Heinrich Greving, Ulrich Scheibner (Hrsg.): Werkstätten für behinderte Menschen
Rezensiert von Dr Irmgard Plößl, Dr. Ute Schottmüller-Einwag, 19.05.2023
Heinrich Greving, Ulrich Scheibner (Hrsg.): Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 379 Seiten. ISBN 978-3-17-038496-5. 39,00 EUR.
Thema
Ein Sammelband von 11 Aufsätzen von 8 Autoren, die eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit der Arbeit in den Werkstätten für behinderte Menschen als auch mit den von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gesetzten Rahmenbedingungen enthalten. Mit Ausnahme des Kapitels 8, das sich mit Arbeitssystemen für Menschen mit Beeinträchtigungen in anderen europäischen Ländern beschäftigt, bildet das deutsche Werkstattsystem den Schwerpunkt der Betrachtungen.
Die Herausgeber sind Prof. Dr. Heinrich Greving, Hochschullehrer für Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und Ulrich Scheibner, mehr als 20 Jahre Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen e.V.
Inhalt und Autoren
Nach einem Vorwort der beiden Herausgeber, gemeinsam mit Bernhard Sackarendt, in dem die Schwierigkeiten bei der Erstellung des Buches dargestellt und ein Teil der Autoren vorgestellt werden, folgt ein Kapitel von André Thiel, einem ehemaligen kurzzeitigen Werkstattbeschäftigten, der sich mit diesen Erfahrungen kritisch auseinandersetzt. Er leitet daraus zahlreiche Verbesserungsvorschläge ab, wie beispielsweise Mindestlohn für Werkstattbeschäftigte, Beibehaltung einer sicheren Rente beim Wechsel auf einen Arbeitsplatz im allgemeinen Arbeitsmarkt und eine der jeweiligen Person angemessene Vorbereitung einer Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Hubert Hüppe, ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, erarbeitet in seinem Beitrag in Kapitel 2 den Konflikt der Realität der Werkstätten mit Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes, nach dem niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Er sieht darin, dass die Menschen wegen ihrer Behinderung in Werkstätten arbeiten, eine unzulässige Benachteiligung hinsichtlich der rechtlichen Ungleichstellung, finanziellen Benachteiligung und der sozialen Zurücksetzung.
In Kapitel 3 thematisieren die beiden Herausgeber als Autoren die Macht der Sprache, indem sie die aus ihrer Sicht erniedrigende Wirkung von Begriffen wie „Werkstatt für behinderte Menschen“ oder „Werkstattvertrag“ erläutern. Die Autoren sehen auch in der Abkürzung „UN-BRK“ statt der Verwendung des Begriffs „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ eine systematische Vorenthaltung von Wissen.
Die folgenden Kapitel 4 bis 7 und 10 wurden von Bernhard Sackarendt, der 12 Jahre lang stellvertretender Vorsitzender der BAG WfbM war, und Ulrich Scheibner verfasst. In Kapitel 4 stellen die Autoren zum einen die historische Entwicklung der Werkstätten und zum anderen die Vorteile der Werkstätten für Politik und Wirtschaft dar. An einzelnen Beispielen werden verschiedene Formen von Gewalt dargestellt, denen Werkstattbeschäftigte ausgesetzt sein können.
Die Autoren beschreiben in Kapitel 5 die Arbeit der Werkstätten als eine politisch in den 1970er Jahren gewollte „Sonderwelt“, indem sie Unterschiede zur „typischen“ Arbeitswelt ausmachen. Sie identifizieren die negativen Folgen der in den Werkstätten geleisteten Arbeit für die Werkstattbeschäftigten. Nach Ansicht der Autoren profitieren die Eigentümer und Betreiber der Werkstätten von dieser Arbeit.
Auch in Kapitel 6 wird die These wiederholt, dass Werkstattleitungen und -träger den Hauptnutzen aus der Werkstatt ziehen. Anhand einiger Skandale wird auf skandalöse Strukturen geschlossen, die durch Intransparenz begünstigt werden.
Die Autoren stellen in Kapitel 7 dar, wie sowohl die deutschen Gesetze als auch die Vorgaben und Anforderungen des Arbeitsmarkts die Inklusion beeinträchtigter Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt verhindern und leiten Forderungen für Änderungen daraus ab.
In Kapitel 8 geht der Autor, Franz Wolfmayer, auf das System der Inklusionsbetriebe in Deutschland ein und vergleicht die Ausprägungen der Teilhabe an Arbeit in verschiedenen europäischen Ländern. Er vergleicht die Forderungen der UN-BRK mit der Realität und identifiziert Verletzungen dieser Rechte im gegenwärtigen deutschen System. Außerdem formuliert er Anforderungen an eine europäische Sozialpolitik und stellt klar, welche Auswirkungen dieses Umdenken besonders auf die „zwischenmenschliche Infrastruktur“ (S. 261) hat. Eine seiner Forderungen ist wegzukommen von den Bedürfnissen der Organisationen hin zu den Bedürfnissen der beeinträchtigten Menschen.
