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Ruud Koopmans: Die Asyl-Lotterie

Rezensiert von Dr. Karsten Lauber, 31.08.2023

Cover Ruud Koopmans: Die Asyl-Lotterie ISBN 978-3-406-79738-5

Ruud Koopmans: Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg. Verlag C.H. Beck (München) 2023. 269 Seiten. ISBN 978-3-406-79738-5. 24,00 EUR.

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Thema

Unter dem Titel „Die Asyl-Lotterie“ zieht Ruud Koopmans eine Bilanz der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg, um Alternativen aufzuzeigen. Bereits mit dem Lotterie-Vergleich im Titel weist der Autor indirekt auf die de facto verschwindenden Grenzen zwischen allgemeinem Migrations- und Asylrecht hin. Koopmans legt damit das Buch für eine der (abermals bzw. weiterhin) am stärksten polarisierenden Debatten in Europa bzw. in Deutschland vor, zumal der in einigen Ländern zu konstatierende Rechtsruck nicht außerhalb des Zuwanderungsdiskurses analysiert werden kann.

Autor

Der Autor, Professor Dr. Ruud Koopmans, ist seit 2007 Direktor der Abteilung Migration, Integration und Transnationalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und seit 2013 Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zwischen 2011 und 2019 war Koopmans Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.

Entstehungshintergrund

Der Entstehungshintergrund der Monografie ist durch den Untertitel bereits hinreichend beschrieben. Die Eckpunkte der Auseinandersetzung mit der europäischen Asylpolitik bilden die insbesondere aus Syrien erfolgte Zuwanderung ab 2015 und diejenige aus der Ukraine ab 2021. Die beiden Ereignisse zeigen auf, wie unterschiedlich Zuwanderung durch Politik, Medien und Bevölkerung wahrgenommen wird. Recht schnell wird in diesem Buch deutlich, wie umfangreich sich der Bestand an Ereignissen in diesen sieben Jahren darstellt und wie stark die Beziehungen innerhalb der EU und zwischen der EU und Drittstaaten von der Migrationsfrage geprägt sind.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel, Inhaltsverzeichnis, Abkürzungsverzeichnis, Anmerkungen (inkl. Quellennachweis), Personenregister sowie einem Register der Flüchtlingsgruppen, in welchem die Herkunfts- und Transitländer alphabetisch auflistet sind. Besonders hervorzuheben ist die Danksagung, beinhaltet diese doch einen ausdrücklichen „Dank“ an das Bundeskriminalamt für die mangelnde Auskunftserteilung (S. 241).

Inhalt

Im ersten Kapitel zeigt Koopmans zehn Gründe auf, „warum das europäische Asylregime todkrank ist“ (S. 9 ff.). Vier Gründe rücken die Schutzbedürftigen selbst in den Vordergrund, ein Grund die Erstaufnahmeländer, drei Gründe die Aufnahmestaaten bzw. -gesellschaften und zwei Gründe die europa- und geopolitischen Konsequenzen. Darin beinhaltet sind zwar keine wesentlich neuen Erkenntnisse, doch werden die zentralen Konfliktthemen kurz, aber aussagekräftig beschrieben. Wer Europa erreicht, kann meistens bleiben – auch wenn Asylgründe nicht gegeben sind, so der Autor. Diesen Migrantinnen und Migranten stehen diejenigen gegenüber, die nicht über die erforderlichen Ressourcen verfügen, die Reise nach Europa anzutreten. Die „Gewinnchancen“ (S. 10) in dieser Asyl-Lotterie sind nach Bewertung Koopmans ungleich verteilt. Die Gewinner sind meist junge Männer, die über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügen und sich in erreichbarer Nähe Europas befinden. Demgegenüber ist die Aufnahme von Hilfsbedürftigen über Resettlement-Programme oder Kontingente verschwindend gering.

Koopmans bringt die europäische Asylmisere folgendermaßen auf den Punkt: „Die Belastung des europäischen Asylsystems hängt […] nicht von der Zahl der Schutzberechtigten ab, sondern von der Zahl der Personen, die eine bestimmte Grenze erreichen“ (S. 11). Aufgrund der vielen Todesopfer auf dem Weg nach Europa bewertet Koopmans das europäische Asylsystem als das „tödlichste Migrationssystem der Welt“ (S. 14). Die fehlende Gesamtidee für eine europäische Zuwanderungs- und Asylpolitik trägt zu starken Schwankungen bei der Einreise in die EU ein. Zeiträumen mit geringer Zuwanderung stehen kurze Zeiträume gegenüber, in denen viele Menschen einreisen. Die hohe Konzentration der Flüchtlingszahlen auf bestimmte Zeiträume führt dazu, dass all diejenigen Zugänge überlastet sind, die integrationsfördernd wirken, d.h. Zugänge zu Wohnen, Bildung und Arbeit. In seinen einleitenden Grundaussagen zum todkranken Asylsystem findet auch die innere Sicherheit Berücksichtigung. Eine tiefgreifende kriminologische Analyse ist bei den 2-seitigen Ausführungen nicht zu erwarten, doch weist der Autor darauf hin, dass Opfer von Kriminalität durch Flüchtlinge nicht selten andere Flüchtlinge sind.

