage erschienen, ist das Handbuch wissenschaftlich auf dem Stand vom Jahr 2000. Für die Aufarbeitung des wissenschaftlichen Standes sollte man also Alternativen hinzuziehen; für den praktischen Umgang mit Kindern mit ADHS und der Arbeit mit den Eltern ist das Handbuch allerdings noch immer aktuell und überaus wertvoll.
Rezension von
Dr. Ramona Thümmler
Technische Universität Dortmund
Fakultät für Rehabilitationswissenschaften
Fachgebiet Soziale und emotionale Entwicklung in Rehabilitation und Pädagogik
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Es gibt 5 Rezensionen von Ramona Thümmler.
Zitiervorschlag
Ramona Thümmler. Rezension vom 03.02.2012 zu:
Russell A. Barkley: Das große ADHS-Handbuch für Eltern. Verantwortung übernehmen für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2010. 3., aktual. Auflage.
ISBN 978-3-456-84916-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3052.php, Datum des Zugriffs 07.02.2023.
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