Sibylle Maria Winter, Kathrin Reiter et al. (Hrsg.): Implementierung von Traumaambulanzen für Kinder und Jugendliche
Rezensiert von Dr. Alexander Tewes, 29.07.2024

Sibylle Maria Winter, Kathrin Reiter, Claudia Calvano (Hrsg.): Implementierung von Traumaambulanzen für Kinder und Jugendliche. Anleitung zur praktischen Umsetzung. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2023. ISBN 978-3-525-40868-1. D: 25,00 EUR, A: 26,00 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
2021 trat das Opferentschädigungsgesetzt (OEG) erstmalig in Kraft. Seitdem haben Menschen, die von Gewalttaten betroffen sind, nach dem Sozialem Entschädigungsrecht einen gesetzlichen Anspruch auf psychotherapeutische Frühinterventionen in Traumaambulanzen. Diese Hilfe wird auch „schnelle Hilfen“ genannt und gilt selbstverständlich auch für Kinder und Jugendliche. Seitdem wurden bundesweit entsprechende Ambulanzen ins Leben gerufen und dieser Prozess wurde durch Forschung begleitet. Die Herausgeberinnen widmen sich seit über zehn Jahren in Forschung und Praxis der psychotherapeutischen Erstversorgung von Kindern und Jugendlichen nach Gewalterfahrung, sie haben unter anderem die Traumaambulanz an der Charité – Universitätsmedizin Berlin gegründet.
Herausgeberinnen
Prof. Dr. med. Sibylle Maria Winter, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie (TP), ist stellvertretende Klinikdirektorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Sektionsleitung des Bereiches Traumafolgen und Kinderschutz. Sie ist Initiatorin und Leitung des Childhood-Haus Berlin und hat die Professur für Traumafolgen und Kinderschutz der Charité – Universitätsmedizin Berlin inne.
Prof. Dr. phil. Claudia Calvano, Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (VT), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité Universitätsmedizin Berlin.
Prof. Dr. rer. nat. Christine Heim, Diplom-Psychologin, ist Direktorin des Instituts für Medizinische Psychologie der Charité Universitätsmedizin Berlin sowie Mitglied im Exzellenzcluster NeuroCure und im Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit.
Kathrin Reiter, Diplom-Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, arbeitet in der Traumaambulanz an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité Universitätsmedizin Berlin und in eigener Praxis.
Simone Wasmer, Diplom-Pädagogin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, leitete viele Jahre die Kinder- und Jugendabteilung des Zentrums ÜBERLEBEN, Berlin. Dort war sie neben den leitenden Tätigkeiten als Psychotherapeutin in der Behandlung von minderjährigen komplex traumatisierten Geflüchteten tätig. Sie arbeitet nun in eigener Praxis in Berlin.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in 12 Kapitel aufgeteilt, die von einem Autor:innenteam der Traumaambulanz der Charité geschrieben wurden. Thematisch werden Grundlagen von Traumafolgestörungen, deren Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die psychotherapeutische Behandlung, rechtliche Grundlagen und strukturelle Möglichkeiten von Traumaambulanzen dargestellt. Zum Ende des Buchs werden praktische Beispiele der Versorgung, auch im Hinblick auf Patient:innen mit Migrations- und Fluchthintergrund und bei sexualisierter Gewalt geliefert. Zum Abschluss wird auf alternative Behandlungsformen (Kunsttherapie), Qualitätssicherung und Evaluation eingegangen. Ein Ausblick für die Zukunft rundet das Buch ab.
1. Einleitung (Sibylle Maria Winter)
Die stellvertretende Klinikdirektorin und Projektleiterin arbeitet in ihrer Einleitung heraus, wie wichtig die schnelle Erstversorgung von Kindern und Jugendlichen ist, die mit zwischenmenschlicher Gewalt konfrontiert wurden. Ein großer Vorteil von Traumaambulanzen sei, dass diese schon durch ihren Namen das Thema adressieren. In der klinischen Praxis werde es immer noch zu häufig tabuisiert und vermieden.