Kapitel 2 widmet sich der politischen Genese der Flüchtlingskrise. Ausgehend vom Arabischen Frühling wird der „lange Sommer der Migration“ (Georgi 2016) vornehmlich aus einer europapolitischen Perspektive beschrieben, ehe der milliardenschwere Gang nach Ankara zu einer Schließung der EU-Grenzen führte. Die Frage lautet dabei, ob die Steuerung der Zuwanderung, d.h. deren Reduzierung, über die Schließung der Balkanroute oder aufgrund der Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei wirksam(er) war (S. 77 f.). In den Ausführungen dieses Kapitels ist eine Kritik an der Funktionalität des Königsteiner Schlüssels beinhaltet, der nach Einschätzung des Autors zu integrationshemmenden Eskalationen in den ostdeutschen Bundesländern beiträgt und damit der AfD in die Hände spielt.

Mit der Integration Geflüchteter auf dem deutschen Arbeitsmarkt befasst sich Kapitel 3. Entgegen verschiedenen Verlautbarungen kommt Koopmans zu dem Ergebnis, dass die Arbeitsmarktintegration bislang keine Erfolgsgeschichte ist. Dabei werden verschiedene Aspekte analysiert, um präzisere Aussagen zur niedrigen Arbeitsmarktbeteiligung treffen zu können. Als eine der Hauptursachen wird die teilweise geringe Beschäftigung von Frauen beschrieben. Daneben mangelt es bei den Geflüchteten in hohem Maße an Bildungs- und Berufsabschlüssen. Mit Blick auf die wiedergegebenen Grafiken über die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und die Empfänger/-innen von Sozial- oder Asylbewerberleistungen wird deutlich, dass weniger über Fachkräfte als zutreffender über Arbeitskräfte zu sprechen ist. Das von Koopmans dargestellte Verhältnis zwischen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und leistungsberechtigten Personen zeigt deutliche Unterschiede zwischen den Herkunftsländern auf. Bezogen auf die Hauptherkunftsländer schneiden Syrer/​-innen und Iraker/​-innen besonders schlecht ab.

Ab dem Kapitel 4 rückt die innere Sicherheit in den Vordergrund der Analysen, beginnend mit der verkannten Terrorgefahr (S. 107 ff.). Die Ausführungen reihen diverse in-/ausländische Attentate aneinander und widerlegen die „Sprachregelung“ des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz, wonach 2015 zunächst nicht davon ausgegangen war, dass IS-Kämpfer die Flüchtlingsströme über die Balkanroute in Anspruch nehmen würden. Als Kernproblem wird die Identitätsverschleierung beschrieben, insbesondere durch fehlende, gefälschte oder unterdrückte Ausweisdokumente; erschwerend kommt hinzu, dass unter verschiedenen Identitäten europaweit Asylanträge gestellt werden konnten bzw. können. Deutlich wird dabei die Dysfunktionalität des europäischen Asylsystems, d.h. die Missachtung der Dublin-Vereinbarungen sowie die Defizite bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht aus Deutschland.

Den Terroranschlägen auf der einen Seite stellt Koopmans „flüchtlingsfeindliche Gewalt von rechts“ (S. 125) gegenüber. Dabei arbeitet der Autor Unschärfen bei der statistischen Erfassung politisch motivierter Kriminalität heraus. Im Ergebnis sind durch rechtsgerichtete Angriffe keine getöteten Flüchtlinge in den letzten Jahren zu beklagen gewesen, so der Autor. Jedoch kamen Menschen zu Opfer, die keine Flüchtlinge waren (S. 129). In einem abschließenden Exkurs wird die schon länger geführte Debatte zur Frage, was politisch motivierte Kriminalität ist, aufgegriffen.

