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Hermann Brandenburg (Hrsg.): Pflegehabitus in der stationären Langzeitpflege von Menschen mit Demenz

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 29.01.2024

Cover Hermann Brandenburg (Hrsg.): Pflegehabitus in der stationären Langzeitpflege von Menschen mit Demenz ISBN 978-3-17-037310-5

Hermann Brandenburg (Hrsg.): Pflegehabitus in der stationären Langzeitpflege von Menschen mit Demenz. Personzentrierte Pflegebeziehungen nachhaltig gestalten. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 230 Seiten. ISBN 978-3-17-037310-5. D: 49,00 EUR, A: 50,40 EUR.
Reihe: Gerontologische Pflege.

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Thema und Entstehungshintergrund

Demenzpflege ist gegenwärtig in Fachkreisen noch ein heikles Themenfeld, werden hier doch recht unterschiedliche und zugleich teils auch kontroverse Konzepte und Modelle vertreten. Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um die Zusammenfassung der DFG-Forschungsstudie „Habitus in der stationären Langzeitpflege bei Menschen mit Demenz“ (HALT), die vom Herausgeber als ein Beitrag zur „pflegewissenschaftlichen Grundlagenforschung“ bezeichnet wird.

Herausgeber, Autorinnen und Autoren

Dr. Hermann Brandenburg, Altenpfleger, Professor für Gerontologische Pflege an der Vinzenz Pallotti University in Vallendar (Rheinland-Pfalz).

Des Weiteren wirkten mit: Lola Maria Amekor, Dr. Heike Baranzke, Volker Fenchel, Leonie Mareen Göcke, Dr. Helen Güther, Dr. Lisa Luft, Dr. Alfons Maurer, Prof. Dr. Sabine Ursula Nover, Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist nebst Einleitung und Anhang in acht Kapitel gegliedert.

In der Einleitung und im ersten Kapitel skizziert der Herausgeber den Rahmen des Projektes, demnach es neben einer „biomedizinischen“ auch eine „psycho-soziale Dimension“ der Demenz in Gestalt der „personzentrierten Modelle“ gäbe, die jedoch bisher in der Praxis noch nicht nachgewiesen werden konnte: „Damit steht in Frage, ob es eine „person-zentrierte“ Pflege im Sinne einer empathischen, die Nähe zu Menschen mit Demenz zu suchenden Pflege … überhaupt gibt.“ (Seite 17). Im Anschluss wird auf die gegenwärtige Lage im stationären Sektor der Langzeitpflege auf der Grundlage der Pflegeversicherung und der ökonomischen Entwicklung hin zu einem renditeorientierten Pflegemarkt eingegangen.

Im zweiten Kapitel wird die theoretische Grundlage des Projektes entfaltet, wobei man sich strikt von der WHO-Definition der Demenz abgrenzt, die als „reduktionistisch“ und „biologistisch“ im Kontext einer „Verabsolutierung des medizinischen Standpunkts“ („medikale Pathologisierung“) interpretiert wird. Diesbezüglich wird von einer „kulturellen Dehumanisierung“ ausgegangen, die sich u.a. in einem „Hyperkognitivismus“ äußert. Als Alternative werden hierbei das Konzept des Theologen Malcom Goldsmith („Hearing die Voice of People with Dementia“) und das leibphänomenologische Modell „embodied selfhood“ der Rehabilitationswissenschaftlerin Pia C. Kontos angeführt. Weitere Konzepte im Sinne einer „sozialpsychologischen Repersonalisierung“ Demenzkranker sind u.a. das Modell der „person-zentrierten Pflege“ des Theologen und Psychologen Tom Kitwood und das weiterführende Konzept von Mike R. Nolan „relationship-centred care“.

Im dritten und vierten Kapitel wird der methodische Rahmen der Untersuchung mitsamt dem theoretischen Bezugsrahmen expliziert. Die empirische Erhebung wurde bei 15 Pflegenden in zwei Altenpflegeheimen mit dem Anspruch einer „personenzentrierten Pflege“ in den Jahren 2017 und 2018 auf zwei Demenzwohnbereichen durchgeführt. Folgende Vorgehensweisen kamen bei der Untersuchung zum Einsatz: teilnehmende Beobachtung, episodische Interviews und Gruppendiskussionen. Der theoretische und methodologische Kontext bestand aus wissenssoziologischen und philosophischen Ansätzen, die als „dokumentarische Methode“ bezeichnet wird: die Wissenssoziologie nach Karl Mannheim, die Habitus-Theorie nach Pierre Bourdieu und die Ethnomethodologie nach Harald Garfinkel.