2. Traumadefinition und Epidemiologie (Claudia Calvano)
Hier werden die wichtigsten Grundlagen in Bezug auf Definition, Epidemiologie und Diagnostik zusammengefasst.
3. Biologische Einbettung von traumatischen Erklärungen in der Kindheit: Relevanz von früher Intervention zur Verhinderung von Langzeitfolgen (Christine Heim)
Dieses Kapitel hat es in sich: Auf knapp 50 Seiten wird umfassend der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Forschung dargestellt. Die Charitè arbeitet seit langem in diesem Bereich. Folgende Themen werden umfassend bearbeitet:
- Auswirkungen von Traumatisierungen im Kindesalter auf das Krankheitsrisiko über die gesamte Lebensspanne hinweg
- Schädigungen von Stressreaktionsssystemen des Organismus
- biologische Folgen für das Erwachsenenalter
- Gen-Umwelt-Interaktionen und epigenetische Einbettung
- Zellalterung
- Biologische Einbettung von Trauma bei Kindern
- Intergenerationale Übertragung der Folgen von frühem Trauma
- Implikationen für Interventionen bei frühem Trauma
4. Traumafolgestörungen und Therapie (Claudia Calvano)
In diesem Kapitel werden zunächst die unterschiedlichen Diagnosen von Traumafolgestörungen nach den gängigen Klassifikationssystemen (ICD & DSM) vorgestellt um dann die therapeutischen Optionen gemäß Leitlinienempfehlungen zu erläutern. Diese werden noch unterschieden nach grundlegender traumainformierter Gesundheitsversorgung, Erstversorgung und Kurzzeitintervention, sowie Traumafokussierter Psychotherapie.
5. Rechtliche Grundlagen für Traumaambulanzen im sozialen Entschädigungsrecht – Opferentschädigungsgesetz (OEG – bis 31.12.2023 und Sozialgesetzbuch XIV (SGB XIV) (Birgid Hollatz)
Eine promovierte Juristin stellt in diesem Kapitel die herausfordernden rechtlichen Grundlagen der Inanspruchnahme therapeutischer „schneller Hilfen“ im Rahmen von Traumaambulanzen dar. Also: Wem dürfen diese Leistungen zu welchen Konditionen in angeboten werden?
6. Strukturelle Möglichkeiten der Versorgung über Traumaambulanzen (Sibylle Maria Winter)
Der Gesetzgeber sieht vor, dass entsprechende Traumaambulanzen bundesweit eingerichtet werden. Die Umsetzung erfordert klare Vorgaben z.B. für die vorzuhaltende Strukturqualität. Die Charité hat dies nicht nur in Berlin umgesetzt, sondern auch im Rahmen einer bundesweiten Umfrage wissenschaftlich begleitet. Aus den Ergebnissen werden Handlungsempfehlungen abgeleitet.
7. Aus der Praxis: Psychotherapeutische Versorgung in der Traumaambulanz der Charité (Kathrin Reiter)
Eine in der Traumaambulanz tätige Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin beschreibt hier die Therapie von Kindern und Jugendlichen in chronologischer Form: Von der Kontaktaufnahme bis zu Entlassung.
8. Besondere Herausforderungen in der traumatherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Migrations- oder Fluchthintergrund (Simone Wasmer)
Da ein nicht geringer Anteil der „Inanspruchnahmepopulation“ von Traumaambulanzen auch Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen sind (vgl. Kap. 5 & 11), stellt in diesem Kapitel eine Therapeutin mit entsprechendem Arbeitsschwerpunkt ihre Arbeit mit diesem Klientel dar.
9. Besonderheiten bei der Behandlung von minderjährigen Opfern sexualisierter Gewalt (Sascha Bos)
Wie bereits im vorangegangen Kapitel ist diese Zielgruppe per definitionem in Traumaambulanzen häufig anzutreffen. Ein Kinder- und Jugendlichenpsychotheraupeut macht deutlich, was es zur gelungenen Kontakt- und Beziehungsaufnahme braucht und geht auf das wichtige Thema des Geschlechts des:der Therapeut:in ein.
