Maria Zens: Entwicklungsverzögerungen erkennen und richtig damit umgehen
Rezensiert von Ulrike Ziemer, 16.06.2023

Maria Zens: Entwicklungsverzögerungen erkennen und richtig damit umgehen. 44 Methodenkarten zur pädagogischen Diagnostik in Kitas - Mit Checklisten und Beobachtungsbögen zur Anamnese von Entwicklungsstörungen.
Don Bosco Verlag
(München) 2023.
44 Seiten.
22,00 EUR.
Reihe: Mein Beruf - meine Kita.
Autorin
Die Autorin, Maria Zens, ist Fortbildungsreferentin im Sozial- und Gesundheitswesen, Dipl. Heilpädagogin, Dipl. Sozialarbeiterin und Religionspädagogin. Sie hat unter anderem Erfahrungen in der ambulanten und stationären Jugendhilfe, in Kitas, Schulen, sozialpädiatrischen Zentren und in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis gesammelt. Weiter Informationen zu ihrer Person und zu ihren Fortbildungsangeboten sind auf ihrer Webseite zu finden.
Aufbau und Inhalt
Das Produkt wird in einer farbig bedruckten stabilen Pappschachtel präsentiert. In dieser Box befinden sich eine 21 Seiten umfassende Erläuterungsbroschüre, 44 Karteikarten im Format DinA5 sowie ein Downloadcode für ergänzende Checklisten und Beobachtungsbögen. Die Karteikarten sind beidseitig bedruckt und farblich markiert. Maria Zens spricht mit dieser Zusammenstellung besonders ErzieherInnen in Kitas an. Pädagogische Fachkräfte erhalten eine Handreichung, um Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung frühzeitig entdecken und einordnen zu können. Die Autorin bezeichnet das von ihr entwickelte Material als eine Art „Navigationshilfe“ für pädagogische Fachkräfte. Die Karteikarten haben für jeden Themenbereich eine unterschiedliche farbliche Markierung. Auf der Vorderseite ist jeweils ein Foto abgebildet, auf der Rückseite werden Handlungsschritte beschrieben. Zusätzlich gibt es Hinweise zum entsprechenden Bonusmaterial. Sieben Farben kennzeichnen die sieben Themenfelder:
Pädagogische Diagnostik in der Kita
Es ist hilfreich, wenn sich das gesamte Team mit der Thematik der pädagogischen Diagnostik auseinandersetzt und sich gegenseitig unterstützt. Um die Beobachtungsfähigkeit zu schulen und sich mit den Abläufen vertraut zu machen empfiehlt es sich zum Einstieg ein „Regelkind“ zu beobachten. Beobachtung sollte Wertschätzung durch das besondere Interesse am Kind ausdrücken. Schrittweise werden Informationen gesammelt und ausgewertet. Elterngespräche und ein Hausbesuch vervollständigen die Eindrücke. Förderangebote und Förderpläne sollten immer auf der Grundlage von ausführlichen Informationen und Beobachtungen basieren.
Anamnese im Familiensystem
Um das System Familie, in dem das jeweilige Kind lebt, zu erfassen, bedarf es im Zusammenhang mit der pädagogischen Diagnostik umfassender Informationen. Ein anamnestisches Gespräch beinhaltet einige Fallstricke und der angebotene Leitfaden kann helfen, respektvoll wichtige Eindrücke zu sammeln. Ein Hausbesuch und das Entdecken von Ressourcen gehören mit zur Anamnese.
Meilensteine der Entwicklung
Die Meilensteine der kindlichen Entwicklung stellen einen Rahmen zur Orientierung bei. Bedacht werden sollte, dass Meilensteine nicht vorschriftsmäßig, sondern persönlich erreicht werden. Hierbei werden die Bereiche Motorik, Kommunikation und Sprache, Selbständigkeit, Spielentwicklung und die sozial-emotionale Entwicklung betrachtet. Der Spielbeobachtung kommt eine besondere Bedeutung zu, denn im Spiel zeigt sich der Entwicklungsstand aller Bereiche im Zusammenklang. Bei Abweichungen vom Mittelwert wird unter Hinzuziehung der anderen diagnostischen Elemente bedacht, ob und in welcher Form eine Unterstützung der kindlichen Entwicklung erforderlich ist.