Das fünfte Kapitel enthält wesentliche Bewertungen der Pflegenden hinsichtlich angemessener und zufriedenstellender Pflegeleistungen, die in den Interviews ermittelt wurden. Als eine „gute Pflege“ wird überwiegend die sichtbare Zufriedenheit der Demenzkranken eingeschätzt: „den Moment schönmachen“ – „gut ist, wenn der Bewohner zufrieden ist und ich auch“. Hierbei werden mehrmals die „Muttergefühle“ erwähnt, die im Laufe der Zeit im Umgang mit den höchstgebrechlichen Bewohnern entstanden sind. Erwähnt wird auch der Sachverhalt, dass zur guten Pflege u.a. ein „reibungsloser Ablauf“ gehört.

Im sechsten Kapitel werden diese Einstellungen zur Pflege und zum Umgang mit Demenzkranken analysiert und klassifiziert (Typenbildung), wobei als übergreifendes Strukturelement der allgemeine Bezugsrahmen der Sach- und Beziehungsorientierung in der Pflege herangezogen wird („Routine oder Bedürfnis“). So möchten z.B. verstärkt beziehungsorientierte Pflegende den „Bewohnern ein Zuhause geben“ und sie regelrecht teils auch mit verstärktem Körperkontakt und Massagen „verwöhnen“. Des Weiteren werden bezüglich des Umgangs mit stressbezogenen Interaktionen bei der Pflege verschiedene Strategien angeführt: u.a. die Veranlassung einer medikamentösen Behandlung, Ablenkungsmanöver, andere Zeitpunkte für die Pflegehandlungen und Übergabe der Demenzkranken an Kollegen zur weiteren Pflege.

Im siebten Kapitel wird eine Interpretation des Datenmaterials auf dem Hintergrund eines theoretischen Rahmens vorgenommen, der aus den Konzepten von Kitwood, Nolan und der „Leibphänomenologie“ von Thomas Fuchs besteht. Das Fazit besteht aus dem Vorwurf, dass die Pflegenden zu Praktiken der „Täuschung“ und anderer „Machtmitteln“ greifen, um notwendige Pflegehandlungen aus der Sicht der Pflegenden zu ermöglichen. Diese Handlungsweisen werden als eine „asymmetrische Kommunikation“ mit negativen Folgen für die Demenzkranken gedeutet.

Das abschließende achte Kapitel besteht aus einer Diskussion der am Projekt Beteiligten. Zu Beginn wird auf das Resultat der Studie verwiesen, dass sich eine „personenzentriete Pflege“ in der Praxis bisher nicht etablieren konnte. Des Weiteren wird herausgearbeitet, „dass weniger ein beziehungsorientierter Pflegestil im Alltag umgesetzt wird, viel eher ein medikaler und funktionaler Programmcode die Bühne der Interaktionen bestimmt.“ (Seite 194). In diesem Zusammenhang wird die Ansicht vertreten, dass eine gute Pflege weniger das Ergebnis eines systematischen Pflegeprozesses ist, „sondern eher als zufälliges Produkt günstiger habitueller Konfigurationen (Wissen, Einstellungen, Orientierungsrahmen)“ aufgefasst werden kann (Seite 195). Des Weiteren wird u.a. der Sachverhalt bemängelt, dass einerseits der Rahmen der Pflege durch eine Vielzahl an institutionellen und gesetzlichen Bestimmungen und Vorgaben überreguliert ist. Anderseits würden aber den Pflegenden für den konkreten Umgang mit den Demenzkranken keine praxistauglichen Handlungsempfehlungen zur Verfügung stehen. Kritisiert wird u.a. auch: „Nach wie vor dominiert ein Mindeststandard von trocken, satt, sauber, still und sicher“ und des Weiteren: „Wir haben einen Dokumentationsfetischismus“ (Seite 199).