10. Kunsttherapeutische Methoden in der traumafokussierten Psychotherapie (Sascha Bos)
Obwohl bereits in Kapitel 4 deutlich gemacht wurde, dass laut S3-Leitlinie die Psychotherapie von Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter vor allem durch evidenzbasierte Therapieformen (v.a. TF-KVT & EMDR) erfolgen sollte, stellt der Autor – selbst Tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapeut – alternative bzw. ergänzende Therapieformen der Kunsttherapie vor. Der Hintergrund sei, dass „(…) mehr als 30 % der Patient:innen mit posttraumatischer Belastungsstörung nicht von evidenzbasierten Behandlungen (wie traumafokussierter kognitiver Verhaltenstherapie oder EMDR) profitieren“ (S. 203).
11. Qualitätssicherung und Evaluation (Claudia Calvano)
Qualitätssicherung und Evaluation sind Teil der gesetzlichen Vorgaben bei der Implementierung von Traumaambulanzen und bei Therapie allgemein. In diesem Kapitel werden diese Aspekte umfassend mit konkreten Ergebnissen der Berliner Traumaambulanz dargestellt. Die Ergebnisse sind zudem auf der Homepage des Verlags herunterladbar
12. Ausblick (Sibylle Maria Winter)
Nach dem die Autorin bereits die Einleitung geschrieben hat, rundet sie das Buch mit einem Ausblick ab. Dieses gestaltet sie mit einem sehr persönlichen Apell: „Mein Wunsch wäre, dass Bezugspersonen genauso selbstverständlich nach Gewalterfahrung professionelle Unterstützung aufsuchen wie nach einem Fahrradunfall, wenn das Kind nicht mehr laufen kann“ (S. 231). Es sei wichtig, Netzwerke aufzubauen und das Thema Gewalt in der Gesellschaft zu enttabuisieren.
Diskussion
Auf den ersten Blick handelt es sich um ein eher schmales Taschenbuch mit klar umrissenem Inhalt: Was muss ich wissen, um eine Traumaambulanz für Kinder und Jugendliche zu eröffnen? Wenn man es jedoch in Ruhe liest, umfasst es deutlich mehr: In immerhin 12 Kapiteln wird von grundlegenden Informationen zum Thema Traumafolgestörungen über rechtliche Rahmenbedingungen bis hin zur praktischen Umsetzung alles zusammengefasst, was es braucht. Und darüber hinaus weit mehr. Vor allem das dritte Kapitel, in dem sehr dezidierte Informationen zu den biologischen Grundlagen (z.B. der Epigenetik) dargestellt werden, hat es in sich. So manch ein:e Leser:in mag sich fragen, ob dies in diesem Umfang notwendig ist, ich persönlich habe jedoch hier am meisten mitgenommen. Zudem liefert Christine Heim hier hervorragende Argumente für die Implementierung von Traumaambulanzen, denn: Nichts tun führt zu seelischen, körperlichen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Schäden, die vermeidbar wären!