Kapitel 5 ist das längste Kapitel und analysiert Flüchtlinge als Täter/-innen und Opfer. Dabei wird die kriminalstatistische Überrepräsentation nichtdeutscher Tatverdächtiger aufgegriffen, beschrieben und erklärt. Der Fokus liegt dabei auf (schweren) Gewaltverbrechen. Erklärungsansätze, die genannt werden, sind das selektive Anzeigeverhalten zu Ungunsten von Nichtdeutschen, der Strafverfolgungstrichter (ohne den Ausfilterungsprozess von der Anzeige bis hin zur justiziellen Entscheidung als solchen zu benennen), Alter und Geschlecht als zentrale kriminogene Faktoren sowie gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen. In einem nächsten Schritt wird geprüft, ob sich die Kriminalitätsbelastung nach dem Status der Schutzsuchenden unterscheiden lässt. Die wenig zufriedenstellende Datenlage wird plausibel damit begründet, dass die polizeiliche Datenerfassung in der polizeilichen Kriminalstatistik mangelhaft ist (S. 148). Auf Nachfrage des Autors konnte das Bundeskriminalamt jedoch keine zufriedenstellende Auskunft erteilen. Im weiteren Verlauf werden Zusammenhänge zwischen verschiedenen deliktischen Kriminalitätsbelastungen und Staatsangehörigkeiten bzw. dem Aufenthaltsstatus hergestellt. Nach den Ausführungen zu Geflüchteten als Tatverdächtige folgen Analysen zum Ausmaß der Opfer, konkret am Beispiel von Tötungsdelikten und sexueller Gewalt. Eine Kernaussage dabei lautet, dass es bei Mord- und Tötungsdelikten zum Nachteil von Flüchtlingen weit überwiegend Flüchtlinge waren, die als Täter auftraten. Es folgen etliche, plakativ dargestellte Fallschilderungen, bei denen Flüchtlinge als Mörder und Totschläger ermittelt wurden. Ein 7-seitiger Exkurs zu Chemnitz rekapituliert und analysiert die Ereignisse aus August 2018 und kritisiert abermals die Verteilung anhand des Königsteiner Schlüssels und die Überforderung der mit Zuwanderung wenig erfahrenen ostdeutschen Bevölkerung. Die daran anschließenden Ausführungen zu den registrierten Sexualdelikten folgen der gleichen Agenda wie bei den o.a. Tötungsdelikten.

Das 6. Kapitel greift die aktuelle Situation der ukrainischen Flüchtlinge auf. Dabei problematisiert und erklärt der Autor die unterschiedliche rechtliche Bewertung sowie Wahrnehmung der Flüchtlingsgruppen von 2015 und 2021. Neben der Nähe der Ukraine zu Deutschland spielt im Hinblick auf die geringere Kriminalitätsbelastung auch die soziodemografische Zusammensetzung der Flüchtlinge eine Rolle.

Im abschließenden Kapitel skizziert Koopmans eine „realistische Utopie“. Das Unterkapitel „Wege aus dem Dickicht“ rückt das europäische Asylrecht in den Vordergrund: Defizite in der Ausweisungs- und Abschiebungspraxis werden durch push- bzw. pull-backs kompensiert. Das folgende „radikale Gedankenexperiment“ beschreibt den Weg vom individuellen Asylrecht hin zu humanitären Kontingenten. Damit ist die Erwartung verbunden, die Vielzahl an zeit- bzw. kostenintensiven, jedoch erfolglosen Asylverfahren zu reduzieren. Aufnahmeprogramme, wie es sie mit dem Resettlement bereits in einem begrenztem Umfang gibt, könnten auch dazu beitragen, die Überrepräsentation junger Männer zu vermeiden, so der Autor, der damit seinen Fokus auf die Kriminalität durch Migranten beibehält. Im nächsten Unterkapitel begründet Koopmans, weshalb es Ausnahmeregelungen für europäische Nachbarstaaten bedarf. Er knüpft hier an die bereits beschriebene Tatsache an, dass Flüchtlinge in erster Linie Schutz in den angrenzenden Staaten suchen. Die nächsten Bausteine in der realistischen Utopie stellen humanitäre Visa und Regelungen für Wirtschaftsmigration dar – beide mit eher ergänzendem Charakter in diesem realistisch-utopischen Konzept. Rückübernahmeabkommen würden die Grundlage bilden, weiterhin bestehende illegale Zuwanderung zu reduzieren. Dabei führt Koopmans mit Blick auf den aktuellen Koalitionsvertrag der Ampelkoalition aus, dass die angekündigte, jedoch bis dato noch nicht realisierte „Abschiebeoffensive“ (S. 217) ohnehin zum Scheitern verurteilt ist. Recht breit wird dann die „australische Lösung“ erklärt. Mit der „Pacific Solution“ wurde die Überprüfung der australischen Asylverfahren in Drittstaaten vorverlagert, sodass abgelehnte Asylbewerber/​-innen keine Chance hatten, überhaupt nach Australien zu gelangen (S. 219). Abgelehnte Antragsteller/​-innen wurden in die Herkunftsländer zurückgeführt. Auf der Grundlage dieser Bausteine skizziert der Autor ein „reformiertes Asylregime“ (S. 228), in dem es im Wesentlichen darum geht, von irregulärer in reguläre Migration umzusteuern (S. 233), wobei das nicht weniger Migration bedeuten soll, sondern eine andere Zusammensetzung der Flüchtlingsgruppen.