Diskussion

Der vorliegende Abschlussbericht eines von der Deutschen Forschungsgesellschaft geförderten Projektes über die Pflege Demenzkranker in stationären Einrichtungen zeigt mehrere Dilemmata auf:

Das erste Dilemma zeigt sich in der strikten Ablehnung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Demenzen (u.a. „reduktionistisch“ und „biologistisch“), die zu einer „kulturellen Dehumanisierung“ führe. Als Alternative werden verschiedene Konzepte einer „sozialpsychologischen Repersonalisierung“ Demenzkranker eingehend dargestellt. Dabei handelt es sich überwiegend um Modelle „person-zentrierter Pflege“, die u.a. auf den Annahmen der „humanistischen Psychologie“ von Carl Rogers basieren. Dieses Konzept ist jedoch normativ, empirisch nicht überprüfbar und damit als Bezugsrahmen für die Pflege als erfahrungsbezogenes Handeln nicht geeignet.

Das zweite Dilemma besteht aus dem Untersuchungsergebnis der vorliegenden Studie, dass in den Heimen trotz intensiver Fortbildung der Pflegenden die alternativen „person-zentrierten“ Umgangsformen nicht angewendet werden. Die Pflegenden praktizieren weiterhin die vertrauten Pflegestile, die u.a. auf Ablenkung und Beruhigung basieren, u.a. um die Pflege überhaupt zu ermöglichen. Diese Umgangsformen der Pflege werden jedoch von den Autoren der Erhebung als „Täuschung“ und Machtmissbrauch diskreditiert. Somit besteht ein tiefgreifendes „Theorie-Praxis-Problem“ dergestalt, dass die alltägliche Pflege Demenzkranker nicht mit den Vorstellungen über eine „person-zentrierte Pflege“(u.a. Kitwood und Feil) übereinstimmen. Derartige Diskrepanzen in der Pflege Demenzkranker wurden bereits in verschiedenen vorhergehenden Studien ermittelt (u.a. Boggatz et al. 2022, Dammert et al. 2016 und Kotsch et al. 2013). So fühlten sich Pflegende durch Schulungen dieser Modelle teils überfordert und zusätzlich im Umgang mit den Demenzkranken verunsichert, mussten sie doch ihre bisherigen Vorgehensweisen bei der Pflege größtenteils in Frage stellen bzw. aufgeben. Auch werden von Pflegenden bestimmte Kommunikationsempfehlungen dieser Konzepte als realitätsfern und bloße „Schauspielerei“ betrachtet (Dammert et al. 2016).

Das dritte Dilemma aus der Sicht des Rezensenten besteht aus dem Unvermögen der Autoren, diese Widersprüche in ihrer Tragweite zu erfassen und die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen. Da keine „person-zentrierte Pflege“ nachgewiesen werden konnte, hätte man nach den Regeln der empirischen Forschung diesen Ansatz aufgeben müssen (Falsifikationsprinzip). Doch anstelle einer grundlegenden Neuorientierung jenseits der nichtexistenten Pflegepraktiken wird ohne jedweden Beleg die Behauptung aufgestellt, dass das wirksame und tagtäglich praktizierte Pflegeverhalten nur negative Folgen für die Demenzkranken hätte.

Fazit

Die vorliegende Studie ist ein äußerst aussagekräftiges Dokument bezüglich des Sachverhaltes, dass im Bereich der theoretischen Erfassung der Demenzpflege gegenwärtig ein wildes Durcheinander herrscht. So werden das Fachwissen der Neurowissenschaften und die Erfahrungswerte der konkreten Demenzpflege negiert und durch normative, empirisch nicht überprüfbare Annahmen ersetzt. Auf diesem Hintergrund wird kein Bezugsrahmen für die Demenzpflege im Sinne einer Einheit von Theorie und Praxis entstehen können.

Literatur

Boggatz, T. et al. (2012): Demenz. Ein kritischer Blick auf Deutungen, Pflegekonzepte und Settings. Verlag W. Kohlhammer. https://www.socialnet.de/rezensionen/​29548.php

Dammert, M. et al. (2016): Person-Sein zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Beltz Juventa Verlag (Weinheim und Basel).

Kotsch, L. et al. (2013): Selbstbestimmung trotz Demenz? Ein Gebot und seine praktische Relevanz im Pflegealltag, Verlag Beltz Juventa, Weinheim und Basel.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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ISSN 2190-9245