Miriam Bredemann: Geschlecht und Geschlechtergerechtigkeit in der Supervision
Rezensiert von Prof. Dr. Tim Middendorf, 08.09.2023

Miriam Bredemann: Geschlecht und Geschlechtergerechtigkeit in der Supervision. Eine Diskursanalyse. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 360 Seiten. ISBN 978-3-7799-7306-5. D: 49,00 EUR, A: 50,40 EUR.
Thema
Dr. Miriam Bredemann untersucht in der vorliegenden Veröffentlichung den im Supervisonskontext kaum geführten Geschlechterdiskurs. Sie benennt zu Beginn der Arbeit: „Diese De-Thematisierung erstaunt umso mehr, als dass gerade die Geschlechterforschung viel über den Zusammenhang von (Berufs-)Arbeit und Geschlecht beigetragen hat (…)“ (S. 12). Die Autorin thematisiert das benannte Desiderat und erforscht diskursanalytisch die De-Thematisierung geschlechterbezogener Ungleichheitslagen in supervisorischen Veröffentlichungen (1979-2021) unter Berücksichtigung der berufspolitisch geführten Debatte über eine Implementierung von Gender-Mainstreaming in die Supervision und die Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V. (DGSv) und von Erkenntnissen aus Expert*inneninterviews.
Autor:in oder Herausgeber:in
Dr. Miriam Bredemann ist Diplom-Sozialpädagogin mit Sozialpsychiatrischer Zusatzausbildung. Nach und neben ihrer Tätigkeit als Sozialpädagogin studierte die Autorin Arbeits- und Organisationspsychologie (B. A.) im Fernstudium. Nach einem weiterbildenden Masterstudiengang „Supervision und Beratung“ an der Universität Bielefeld wurde Dr. Miriam Bredemann im Jahr 2022 im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Universität promoviert. Aktuell ist sie als Supervisorin und Coach in eigener Praxis selbstständig und lehrt im Weiterbildenden Masterstudiengang „Supervision und Beratung“ am „Zentrum für Wissenschaftliche Weiterbildung“ an der Universität Bielefeld.
Entstehungshintergrund
Bei der Veröffentlichung handelt es sich um eine Dissertation an der Universität Bielefeld mit dem Originaltitel: „Diskurs über Geschlecht in der Supervision. Eine Diskursanalyse der Veröffentlichungen in supervisorischen Fachzeitschriften“.
Aufbau
Der Aufbau des 360 Seiten umfassenden Werks ist komplex. Nach einem Geleitwort der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V. beginnt Dr. Miriam Bredemann mit einer Einleitung, um anschließend eine Teilung vorzunehmen.
Der Teil 1 „Forschungsstand und methodisches Vorgehen“ (S. 60–144) stellt dezidiert den aktuellen Forschungsstand und die forschungsmethodische und -methodologische Rahmung des Projekts dar.
Teil 2 „Rekonstruktion und Analyse des Diskurses über Geschlecht in der Supervision“ (S. 149–360) umfasst die Forschungsergebnisse, ein Fazit und Ausblick, ein umfangreiches Literaturverzeichnis, Anhänge und eine Danksagung.
Die Ergebnisse werden durch drei Diskurslinien „Gerechtigkeit, sozialer Wandel und Umsetzung der Chancengleichheit im Beruf“ (S. 146–239), „Supervision als ein funktionales Instrument zur Anpassung an berufliche und betriebliche Modernisierungsanforderungen“ (S. 237–273) und „Supervision in den sozialen Dienstleistungsberufen – ein Feld, das nach Supervision mit einem Geschlechterwissen fragt“ (S. 273–307) strukturiert. Ein weiteres Merkmal der Strukturierung ist die fortwährend gleiche Darstellung der Ergebnisse innerhalb der Diskurslinien: Nach einer kurzen Einführung werden zwei Referenzrahmen, verschiedene Belegführungen und ein Fazit dargelegt, nur die erste Diskurslinie weicht durch die „Berufspolitische Debatte über die Implementierung von Gender-Mainstreaming in die DGSv und die Supervision“ (S. 189–237) geringfügig vom genannten Aufbau der Diskurslinien ab.
Inhalt
Die Einleitung umfasst die Unterkapitel „Begründungskontext“ (1.1), „Erkenntnisleitendes Interesse und Anliegen der Arbeit“ (1.2), „Problemaufriss“ (1.3) sowie „Aufbau der Arbeit“ (1.4). Während die Unterkapitel 1.1, 1.2 und 1.4 selbsterklärend sind, führt vor allem der „Problemaufriss“ (1.3) schon theoretisch tief in grundlegende Verständnisse von Supervision und Geschlechterdiskurse ein. Dr. Miriam Bredemann spannt den Problemaufriss mittels vier Dimensionen auf:
„Supervision als weibliche Praxis“ (1.3.1), „Supervision als soziales Milieu: Zur Intersektionalität von Milieu und Geschlecht in Sozialer Arbeit und Supervision“ (1.3.2), „Das supervisorische Wissenssystem und seine blinden Flecken im Hinblick auf die Geschlechterperspektive“ (1.3.3) und „Deprofessionalisierte und feminisierte soziale Praxis und die Bewegung des unternehmerischen Diskurses in der Supervision“ (1.3.4). Sie streift in diesem Zuge zum Beispiel Pierre Bourdieus Konzepte des sozialen Raums und des Habitus (S. 28 ff.). Das bedeutet: Die Einleitung schafft einerseits einen Überblick über die Beweggründe zum Forschungsprojekt und setzt andererseits schon erste theoretische Ankerpunkte.