Während die Fachlichkeit für Menschen, die keine entsprechende Vorbildung aufzuweisen haben, eventuell in diesem Kapitel ein wenig zu anspruchsvoll sein mag, ist der Erkenntnisgewinn für entsprechend ausgebildete Personen in anderen Kapiteln vergleichsweise gering. So sollten die von Claudia Calvano in Kapitel 4 vorgestellten Diagnosekriterien und Therapieverfahren im Grunde jedem bzw. jeder bekannt sein, der:die mit dem Gedanken spielt, eine Traumaambulanz zu eröffnen. Nichts destotrotz gehören sie natürlich in ein derartiges Buch. Leider finden sich in diesem Abschnitt leichte Unsauberheiten: So beschreibt die Autorin beispielsweise die TF-KVT auf Seite 117 als „traumaspezifische Kurzzeittherapie mit 12 bis 16 Sitzungen, bei komplexen Traumatisierungen gehen die Autor:innen von bis zu 25 Sitzungen aus“. Dies liest sich zumindest missverständlich, da die TF-KVT von Doppelsitzungen (Patient:in/Bezugsperson) ausgeht und somit streng genommen eine Kurzzeittherapie 2 bzw. eine Langzeittherapie umgesetzt wird. Außerdem wird im Text (S. 119 – 121) der Eindruck erweckt, dass die Stabilisierungsphase mit vier bis zwölf Sitzungen proportional länger dauere als die Konfrontations- und Integrationsphase (2-6 bzw. 2–8 Sitzungen), was jedoch nicht per se der Fall ist. Die übersichtliche Grafik auf S. 118 macht hingegen deutlich, dass manualkonform erstmal davon ausgegangen wird, dass alle Phasen proportional identisch sind. Im Falle von komplexer PTBS verlängert sich die Therapie im Sinne einer Langzeittherapie mit deutlich verlängerter Stabilisierungsphase (vgl. Cohen, Mannarino & Deblinger, 2009). Als zweites mögliches Verfahren werden hier tabellarisch auch EMDR und KIDNET vorgestellt. Dies ist sinnvoll, da beide Verfahren laut Leitlinie als „vielversprechende Verfahren“ benannt werden (Schäfer et al., 2019). Leider werden beide Therapieformen ansonsten im Buch an keiner Stelle weiter dargestellt. Zudem muss kritisch angemerkt werden, dass die hier genannte Wirkhypothese (REM-Schlaf-Analogie) auch innerhalb der EMDR-Community mittlerweile als überholt gilt.
Die beiden Kapitel von Sascha Bos zum Abschluss sind kurz, aber wichtig. Insbesondere in Kapitel 9 plädiert er anhand des eigenen Beispiels dafür, auch bei sexuellem Missbrauch eine Therapie durch einen männlichen Therapeuten nicht kategorisch auszuschließen, da ansonsten eventuell korrigierende Erfahrungen auf Patientinnenseite ausbleiben könnten. Letzten Endes müsse nach entsprechender Aufklärung die Betroffene entscheiden. Dem ist absolut zuzustimmen. Die abschließende Behauptung in Kapitel 10, nach der angeblich „mehr als 30 % der Patient:innen mit posttraumatischer Belastungsstörung nicht von evidenzbasierter Behandlung (…) profitieren“ (S. 203), belegt er durch eine Quelle (Schouten et al., 2019). Wenn man sich diese jedoch genauer anschaut, muss kritisch darauf hingewiesen werden, dass diese sich wiederum auf eine andere Studie bezieht (Bradley et al., 2005), die zum einen bereits fast 20 Jahre alt ist und sich zum anderen nicht explizit auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen bezog. Insofern sollte hier besser zurückhaltender mit entsprechenden Aussagen umgegangen werden.
Eine letzte Bitte: Die im Text abgebildeten Grafiken sind offensichtlich Powerpoint-Slides, die in die Seite eingefügt wurden. Dadurch sind die darin enthaltenen Texte teilweise so klein gedruckt, dass sie kaum noch zu entziffern sind. Hier wäre es wünschenswert, diese entweder im Onlinematerial mit zur Verfügung zu stellen oder sie in einer Neuauflage im ganzseitigen Format abzudrucken.
Fazit
In Summe steckt in dem Buch weitaus mehr, als es zunächst den Anschein hat: Neigt man zunächst dazu, es „nur“ lesen zu müssen, wenn man mit dem Gedanken spielt, eine Traumaambulanz zu eröffnen, so bietet es eigentlich jeder Person, die sich mit dem Thema Trauma bei Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen möchte, viel an wichtigen Informationen. Für einige werden Abschnitte eventuell zu detailliert und fachlich sein, für andere redundant. Sie können dann aber entsprechend „überlesen“ werden. Leichte fachliche Unsauberkeiten sollten in einer Neuauflage überarbeitet werden.
Rezension von
Dr. Alexander Tewes
Instituts- und Ausbildungsleiter LAKIJU-VT (Lüneburger Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie), Psychiatrische Klinik Lüneburg gemeinnützige GmbH im Verbund der Gesundheitsholding Lüneburg
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