Die Bedeutung der Beobachtung
Bei der Beobachtung können die in der Kita verwandten Entwicklungsbögen oder die im Download vorhandenen genutzt werden. Es werden verschiedene Formen der Beobachtung genutzt, Entwicklungsbögen, geführte Beobachtung und die freie Beobachtung. Das Ziel ist es wahrzunehmen, zu beobachten und zu dokumentieren, In Verbindung mit der Anamnese, dem Portfolio und dem Entwicklungsstand des Kindes entwickelt sich ein individuelles Bild des Kindes und Hypothesen können aufgestellt werden, diese werden gemeinsam im Team reflektiert.
Erfassen von Besonderheiten
Es gibt Vorstellungen darüber, was „Normal“ ist. Abweichungen werden oft als Verhaltensstörungen oder Entwicklungsstörungen bezeichnet. Nicht immer muss dies zutreffen. Die Abwägung, ob ein Kind kreative Lösungen für Probleme gefunden hat oder gravierende Probleme vorliegen, ist nicht einfach. Es muss unterschieden werden zwischen Entwicklungsverzögerungen und Entwicklungsstörungen. Deutlich wird besonders hier das „Einschätzungsdilemma“. Ist eine Hypothese gebildet, gilt es zu entscheiden, welche weiteren Schritte erforderlich sind. Die Hinzuziehung von Fachleuten, bzw. einer Fachstelle wie zum Beispiel einer Frühförderstelle kann hier weiterhelfen.
Kooperation mit Eltern und Helfern
Der Verlauf und die Ergebnisse der pädagogischen Diagnostik werden mit den Eltern und evtl. Helfern im Familiensystem besprochen.
Förderchancen in der Kita
Aufgabe der Kita ist es, Wartezeiten bis zur Therapie oder einer pädagogischen Förderung zu überbrücken und diese dann zu begleiten. Eine Orientierung an den Ressourcen des Kindes ist im Alltag anzustreben.
Neben den Methodenkarten bietet die Frau Zenz Materialien an, die sich die Fachkräfte je nach Bedarf ausdrucken können. Als Bonusmaterial im Download erhältlich sind:
Pädagogische Diagnostik in der Kita
- Fragebogen für den Einstieg in die Methode der pädagogischen Diagnostik
- Fragebogen zur Zwischenreflexion der pädagogischen Diagnostik (kann an verschiedenen Punkten der Diagnostik eingesetzt werden)
Anamnese im Familiensystem
- Leitfaden für das anamnestische Elterninterview
- Tipps und Themen für den Hausbesuch
- Kartei der kindlichen Ressourcen
- Checkliste Resilienzfaktoren
- Checkliste Risikofaktoren
Meilensteine der Entwicklung
- Besonderes Verhalten und besondere Bedürfnisse
Die Bedeutung der Beobachtung
- 6 Entwicklungsbögen für Kinder von 6 Monaten bis zum 6 Lebensjahr
- Beobachtungsbogen für die freie Beobachtung in der Kindertagesbetreuung
- Hinweise und Formulierungshilfen zur Interpretation der freien Beobachtung
- Instrumente für eine Gesamtschau der kindlichen Entwicklung
Kooperation mit Eltern und Helfern
- Vorgehensweise gegenüber Eltern bei Kindeswohlgefährdung durch Desinteresse
- Checkliste Inhalte Portfolio Mappe
Diskussion
Das gesamte Methodenkartensystem ermöglicht eine umfassende pädagogische Diagnostik und Dokumentation. Die Darstellungen und Anleitung sind gut verständlich, setzen aber voraus, dass die Fachkraft über fundamentales Wissen zur kindlichen Entwicklung, zu Beobachtungsformen, zu Dokumentationsmöglichkeiten und Gesprächsstrategien verfügt. Berufserfahrung ist von Vorteil, kann aber durch das langsame Herantasten an die Thematik im Zusammenhang mit dem regelmäßigen Austausch im Team auch erworben werden. Es liegt hier eine hilfreiche Materialsammlung vor, die durch ihre Gestaltung und Präsentation als Karteikarten einen hohen Aufforderungscharakter hat. Diagnostik ist ein Bereich, der oft Kinderärzten, Therapeuten, Sozialpädiatrischen Zentren oder Frühförderstellen zugeschrieben wird. MitarbeiterInnen in Kitas bekommen mit diesen Methodenkarten ein Werkzeug an die Hand um differenziert zu beobachten. Sie können Hypothesen bilden und im Team Entscheidungen zur weiteren Vorgehensweise treffen. MitarbeiterInnen, die in diesen Verfahren geübt sind, stellen eine Bereicherung für das Team und die Kinder mit ihren Familien dar. Anfangs wird das Beobachten und Dokumentieren mehr Zeit in Anspruch nehmen, doch diese Zeit wird schnell eingespart, da sich viele Synergien ergeben.