Rainer Knapp und Ulrich Scheibner beschreiben in Kapitel 9 das unserer Wirtschaft zugrundeliegende Menschenbild und die daraus resultierenden Schwierigkeiten der Menschen mit Beeinträchtigung, die nicht in dieses Menschenbild passen und deshalb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Arbeit finden. Mit dieser Herleitung kommen die Autoren zu dem Schluss, dass es zynisch sei, unter diesen Bedingungen einseitig an die Werkstätten die Forderung zu stellen, mehr Werkstattbeschäftigte auf den Arbeitsmarkt zu vermitteln. „Denn das schiebt den „Werkstätten“ den Auftrag zu, den die Wirtschaft zu erfüllen hat“ (S. 276).
In Kapitel 10 fassen die Autoren Bernhard Sackarendt und Ulrich Scheibner die Forderungen aus den vorangegangenen Kapiteln noch einmal zusammen, skizzieren ihre Vorstellungen hin zu einer Abschaffung der Werkstätten und weisen auf die negativen Folgen einer starken Konzentration der Werkstattanbieter auf die drei großen Anbieter Bundesvereinigung Lebenshilfe, Deutscher Caritasverband und Diakonisches Werk Deutschland hin.
In Kapitel 11 rekapituliert Wilfried Windmöller, der von 1976 bis 1984 erster gewählter Vorsitzender der BAG WfbM war, noch einmal die bereits bekannten Themen und zieht sein persönliches Berufsfazit: „Warum nur habe ich als langjähriger Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten gemeinsam mit meinen fortschrittlichen Freunden und Vorstandskollegen die Berichte der Experten ignoriert, die schon im 19. Jahrhundert das rigide Anstaltswesen in Frage gestellt hatten?“ (S. 331). Er setzt sich auch mit dem Begriff der Inklusion auseinander (S. 342) und grenzt ihn von den Begriffen Exklusion, Segregation und Integration ab.
Diskussion
Dieses Buch bietet eine wichtige Bestandsaufnahme der Schwachstellen von Werkstätten und der Notwendigkeit der Weiterentwicklung, geschrieben von Kennern der Werkstätten, sowohl in Leitungsfunktionen in Werkstätten als auch im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten als auch in der Wissenschaft. Auch der Zusammenhang zwischen der Arbeit der Werkstätten und den umgebenden Systemen von Politik, Recht und Wirtschaft wird aufgezeigt. In verschiedenen Analysen unter anderem von Sprache, Strukturen, Recht und Wirtschaft werden die Wirkungen einzelner gesellschaftlich-politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen für Teilhabe an Arbeit für Menschen mit Beeinträchtigung dargestellt und kritisiert. Ziel ist dabei immer die Umsetzung der Rechte für Menschen mit Beeinträchtigung nach der UN-BRK. Die Autoren liefern dafür zahlreiche Änderungsvorschläge.
Die einzelnen Kapitel enthalten zahlreiche Überschneidungen und Wiederholungen. Auch fehlt eine einheitliche, den Aufsätzen gemeinsame Definition von Inklusion, obwohl diese laut Klappentext „Maßstab für die fachliche Kritik der acht Autoren“ sein soll. Erst im letzten Kapitel erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff und eine Definition (S. 342), von der aber unklar bleibt, ob die anderen Autoren diese Definition ebenfalls zugrunde legen. Die Behauptung, dass den Werkstattbeschäftigten keine Rechtsansprüche zustehen (S. 204), ist falsch. So gelten beispielsweise die folgenden Gesetze für Werkstattbeschäftigte analog und sichern ihnen die gleichen Rechte: Bundesurlaubsgesetz, Teilzeit- und Befristungsgesetz, Mutterschutzgesetz.
In diesem Sammelband kommt mit André Thiel nur ein Autor mit einer Körperbehinderung als ehemaliger Nutzer einer WfbM zu Wort. Der Sichtweise und Einschätzung von Menschen mit Behinderung auf die Werkstätten so wenig Raum zu geben in einem immerhin fast 400 Seiten umfassenden Buch, entspricht nicht dem Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“. Um vom „Prinzip der patriarchalisch geprägten, bevormundenden Fürsorge“ (S. 259) weg zu kommen hin zum Prinzip der Selbstbestimmung wäre es wichtig, unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen von Nutzerinnen und Nutzern zu hören und zu integrieren. Die mit über 70 % der Werkstattbeschäftigten (BAGüS-Kennzahlenvergleich) weitaus größte Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung kommt in diesem Buch überhaupt nicht zu Wort.