Der Teil 1 des Werks beinhaltet das zweite Kapitel „Forschungsstand“ und das dritte Kapitel „Methodisches Vorgehen“.
Im Forschungsstand stellt Dr. Miriam Bredemann „Studien zu Supervision und Geschlecht“ (2.1) vor, schafft eine „Einordnung des Forschungsstands und Konsequenzen für das Forschungsanliegen“ (2.2) und rundet dies mit einem „Fazit“ (2.3) ab. Zu Beginn konstatiert die Autorin: „Im Zusammenhang mit professionsbezogener Reflexion und arbeitsbezogener Beratung fehlt es derzeitig noch an einer systematischen Forschung zum Verhältnis von Geschlecht, Beruf, Biografie und Supervision“ (S. 60). Trotz des benannten Desiderats schafft Dr. Miriam Bredemann einen ausführlichen Überblick über größere und kleinere Forschungsprojekte (im Schwerpunkt Qualifizierungsarbeiten), die im gekennzeichneten Themenfeld angesiedelt sind. Als besonders hervorzuheben ist, dass neben der Aufführung der Projekte immer zentrale Forschungsergebnisse benannt werden, sodass sowohl eine vertiefende Auseinandersetzung als auch ein überblicksartiges Lesen gewinnbringend erscheinen. Im Nachgang an die Darstellung des Forschungsstands kategorisiert die Autorin zentrale Erkenntnisse für ihre Forschungsarbeit und leistet auf diesem Wege Anknüpfungspunkte an das dritte Kapitel.
Das Kapitel Methodisches Vorgehen (3) ist unterteilt in zwei methodologische Stränge: „Diskurstheoretische Annahmen von Michel Foucault“ (3.1) und „Die wissenssoziologische Diskursanalyse“ (3.2). Im dritten Unterkapitel „Ablauf der Analyse“ (3.3) stellt Dr. Miriam Bredemann ihr forschungsmethodisches Vorgehen dar. Die diskurstheoretischen Annahmen von Michel Foucault stellt die Autorin dem Kontext entsprechend vor: „Hierbei wird der besondere Erkenntnisgewinn seiner diskurstheoretischen Arbeiten im Hinblick auf die Beantwortung der Forschungsfrage der vorliegenden Forschungsarbeit verdeutlicht“ (S. 111). Nach der an Keller (2011) orientierten Begriffsbestimmung von Diskurs geht Dr. Miriam Bredemann vertiefend auf das Foucault’sche Verständnis von der Archäologie des Wissens (3.1.1), auf „Diskurstheoretische Annahmen als Genealogie von Macht/​Wissen-Regimen“ (3.1.2) und das „Konzept der Gouvernementalität“ (3.1.3) ein. Sie führt diesbezügliche zentrale Werke von Foucault heran und erläutertet diese in Hinblick auf diskurstheoretische Perspektiven. Deutlich kürzer fallen die Ausführungen zur wissenssoziologischen Diskursanalyse aus. Angelehnt an Reiner Keller stellt die Autorin die „interpretative Forschungsperspektive, die sich an den jeweiligen Forschungsvorhaben konkretisiert“ (S. 126), vor. Die methodologischen Grundannahmen werden mit Foucault verknüpft und münden in der Darstellung des Ablaufs der eigenen Analyse (3.3). Die Analyse im Forschungsprojekt erfolgt dreischrittig: Erstellen des Datenkorpus und Analyse der Form und des Inhalts von Äußerungen (S. 131); Auswahl von Daten für die Feinanalyse (S. 139); Von der Feinanalyse zum Gesamtergebnis (S. 141). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Teil 1 der Veröffentlichung einen Überblick über die theoretischen Grundannahmen und das forschungsmethodische Vorgehen bietet. Dr. Miriam Bredemann stellt auf diese Weise die Grundlagen für eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit des Forschungsprojekts im zweiten Teil her.
Der Teil 2 des Werks beinhaltet das vierte Kapitel „Diskurslinien“, das fünfte Kapitel „Fazit und Ausblick“ sowie das Literaturverzeichnis, Anhänge und eine Danksagung.