Die farbliche Markierung und die thematischen Strukturierungen der Karteikarten ermöglichen eine passgenaue Handhabung. Zum Einstieg wird das System der pädagogischen Diagnostik betrachtet. Wertvoll sind besonders die Hinweise, dass bei jeglicher Diagnostik das Team und die Eltern eingebunden werden müssen. Die Anamnese im Familiensystem erweitert das Aufnahmegespräch. Hausbesuche werden vielleicht nicht immer erwünscht oder zeitlich möglich sein, gerade in Zeiten, in denen ein Fachkräftemangel herrscht. Gelingt es jedoch Familien, im häuslichen Umfeld zu besuchen, wird es eine Bereicherung für die Erfassung der kindlichen Lebenssituation sein. Kenntnisse über die Meilensteine der Entwicklung haben Fachkräfte in der Kita durch ihre Ausbildung erhalten. Durch das regelmäßige Arbeiten mit den Entwicklungsschritten werden diese bewusster und können bei der Gestaltung des Tagesablaufes und des Umfeldes mit eingebunden werden. Die Bedeutung der Beobachtung, das Erfassen von Besonderheiten und die Kooperation mit Eltern und Helfern präsentieren sich mit diesem Material als Gesamtkonzept. Es bietet viele Chancen für das Kita-Team. Die flexiblen Karten könnten zum Beispiel in Dienstbesprechungen vorgestellt werden und einzelne Teammitglieder beginnen mit der Anwendung. Es besteht die Gefahr, dass zum Beispiel aus Zeitgründen, auf die Reflexion und den Austausch über die gebildeten Hypothesen verzichtet wird. Frau Zens weist auf die Bedeutsamkeit hin, dennoch sehe ich hier ein Risiko. Pädagogische Diagnostik ist ein komplexes Thema und sollte nie nur dazu dienen, Kinder einzuordnen. Die Themenkarten eröffnen Möglichkeiten, Förderansätze die sich an den Fähigkeiten der Kinder orientieren zu entdecken. Sie schaffen Grundlagen für Elterngespräche und den Austausch mit Ärzten, Therapeuten und Fachkräften (zum Beispiel HeilpädagogInnen), bzw. Fachstellen wie zum Beispiel Frühförderstellen.
Die Karten sind motivierend und inhaltlich interessant gestaltet. In Zusammenhang mit den ergänzenden Materialien werden pädagogische Fachkräfte ermutigt und befähigt, sich mit dem Themenfeld der pädagogischen Diagnostik auseinanderzusetzen, sich neues Wissen anzueignen und die erforderlichen Schritte zu planen und umzusetzen. Insgesamt handelt es sich um eine gelungene, fachlich fundierte und empfehlenswerte Publikation.
Fazit
Maria Zens hat 44 Themenkarten und ergänzendes Bonusmaterial erarbeitet, um fachlich kompetente pädagogische Diagnostik in Kitas zu ermöglichen. Die Schwerpunkte liegen bei der Anamnese im Familiensystem, der Beobachtung in Zusammenhang mit den Meilensteinen der kindlichen Entwicklung, der Kooperation mit Eltern und Fachleuten und dem Entdecken von Förderchancen.
Rezension von
Ulrike Ziemer
Dipl. Heilpädagogin (FH)
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