Und auch Menschen mit Behinderung, die in der Werkstatt eine für sie zufriedenstellende Arbeit gefunden haben, finden keine Berücksichtigung. Dabei wäre es wichtig, auch darzustellen, welche positiven Auswirkungen das gegenwärtige System der Werkstätten auch hat, damit im notwendigen Prozess der Weiterentwicklung der Beruflichen Teilhabe nichts von diesen positiven Aspekten im Transformationsprozess verloren geht. Die Stärken und Kompetenzen von Werkstätten, wie etwa die Bereitstellung von Arbeitsplätzen, die Unterstützung bei der Arbeit, die berufliche Rehabilitation sowie die Bildung und die soziale Teilhabe finden in diesem Buch kaum Erwähnung. Auch bleiben die Vorteile der Werkstätten für die dort beschäftigten Menschen unerwähnt, wie beispielsweise eine Arbeitsplatzgarantie unabhängig von der Leistung, die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Arbeitsmöglichkeiten oder das Erleben von Zugehörigkeit.
Die Autoren kritisieren eine „offen diskriminierende oder subtil demütigende Sprache“ (S. 49) und setzen sich in Kapitel 3 mit den Wirkungen von Sprache auseinander. Dennoch verwenden die Autoren selbst zahlreiche herabwürdigende Ausdrücke für Werkstätten und ihre Nutzer wie beispielsweise „Entsorgungsstelle“ (S. 152), „Absonderungsstätte“ (S. 75), „verwahren eines abgewiesenen Bevölkerungsanteils“ (S. 201). Kritisiert wird auch das Duzen der Werkstattbeschäftigten, weil es ein herrisches Du ist, das sozial herabstuft (S. 79). Nicht thematisiert wird, dass das kollegiale Du in zahlreichen Branchen die vollkommen übliche und allgemein akzeptierte Anrede unter Kolleg*innen ist und es kein Zeichen von Inklusion wäre, ausschließlich die Menschen mit Behinderung konsequent weiterhin mit Sie anzusprechen. Die Autoren verzichten darauf, zu diskutieren, was Inklusion im Bereich der modernen Arbeitswelt heute konkret bedeutet und beschränken sich stattdessen auf die Kritik am System der Werkstätten. Aufgrund der an vielen Stellen herabwürdigenden Sprache kann diese Kritik auch interpretiert werden als Kritik an den dort arbeitenden Menschen.
Das Buch wirkt wie ein Rückblick, bei dem Autorinnen und jüngere Experten oder Expertinnen nicht zu Wort kommen. Nach Ansicht der Autoren gibt es keine realen Alternativen zur Werkstatt (S. 142). Um solche Alternativen zu schaffen und das Angebot an Möglichkeiten der Beruflichen Teilhabe und Inklusion weiter zu entwickeln, müssen Kritiker*innen und Vertreter*innen der Werkstätten gemeinsam mit Interessenvertreter*innen an dieser Vision arbeiten. Den Autoren ist diese Weiterentwicklung bisher nicht gelungen. Sie waren bis auf André Thiel beruflich in unterschiedlichen Leitungsfunktionen in Einrichtungen der Behindertenhilfe, in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten, in der Politik und in der Wissenschaft tätig. Da bleibt die Frage offen, warum sie ihre Positionen und ihren Einfluss nicht dazu genutzt haben, Abhilfe zu schaffen und die Teilhabe an Arbeit für beeinträchtigte Menschen zu verbessern? Die Thesen des Buches erinnern an den Satz von F.W. Bernstein: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche“.
Fazit
Der Fokus des Buches liegt einseitig auf möglichen Schwachstellen von Werkstätten und wird deshalb den Menschen, die in Werkstätten arbeiten nicht gerecht. Geschrieben wurde es von Autoren, die über lange Zeit die Möglichkeit gehabt hätten, die Werkstätten zu gestalten. Insofern verwundert die verbitterte Grundhaltung des Buches.
Rezension von
Dr Irmgard Plößl
Abteilungsleitung Berufliche Teilhabe und Rehabilitation, Rudolf Sophien Stift, Stuttgart
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Dr. Ute Schottmüller-Einwag
Ass. Jur. und Dipl. Kffr., Referentin LAG WfbM Baden-Württemberg
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Zitiervorschlag
Irmgard Plößl, Ute Schottmüller-Einwag. Rezension vom 19.05.2023 zu:
Heinrich Greving, Ulrich Scheibner (Hrsg.): Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2021.
ISBN 978-3-17-038496-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30533.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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