Diskurslinien (4) ist das quantitativ umfangreichste Kapitel und beinhaltet die Ergebnisdarstellung des Forschungsprojekts. In der Diskurslinie 1 „Gerechtigkeit, sozialer Wandel und Umsetzung der Chancengleichheit im Beruf“ (S. 149–239) wird Supervision „als Instrument der Umsetzung von sozialen und politischen Reformen im Sinne einer rechtsstaatlich verfassten sozialen und liberalen Demokratie begründet“ (S. 146). Dr. Miriam Bredemann analysiert die Geschlechterdiskurse in supervisorischen Veröffentlichungen inklusive theoretischer Exkurse (zum Beispiel Martha Nussbaums Ethik des guten Lebens (S. 178 ff.)) und stellt die berufspolitische Diskussion zur Implementierung von Gender-Themen in die DGSv dar. Die Autorin fasst zusammen: „Es wird erkennbar, dass es nicht an der Qualität des Diskurses liegt, dass dieser wenig rezipiert wird. Vielmehr werden strukturelle, im Milieu der Supervision liegende Barrieren ersichtlich, die eine Rezeption des akademischen und politischen Geschlechterdiskurses in der Supervision und der DGSv verhindern. Die bereits im Problemaufriss benannte Verwurzelung der Supervision in der Kirche spielt hierbei eine Rolle“ (S. 238). In der Diskurslinie 2 „Supervision als ein funktionales Instrument zur Anpassung an berufliche und betriebliche Modernisierungsanforderungen“ (S. 239–273) gilt Supervision unter anderem „als ein Instrument zur Personalentwicklung. Sie unterstützt Akteure bei der Umsetzung von Strategien, Interessen und hilft beim Aufbau von Marktsubjektivität“ (S. 146). In diesem Zusammenhang rekonstruiert und analysiert Dr. Miriam Bredemann den Diskurs zur oben genannten Diskurslinie inklusive ihrer inhärenten Widersprüche, wie zum Beispiel: „Widersprüchlichkeit zwischen einem geschlechterdemokratischen Anspruch der Supervision und Supervision als funktionales Instrument der An- und Einpassung in ungerechte Arbeits- und Beschäftigungskonfigurationen“ (S. 272). Die Diskurslinie 3 „Supervision in den sozialen Dienstleistungsberufen – ein Feld, das nach Supervision mit einem Geschlechterwissen fragt“ (S. 273–307) umfasst „den supervisorischen Arbeits- und Beziehungsraum als vergeschlechtlichten Raum und die Entwicklung der sozialen Dienstleistungsarbeit“ (S. 147). Diskursanalytisch betrachtet Dr. Miriam Bredemann supervisorische Publikationen und Diskussionen mit dem Ergebnis, dass „die Praxis einzelner Felder, in denen Supervision durchgeführt wird, zwangsläufig zu einem Einbezug von Genderwissen und Genderkompetenz in der Supervision geführt hat“ (S. 306). Sie stellt daher heraus, dass der Geschlechterdiskurs eher aus den Feldern der Praxis in die Supervision getragen wird und sich nicht aus ihr heraus entwickelt. Das erscheint problematisch: „Der Geschlechterdiskurs ist heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen und sollte deshalb auch in der Supervision Berücksichtigung finden (S. 307)“.
Das fünfte Kapitel Fazit und Ausblick fasst die gesammelten Erkenntnisse in Rückgriff auf die leitende Fragestellung zusammen. Die Autorin bündelt die umfangreichen Ergebnisse ihrer Studie in kategorisierten Oberthemen und leitet für die Supervision zwei zentrale Handlungsempfehlungen ab: Implementierung von Geschlechterwissen in die supervisorischen Ausbildungen und Selbstreflexion der supervisorisch Tätigen und ihres Berufs- und Fachverbandes (S. 310 f.).
Diskussion
Mit dem vorliegenden Werk schafft Dr. Miriam Bredemann einen Meilenstein für eine geschlechtersensible Supervision. Akribisch aufgearbeitet stellt sie eindrucksvoll die De-Thematisierung von Geschlecht und Geschlechtergerechtigkeit in der Supervision dar und legt dabei wissenschaftlich begründet wiederholt den Finger in die Wunde. Das vollzieht die Autorin unter Rückgriff auf vielfältige und komplexe theoretische Bezüge, die in der Fülle nicht immer leicht zugänglich sind. Das Werk eignet sich daher besonders für Interessierte an einer wissenschaftlich fundierten Supervision und für Forschende im supervisorischen Kontext.
Fazit
Mit dem vorliegenden Werk leistet Dr. Miriam Bredemann einen wichtigen Beitrag zur Supervisionsforschung. Sie analysiert den supervisorischen Diskurs in Bezug auf die De-Thematisierung von Geschlecht und leitet Begründungszusammenhänge und Empfehlungen für die Profession Supervision ab. Auf diese Weise unterstützt und ergänzt das Werk den supervisorischen Professionalisierungsprozess.
Rezension von
Prof. Dr. Tim Middendorf
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Zitiervorschlag
Tim Middendorf. Rezension vom 08.09.2023 zu:
Miriam Bredemann: Geschlecht und Geschlechtergerechtigkeit in der Supervision. Eine Diskursanalyse. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7306-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30531.php, Datum des Zugriffs 03.10.2023.
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