Diskussion

Der Vielzahl an Monografien zur Migration fügt der medial präsente Koopmans nun eine weitere hinzu. Der Autor zählt zu den Kritikern des aktuellen europäischen Migrationsregimes. Die Flüchtlingskrise rund um das Jahr 2015, die bei anderer Betrachtungsweise auch als „Integrationskrise“ (Schäfer/Zürn 2021: 150 f.) bezeichnet werden kann, gibt genügend Anhaltspunkte, die „integrationspolitische Bilanz“ (S. 25) von Teilen der Politik und Wirtschaft kritisch zu würdigen. Spätestens seit dem „Memorandum für eine andere Migrationspolitik in Deutschland“ vom 11. Februar 2023 der VERT Realos, einer Gruppe innerhalb der Realos von Bündnis 90/Die Grünen, wird deutlich, dass Forderungen wie die Einrichtung von außerhalb der EU liegenden Aufenthaltszonen, in denen über die Aufnahme von Geflüchteten entschieden wird, in Teilen der progressiven politischen Kräfte angekommen sind (vgl. VERT Realos 2023).

Die zentrale Botschaft Koopmans lautet, dass irreguläre Migration in reguläre Bahnen zu lenken ist. Ohne es so zu bezeichnen, stellt der Autor damit auf (den eigentlichen Zweck) des § 1 des Aufenthaltsgesetzes ab, denn dieses „dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland. Es ermöglicht und gestaltet Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Das Gesetz dient zugleich der Erfüllung der humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. Es regelt hierzu die Einreise, den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern“.

Gut begründet skizziert Koopmans im 2. Kapitel die mangelhafte außenpolitische Kriseninterventionsstrategie der EU. Dabei wird deutlich, dass die EU in ihrer jetzigen Zusammensetzung weit davon entfernt ist, eine Wertegemeinschaft darzustellen. Zudem ist das Schmugglergeschäft recht einträglich. Allein im Jahr 2015 sollen, so Koopmans, Schmuggler/​-innen und die in der dazugehörigen Infrastruktur Tätigen für den Transfer von Flüchtlingen von der Türkei nach Griechenland fast eine Milliarde (Euro?) Umsatz erzielt haben (S. 58). In der Beschreibung der Ereignisse seit 2011 reiht Koopmans die Politik des Aussitzens und Nichtentscheidens sowie politischer Fehleinschätzungen der damaligen Bundesregierung und involvierter Bundesbehörden aneinander.

Bemerkenswert, dass in einem populärwissenschaftlichen Buch wie dem vorliegenden Ausführungen zu Paneluntersuchungen, und hier konkret dem sog. Panelsterben, aufzufinden sind (S. 92 f.). Dennoch, so ist zu kritisieren, verlässt sich Koopmans zu sehr auf bloße Häufigkeitsverteilungen und bivariate Zusammenhänge. Gleichwohl: „Einen bivariaten Zusammenhang […] für real zu halten, könnte man auch als fahrlässig bezeichnen. Erst die Berücksichtigung von Drittvariablen ermöglicht eine theoretisch begründete Aufklärung des in einem gefundenen bivariaten Zusammenhang mit vorhandenen, aber verdeckten komplexen Kontextes. In jedem bivariaten Zusammenhang ist die Wirkung einer Vielzahl von Variablen mit vorhanden, d.h. ein rein bivariater Zusammenhang existiert nicht“ (Lauber/Mühler 2022: 276).

Die sachliche Aneinanderreihung der Terroranschläge in Deutschland im Kapitel 4 hat im Details durchaus Neuigkeitswert. Den Terroranschlägen auf der einen Seite stellt Koopmans „flüchtlingsfeindliche Gewalt von rechts“ (S. 125) gegenüber. Dabei arbeitet der Autor Unschärfen bei der Erfassung politisch motivierter Kriminalität heraus. Dass es sich bei dieser Statistik um eine Eingangsstatistik handelt, hätte noch Erwähnung finden sollen, da dieser Umstand nicht unwesentlich für die Zuordnung zu den unterschiedlichen Formen politisch motivierter Kriminalität ist.

Kapitel 5 ist ein gutes Beispiel, um Methodenkritik in Bezug auf die o.a. bivariaten Zusammenhänge zu äußern. Dort werden Zusammenhänge zwischen verschiedenen deliktischen Kriminalitätsbelastungen und Staatsangehörigkeiten hergestellt. Das ist sicherlich ein Kritikpunkt, dass die (durchaus nachvollziehbaren) Interpretationen des Autors im Wesentlichen nicht auf zu Ende geführten statistischen Berechnungen beruhen. Nicht sehr überzeugend klingen Formulieren wie „Aus der Forschungsliteratur wissen wir“ (S. 167), zumal sich in der dahinter liegenden Fußnote ausschließlich Publikationen einer Autorin (Susan Olzak) befinden, mitunter in Ko-Autorenschaft mit Koopmans selbst. Im Hinblick auf die Ausführungen zu den Effekten von Zuwanderung wäre eine intensivere soziologische Betrachtung hilfreich gewesen, bei der beispielsweise Fragen der Sittennormen und des Rechts analysiert worden wären. Eine hierfür plausible These könnte sein: Eine stabile, aktive Rechtsordnung ist basal für Integration. Obwohl der Autor einige (bekannte) Erklärungsansätze für die Überrepräsentation nichtdeutscher Tatverdächtiger in der polizeilichen Kriminalstatistik anführt, entsteht der Eindruck, als würde er diese im weiteren Verlauf ausblenden. Das ist dann problematisch, wenn eine (ja durchaus vorhandene) höhere Kriminalitätsbelastung proklamiert wird, jedoch (methodisch) zwei völlig unterschiedliche Gruppen miteinander verglichen werden. Positiv hervorzuheben ist der Hinweis des Autors auf die mangelnde Bereitschaft des Bundeskriminalamtes, Fragen zur Kriminalitätsstatistik im Kontext von Zuwanderung „nur ausweichend und damit gar nicht [zu] beantworte[n]“ (S. 241). Die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Institution Polizei für Forschende ist leider nicht neu.

In der Gesamtbetrachtung liegt der Fokus des Autors auf dem Gebiet der Kriminalitätsbelastung. Wichtige Integrationsaspekte wie die Zugänge zu Bildung, Wohnen und Arbeit, die insbesondere auf kommunaler Ebene verhandelt werden, bleiben leider unterrepräsentiert. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Monografie keine Ausführungen zu konkreten Normen im Aufenthaltsgesetz und Asylgesetz beinhaltet.

Fazit

Über Zuwanderung muss diskutiert werden (können). Koopmans legt mit der Asyl-Lotterie ein plakatives Buch mit zumeist solider Argumentation vor, mit dem er einen streitbaren Beitrag zur Debatte leistet. Am Thema Interessierte werden in dem populär-wissenschaftlichen Buch jedoch nur wenig Neues entdecken.

Literatur

Georgi, Fabian (2016): Widersprüche im langen Sommer der Migration. Ansätze einer materialistischen Grenzregimeanalyse, in: PROKLA (46), Nr. 2/2016, S. 183–203.

Lauber, Karsten; Mühler, Kurt (2022): Steigert Videoüberwachung das Sicherheitsempfinden?, in: Kriminologie – Das Online-Journal (4), Nr. 3/2022, S. 263–281.

Schäfer, Armin; Zürn, Michael (2021): Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus. Sonderausgabe für die Zentralen für politische Bildung. Berlin: Suhrkamp Verlag.

VERT Realos (Hrsg.) (2023): Memorandum für eine andere Migrationspolitik in Deutschland vom 11. Februar 2023. Verfügbar unter https://vert-realos.de/memorandum-fuer-eine-andere-migrationspolitik-in-deutschland. Abgerufen am 13.08.2023.

Rezension von
Dr. Karsten Lauber
M.A. (Kriminologie, Kriminalistik, Polizeiwissenschaft), M.A. (Public Administration)
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Es gibt 21 Rezensionen von Karsten Lauber.

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Zitiervorschlag
Karsten Lauber. Rezension vom 31.08.2023 zu: Ruud Koopmans: Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg. Verlag C.H. Beck (München) 2023. ISBN 978-3-406-79738-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30535.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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